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Das ist der Gipfel. Für Alpinisten ist das Erklimmen hoher Berge das höchste Glück.

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Hedonismus: „Aus dem einen Leben das Beste machen“

Wer nach Glück, Genuss und Lust strebt, handelt durchaus philosophisch, sagt der Philosoph Bernulf Kanitscheider im Tagesspiegel-Gespräch.

Herr Kanitscheider, Sie sind Philosoph und haben ein hedonistisches Manifest verfasst. Was ist eigentlich Hedonismus?

Da gilt es erst mal ein Missverständnis aufzuklären. Im Alltag versteht man unter einem Hedonisten jemand, der nicht gerne arbeitet, der andere für sich schaffen lässt und sich gemütlich zurücklehnt – aber nicht jemand, der das gelungene Leben sucht. Letzteres ist das philosophische Verständnis des Hedonismus. Im Mittelpunkt steht das Glück, vor allem angesichts der Tatsache, dass dieses Leben nur eine endliche Zeitspanne währt. Das haben schon die alten Griechen erkannt.

Von den antiken Philosophen lässt sich etwas lernen?

Bernulf Kanitscheider lehrte Philosophie der Naturwissenschaft an der Universität Gießen und ist Buchautor. Zuletzt erschien "Das hedonistische Manifest" (Hirzel-Verlag).
Bernulf Kanitscheider lehrte Philosophie der Naturwissenschaft an der Universität Gießen und ist Buchautor. Zuletzt erschien "Das hedonistische Manifest" (Hirzel-Verlag).

© Universität Gießen

Schon im vierten vorchristlichen Jahrhundert haben einige Denker darauf hingewiesen, dass unsere Lebenszeit begrenzt ist und nichts darauf hinweist, dass es so etwas wie ein Weiterleben nach dem Tod und eine unsterbliche Seele gibt. Damit standen diese Philosophen natürlich im Widerspruch zu Platon, nach dessen Vorstellung die Seele nach dem Tod in ein Schattenreich eintaucht und geläutert wird, um dann in irgendeinem höheren Bereich die Unsterblichkeit zu erfahren. Im Gegensatz zu Platons Idealismus sind die Hedonisten empiristisch orientiert, sie betonen die Bedeutung des Diesseits. Danach sind wir Menschen ein Stück Natur, wir leben eine Zeit lang und wir haben die Bestimmung, dieses Lebensintervall optimal zu gestalten.

Was hat man sich darunter vorzustellen?

Wenn man 85 ist und sein Leben Revue passieren lässt, sollte man zu dem Schluss kommen: Ich habe im Wesentlichen meine Möglichkeiten genutzt und mein Leben nicht verschwendet, ich habe Sinnvolles getan und das, was mir die Natur an Talenten und Möglichkeiten zugestanden hat, habe ich ausgenützt. Das ist die essenzielle Idee des Hedonismus.

Wer waren die Hauptvertreter dieser philosophischen Richtung?

Zunächst einmal Aristippos von Kyrene, ein Zeitgenosse von Sokrates, in dessen Seminar Aristippos gesessen und mit ihm diskutiert hat. Besser bekannt ist Epikur von Athen. In der römischen Zeit ist Lukrez der Hauptvertreter, der für sein großes Lehrgedicht „De rerum natura“ berühmt geworden ist. Der Bezug auf die Endlichkeit, ein von der realen Natur geprägtes materialistisches Denken, die Skepsis in Bezug auf die Götter und Religionskritik, all das kennzeichnet das antike hedonistische Denken. Es ist deshalb kein Wunder, dass später in christlicher Zeit Epikur und seine ganze Denkrichtung abgelehnt wurden. Das Christentum stört sich wesensmäßig wenig an einem entbehrungsreichen Leben, da dieses erst im Jenseits seine Erfüllung findet. Es geht darum, am Jüngsten Tag zu bestehen – ein klarer Gegenentwurf zur Diesseitsorientierung des Hedonisten.

Trotzdem glauben viele Menschen an ein Leben nach dem Tod.

Schon Epikur, in der Neuzeit dann der Aufklärer Julien Offray de La Mettrie und im 20. Jahrhundert Bertrand Russell sind dieser Vorstellung entgegengetreten. Sie argumentierten, dass eine Unsterblichkeit der Seele unglaubwürdig ist, weil es keine Abkopplung der Seelensubstanz von ihrem materiellen Träger geben kann. Bis heute hat kein Verteidiger der Unsterblichkeit eine Idee, wie sich die Ablösung der Seele vom Leib vollziehen könnte. Übrigens teilte Aristoteles diese Meinung, auch wenn er ansonsten kein typischer Hedonist war. Die moderne Neurobiologie hat dann die epikureisch-aristotelische Auffassung voll bestätigt. Das hat natürlich Rückwirkungen auf unser moralisches Verhalten, auf unsere Ethik. Wenn eine Seelenwanderung oder eine Wiederverkörperung unglaubwürdig sind, dann müssen wir eben aus diesem einen Leben das Beste machen.

Wie kommt es, dass ein Philosoph, der sich mit Naturwissenschaft auseinandersetzt, ein Buch über den Hedonismus schreibt?

Wenn man sich als Philosoph mit Physik, Mathematik und anderen Wissenschaften beschäftigt und eine naturalistische Position vertritt – also die Auffassung, dass es auf der Welt mit rechten Dingen zugeht und alles naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten folgt – dann wird man oft mit der These konfrontiert: Sie können damit ja nicht erklären, dass es Werte gibt! Ethische und ästhetische Werte können Sie mit Ihrem Materialismus nicht auffangen!

Ein gerechtfertigter Einwand.

