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Wissen, wo man herkommt. Kinder an einer traditionellen jüdischen Highschool in New York.

© Laif

Genetische Abstammung: Abrahams Kinder

Zwei Studien offenbaren die gemeinsamen genetischen Wurzeln heute lebender Juden - und befeuern eine israelische Diskussion über jüdische Identität.

Ein Stamm, mehrere Hauptäste und reichlich Zweige. Das ist das Bild, das zwei Studien von der genetischen Abstammung und Entwicklung der heute lebenden Juden entwerfen. Wie die Wissenschaftler herausfanden, haben heutige Juden viele Gene von einer ursprünglichen jüdischen Bevölkerungsgruppe geerbt, die vor rund 3000 Jahren im Mittleren Osten lebte, in dem als Levante bezeichneten östlichen Mittelmeerraum. Damit sind die heute lebenden 13 Millionen Juden nicht nur durch Kultur und Religion, sondern auch durch ein gemeinsames biologisches Erbe miteinander verbunden.

Dieser gemeinsame Ursprung war immer wieder bezweifelt worden, zuletzt von dem israelischen Historiker Shlomo Sand in seinem Buch „Die Erfindung des jüdischen Volkes“. Zugleich finden sich bei den heute lebenden Juden auch starke genetische Verbindungen zu nichtjüdischen Gruppen, in Europa vor allem zu Italienern und im Mittleren Osten zu Drusen, Beduinen und Palästinensern.

Die Forscher benutzten die DNS-Chip- oder „Microarray“-Technik. Mit diesem Verfahren ist es möglich, das Erbgut unterschiedlicher Personen sehr detailliert zu vergleichen, angefangen von einzelnen „Buchstaben“ der Erbinformation DNS bis hin zu längeren Abschnitten. Auf DNS-Chips basierende Studien ermöglichen damit weitergehende Aussagen als bisherige Untersuchungen. Zuvor war das männliche Y-Chromosom und das Erbgut der nur von den Müttern weitergegebenen Mitochondrien benutzt worden, um die Genealogie der Juden zurückzuverfolgen.

Harry Ostrer von der New York Universität untersuchte die DNS von 237 Menschen, deren Familien seit Generationen jüdisch sind und die die großen Gruppen der Diaspora repräsentieren: die Aschkenasen, die vor Krieg und Holocaust in Nord- und Osteuropa heimisch waren und die heute überwiegend in den USA und Israel leben; die Sepharden, die in Spanien (bis 1492) und Portugal (bis 1497) ihre Heimat hatten und später ins osmanische Reich, nach Nordafrika und die Niederlande gelangten; und schließlich die orientalischen Juden.

Ostrer verglich ihre Erbinformation mit der von 2800 Nichtjuden, wie er im „American Journal of Human Genetics“ berichtet. An der im Fachblatt „Nature“ veröffentlichten Studie von Doron Behar vom Rambam Medical Center in Haifa nahmen weniger Personen teil, aber dafür wurden mehr Bevölkerungsgruppen berücksichtigt.

In beiden Untersuchungen stellte sich heraus, dass die Juden der drei Diaspora-Gruppen sich genetisch näher sind als Nichtjuden der jeweils gleichen Region. Innerhalb jeder Gruppe waren die Personen so verwandt wie Cousins zweiten bis fünften Grades.

Überraschend für die Wissenschaftler war die Nähe zwischen heutigen Aschkenasen und Sepharden – unerwartet, weil beide Zweige sich vor langer Zeit trennten. Beide Gruppen haben zwischen 30 und 60 Prozent ihres Genoms von Europäern geerbt. Sie könnten von Juden abstammen, die vor 800 n. Chr. in Norditalien heimisch waren und sich hier mit Italienern vermischten. Dafür spricht, dass das Genom von Sepharden und Aschkenasen deutlich mit dem italienischer Juden übereinstimmt.

Relativ isoliert sind die orientalischen Juden. Ihr Ursprung liegt vermutlich in Persien und Babylon vor etwa 2500 Jahren. Sie haben sich vor 100 bis 150 Generationen von den Vorfahren der beiden anderen Diaspora-Gruppen abgetrennt, kalkulieren die Forscher, irgendwann im letzten vorchristlichen Jahrtausend.

