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Viele Augen, wenig Einsicht. Ein britischer Polizist überwacht Londoner Straßen. Foto: picture alliance

© picture alliance / empics

Forschung: Immer neue Überwachungstechniken

Die Europäische Union fördert Forscher, die neuartige Überwachungstechniken entwickeln. Kritiker sehen Orwell Realität werden.

Von Anna Sauerbrey

Der große Bruder schaut zu. Daran erinnern Winston Smith, die Hauptfigur in George Orwells Roman „1984“, Plakate an jedem Treppenabsatz in seinem Haus. Im realen Jahr 2010 sind es allerdings nicht die Augen des einen großen Bruders, die dem britischen Bürger zuschauen, sondern unzählige kleine Brüder. Vier Millionen Kameras sind Schätzungen zufolge im Vereinigten Königreich installiert, wo Orwells Roman entstand und das heute in Europa als das Land mit der höchsten Kameradichte gilt. Es sind so viele, dass in Wahrheit keiner mehr etwas sieht, da es sich kein Staat leisten kann, genügend Mitarbeiter zu beschäftigen, um all die Bildschirme rund um die Uhr zu kontrollieren.

Zahlreiche Unternehmen und Forschungseinrichtungen arbeiten daher an automatischen Sicherheitssystemen. In Zukunft, so das Ziel, sollen Computer Gefahren selbstständig erkennen und die Polizei benachrichtigen. „Im Projekt ,Indect‘ entwickeln wir Instrumente, die den Betreiber warnen, wenn eine Situation auftritt, die eine Gefahr bedeuten könnte“, teilt Andrzej Dziech von der Technischen Universität Krakau mit, „etwa wenn Gepäck länger als üblich stehen gelassen wird oder eine Waffe im Bild auftaucht.“ Dziech ist Koordinator des vielleicht größten Forscherkonsortiums für die Entwicklung von Sicherheitstechnik in Europa, das hauptsächlich aus dem europäischen Forschungsfonds finanziert wird.

Anfragen beantwortet der Wissenschaftler nur schriftlich. Dziech ist vorsichtig geworden. Seit einem Jahr laufen die Arbeiten an dem Projekt. Und die Kritik von Datenschützern und Bürgerrechtlern wird heftiger. „Wir halten das Projekt für sehr gefährlich und ethisch nicht vertretbar“, sagt etwa Roland Albert, der eigens für „Indect“ abgestellte Sprecher der Piratenpartei. „Damit entsteht ein automatischer Bevölkerungsscanner.“ Entwickeln Forscher mit EU-Geldern ein Orwell’sches Überwachungssystem? Wie realistisch ist es überhaupt, dass schon bald automatische Sicherheitstechnologie zum Einsatz kommt?

Das Akronym „Indect“ steht für den sperrigen Titel „Intelligentes Informationssystem zur Überwachung, Ermittlung und Suche mit dem Ziel der Sicherheit der Bürger in städtischen Umgebungen.“ Beteiligt sind 17 europäische Universitäten und Unternehmen. Geplant und koordiniert wird in Polen, auch die polnische Polizei ist beteiligt, wohl mit Blick auf die Europameisterschaft in Polen und der Ukraine 2012. Von deutscher Seite ist die Universität Wuppertal dabei, das Bundeskriminalamt oder der Verfassungsschutz arbeiten nach Angaben des Innenministeriums aber nicht mit.

Die Vorhaben der Indect-Forscher sind ambitioniert. Die Entwicklung intelligenter Kamerasysteme ist nur ein Teil des Forschungsprojektes. Auch Suchmaschinen, die eigenständig im Internet nach Informationen fahnden, sie kombinieren und mit bestehenden Datenbanken abgleichen, gehören zum Portfolio, ebenso die Verbesserung biometrischer Personenerkennung und Verschlüsselungstechnologien. Ziel ist es, so Projektkoordinator Dziech, bis 2013 erste Prototypen zu entwickeln. „Etwa 30 Prozent der Arbeit sind schon getan und wir erwarten, dass die ersten Elemente bald schon funktionieren“, schreibt er. Doch die Forschung ist weniger weit, als es die die hochgesteckten Ziele der Indect-Forscher vermuten lassen.