Gemach! Man sollte sich fragen, wie ein Bewusstsein für moralische Werte überhaupt entsteht und wo diese in uns verankert sind. Evolutionsbiologie und Hirnforschung geben uns da wichtige Hinweise. Es sind die emotiven Zentren im Gehirn, die die Bewertungen vornehmen. Wenn man diesen Ansatz weiterverfolgt, dann stößt man auf entsprechende ethische Systeme. Und eines von diesen ist der Hedonismus. Der Hedonismus ist der Vorläufer moderner utilitaristischer Wertesysteme, die auf vernünftigen, auf rationalen Prinzipien beruhen und mit den Befunden der Hirnforschung harmonieren. In der Analytischen Philosophie ist der Utilitarismus die führende Richtung.

Hedonismus – das klingt nach Verschwendung. Heute ist eher von Sparsamkeit, Mäßigung, Nachhaltigkeit die Rede, man denke an die Themen Umwelt und Klima. Wie steht der Hedonist zur Energiewende?

Nur in dem oberflächlichen Alltagsverständnis, bei dem Hedonismus mit „Wein, Weib und Gesang“ identifiziert wird, bedeutet Lebensfreude Verschwendungssucht. Im ernsthaften philosophischen Sinn enthält diese Ethik den Auftrag, mit der einzigen irdischen Welt sorgsam umzugehen, denn es gibt keine weitere, in der wir und unsere Kinder glücklich werden können. Nicht allen Ethikern ist aber das irdische Glück ein Anliegen. Für die ethischen Idealisten Kant, Hegel und Fichte ist das Glück des Menschen, ist die Idee des erfreulichen Lebens nur ein wertloses Beiwerk. Danach ist es bedeutungslos, ob Menschen sich gut fühlen und ob ihr Leben gelungen ist, Hauptsache, sie tun ihre Pflicht. Der Mensch ist aus kantischer Sicht ein Pflichtautomat. Der andere Gegenpol zum Hedonismus ist die theologische Ethik, bei der nicht die Vernunft, sondern die Götter der jeweiligen Religion vorgeben, was getan werden soll. Da der Mensch es nicht wagen darf, die Gebote der Götter zu beurteilen, kommt es nicht zu einem Diskurs über ethische Forderungen.

Ist der Hedonismus unmoralisch?

Was moralisch ist und was nicht, wird durch die Ethik bestimmt. Wenn man eine Ethik akzeptiert, dann nimmt man auch ihre Grundsätze an. Aus denen leitet sich ab, was moralisch und unmoralisch ist. Nehmen wir als Beispiel die mosaische Ethik. Sie gründet sich auf die zehn Gesetze, die von Moses verkündet wurden. Die zehn Gebote sind das Fundament, die unveränderlichen Grundsätze oder Axiome. Sie bestimmen, ob eine Handlung moralisch ist. Ein anderes Beispiel für ein Axiom ist der kategorische Imperativ Immanuel Kants: Handle so, dass die Grundsätze deines Handelns ein allgemeines Gesetz sein könnten. Jede Ethik macht also Vorgaben, jenseits derer es keine tieferen Begründungen gibt. Selbst die Wissenschaft benötigt solche Axiome, auch die Quantenmechanik hat keine „Letztbegründung“. Ebenso gibt es keinen absoluten Ursprung der Ethik, aus dem alle Werte entstehen.

Dann sehen Sie den Hedonismus auf der moralischen Seite.

Aber selbstverständlich! Der Hedonist setzt den Glücksgrundsatz an den Anfang. Für Aristippos ist das oberste Ziel allen Strebens die vollkommene Gestaltung des Lebens und das Vermögen, die Folgen des Handelns zu überblicken. Glück und Verstand, das sind die beiden Bestandteile. Sie werden vorausgesetzt, man kann sie nicht aus noch tieferen Prinzipien ableiten.

Gibt es eine Stufenleiter der Lust?

Das ist Sache jedes Einzelnen. Man hat versucht, eine Begründung dafür zu finden, dass geistige Werte höher stehen als körperliche wie Sexualität. Aber solche Argumente stehen auf wackligen Beinen. Man kann nicht jemandem, der vor allem an körperlichen Freuden orientiert ist, sagen: Kümmere dich lieber um die Natur des Weltalls, das ist ein höherer Wert.

Besteht nicht die Gefahr, dass ein Hedonist zum Egoisten wird?

Schon in der Antike ist hier das Paradebeispiel die Freundschaft. Warum soll man Freunde haben, nett zu anderen sein, sich sozial engagieren? Der Platoniker sagt, die Freundschaft ist eine Idee, die der Idee des Guten untergeordnet ist. Deshalb muss ich ihr folgen. Der Hedonist sagt: Ich brauche diese Ideen nicht. Wenn ich nett zu anderen bin, dann bekomme ich auch etwas zurück, Freundschaft ist etwas Gegenseitiges. Jeder lebt besser, wenn er freundlich zum Nachbarn ist.

Sind Sie ein Hedonist?

Meine Hauptfreuden sind, Kammermusik zu treiben, Berggipfel zu besteigen und Erkenntnisse zu gewinnen. Mich beglückt es, wenn ich einen neuen begrifflichen Zusammenhang verstanden habe.

Weitere Gedanken zum Thema Hedonismus stellt der Philosoph Bernulf Kanitscheider im Tagesspiegel-Wissenschaftssalon vor. Im Anschluss diskutiert er mit Tagesspiegel-Redakteur Hartmut Wewetzer und den Gästen des Salons. Termin: Donnerstag, den 3. Mai um 19 Uhr im Verlagshaus des Tagesspiegels, Askanischer Platz 3, 10963 Berlin. Eintritt 12 Euro (inkl. Sekt und Snack). Verbindliche Anmeldung unter Telefon (030) 290 21-520 oder im Online-Shop des Tagesspiegels.

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