Für den starken Anteil der nichtjüdischen Europäer insbesondere am Genom heutiger Aschkenasen gibt es vermutlich mehrere Gründe. Zum einen missionierten Juden in der Antike, insbesondere im Römischen Reich breitete sich das Judentum daraufhin stark aus. Massenübertritte führten dazu, dass bis zu zehn Prozent der römischen Bevölkerung die jüdische Religion praktizierten.

So ist es nicht verwunderlich, dass Südeuropäer Aschkenasen und Sepharden genetisch am nächsten stehen. Zudem kam es in Europa vom 15. bis 19. Jahrhundert zu einer starken Annäherung zwischen jüdischer und nichtjüdischer Bevölkerung. In dieser Zeit stieg die Zahl der Juden in Europa von etwa 50 000 auf fünf Millionen. Der ursprünglich „jüdische“ Anteil im Genom schrumpfte.

„Unsere Untersuchung stützt die Idee eines jüdischen Volkes, das durch eine gemeinsame genetische Geschichte verbunden ist“, sagte der Studienleiter Harry Ostrer. „Aber die Vermischung mit Menschen europäischen Ursprungs erklärt, warum so viele europäische und syrische Juden blaue Augen und blondes Haar haben.“ Die Studie zeige, wie Genetik Geschichte reflektiere. „Wir sehen tatsächlich die Ereignisse der jüdischen Diaspora im Genom jüdischer Menschen.“

Wie weit sich historische Ereignisse anhand von Erbgutanalysen rekonstruieren lassen, daran bestehen jedoch Zweifel. „Man muss zu viele Mutmaßungen anstellen“, sagte der Genetiker David Goldstein von der Duke-Universität in Durham dem Fachblatt „Nature“. „Wir haben in der Genetik noch nicht die Genauigkeit, um den Zeitpunkt von Ereignissen präzise zu bestimmen.“

Zwar vermögen die Studien nicht exakt zu sagen, wie es war – aber dafür ermöglichen sie ziemlich zuverlässige Aussagen darüber, wie es nicht war. So nimmt der Historiker Sand an, dass nicht etwa Menschen aus der Levante, sondern konvertierte Chasaren vom Schwarzen Meer die Urahnen der Aschkenasen waren – einer seiner Belege dafür, dass ein genuin „jüdisches Volk“ eine Erfindung ist.

Aber mit diesem Argument Sands können die Genetiker aufräumen. Zwar gebe es Hinweise auf eine genetische Vermischung mit den Chasaren im letzten Jahrtausend, doch sei dieser Einfluss sehr begrenzt. Das stärkt Sands Kritiker. „Diese Ergebnisse bestätigen, was die jüdische Volksweisheit immer wusste“, sagte die Historikerin Anita Shapira von der Tel-Aviv-Universität dem Fachblatt „Science“: dass die Juden einen gemeinsamen Ursprung im Mittleren Osten hätten. „Es ist schön, von der modernen Genetik unterstützt zu werden.“

Shlomo Sand dagegen hält die Idee einer „genetischen Identität“ der Juden für abwegig. „Keine Studie hat je eine genetische Markierung gefunden, die typisch nur für Juden ist“, zitiert „Science“ den Historiker. „Es ist eine bittere Ironie, dass ausgerechnet die Nachkommen von Holocaust-Überlebenden eine biologisch begründete jüdische Identität finden wollen. Hitler wäre sicher sehr erfreut.“

Mit dieser Fundamentalkritik dürfte der in die Enge getriebene Sand über das Ziel hinausschießen. Genetische Befunde sind nicht einfach zu ignorieren. Doch ausgerechnet Doron Behar, Leiter der „Nature“-Studie, schlägt ein wenig in Sands Kerbe. Es seien nicht notwendigerweise die Gene, die einen Juden ausmachten, argumentiert er. Es gebe keinen „metaphysischen“ Unterschied zwischen jemandem, der jüdisch geboren sei und jemanden, der zum Judentum konvertiert sei. Gene haben ihre Grenzen.

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