Während automatische Bilderkennung etwa beim Recycling von Flaschen bereits im Einsatz ist, stellt gerade das Erkennen von Menschen und menschlichem Verhalten noch ein großes Problem dar. „Menschen sehen für den Computer immer anders aus. Sie tragen verschiedene Arten von Kleidung, die ihre Konturen verändern. Hinzu kommen die vielen unterschiedlichen Perspektiven“, erklärt Cristian Sminchisescu. Der Informatikprofessor am Institut für numerische Simulation in Bonn ist nicht an Indect beteiligt, forscht aber selbst im Bereich der automatischen Bilderkennung. „Schon etwas einfaches wie ein Stuhl ist extrem schwierig zu definieren.“ Sminchisescu entwickelt mathematische Wahrscheinlichkeitsmodelle, die es den Computern ermöglichen sollen, Menschen oder Handlungssequenzen zu erkennen. Eine andere Methode besteht darin, dem Computer Datenbanken mit definierten Bildsequenzen zur Verfügung zu stellen, eine Art Erfahrungsschatz, mit dem der Rechner neue Eindrücke abgleichen kann. Für die Erstellung der Datenbanken braucht es allerdings viel Personal.

Ein weiteres Problem sind die Umweltbedingungen. „Im Labor erzielt man schon Erkennungsraten zwischen 80 und 90 Prozent“, sagt der Jenaer Informatiker Joachim Denzler, der im Bereich der Objekterkennung gearbeitet hat. In der realen Welt aber wechselt das Licht oder es regnet, dann sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass Computer Objekte richtig zuordnen. „Man hat sich aus einem großen Sicherheitsbedürfnis heraus sehr hohe Ziele gesteckt“, sagt Denzler. „Grundsätzlich sind diese Ziele sicher erreichbar, das alles in der kurzen Zeit BIS 2013]zu schaffen ist, halte ich allerdings für unrealistisch.“

/BIS 2013]BIS 2013]Ähnliches wie für das Erkennen von menschlichen Handlungen gilt auch für das Erkennen von konkreten Personen anhand biometrischer Daten. Ein Forschungsprojekt des BKA, das im Jahr 2007 Erkennungssoftware testete, kam zu mageren Ergebnissen/BIS 2013]. Diese haben die die BKA-Experten den Indect-Forschern 2009 vorgestellt, verfolgen aber nach eigenen Angaben die Bewegtbilderkennung momentan nicht weiter.

Zu den technischen kommen ethische Probleme, etwa dann, wenn „normales“ und „nicht normales“ Verhalten unterschieden werden sollen. Zwar hat Indect eine Ethikkommission eingerichtet und beruft sich darauf, dass die Verhaltensmuster später von den Endanwendern definiert werden. Sie gingen allerdings auch so weit, typische äußerliche Erkennungsmerkmale von Dieben oder Dealern definieren zu wollen. 2009, so steht es in einem Zwischenbericht der Projektverantwortlichen, versandten die Forscher einen Fragebogen, den mehrere hundert polnische Polizisten beantwortet haben. Eine Frage lautete: „Wie würden sie eine bestimmte Person des folgenden Typs erkennen, an der Kleidung, am Verhalten: Räuber, Taschendieb, Drogendealer, Drogenabhängiger, verlorenes Kind, Pädophiler, Terrorist, Hooligan.“

Trotz aller Probleme sind Wege in die Praxis geebnet. Man habe die Erlaubnis der polnischen Polizei, Tests in Danzig und Warschau durchzuführen, schreibt Dziech. Gespräche führe man auch mit den Behörden in Krakau, Wien und anderen europäischen Städten. Außerdem gebe es schon Anfragen von Sicherheitsfirmen, die sich mit neuen Technologien an Ausschreibungen für die EM in Polen und in der Ukraine 2012 beteiligen wollen. Bis dahin könne man liefern.

Dass bald ein europäisches Überwachungssystem eingeführt wird, ist dennoch unwahrscheinlich. Der grüne Europaabgeordnete Jan Philipp Albrecht, spezialisiert auf Datenschutzthemen, weist darauf hin, dass der Einsatz der Technik schließlich politisch noch nicht beschlossen sei und die Parlamente noch ein Wort mitzureden hätten. Dennoch: „Technische Möglichkeiten lenken die Sicherheitspolitik in eine bestimmte Richtung.“

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