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Rationalismus

© - Foto: Promo

Islamwissenschaft: Jägerin der verlorenen Manuskripte

Sabine Schmidtke erforscht an der Freien Universität intellektuelle Symbiosen zwischen Juden und Muslimen des Mittelalters

In Bagdad, Damaskus oder Nablus lebten Juden, Muslime und Christen im Mittelalter Tür an Tür und trieben Handel miteinander. Ein friedliches Zusammenleben war eher die Regel als die Ausnahme. Mit Arabisch als gemeinsamer Sprache hatte man einen ähnlichen kulturellen Hintergrund. Auch intellektuell entstand eine Symbiose, die heute utopisch erscheint: Jüdische und muslimische Gelehrte tauschten sich über den religiösen Rationalismus aus und entwickelten ihn weiter. Es ging ihnen um eine vernunftgesteuerte Auseinandersetzung mit der göttlichen Offenbarung, sie hinterfragten den „blinden“ Glauben und verteidigten das Primat des freien Willens. Sie lasen dieselben Bücher, kopierten gegenseitig ihre Manuskripte. Christliche Theologen waren an diesem Austausch nicht direkt beteiligt, aber sie setzten sich mit den Schriften ihrer jüdischen und muslimischen Kollegen intensiv auseinander.

Fasziniert beobachtet werden die gelehrten Männer von einer deutschen Islamwissenschaftlerin. Sabine Schmidtke rekonstruiert „diese intellektuelle Gemeinschaft mit ihrem kontinuierlichen Austausch von Ideen, Texten und Formen des Diskurses“. Schmidtke, die seit 2002 Professorin an der Freien Universität ist, aber seit einem Jahr an der School of Historical Studies des Institute for Advanced Study in Princeton forscht, kommt jetzt für fünf Jahre zurück nach Berlin – mit dem mit 1,86 Millionen Euro dotierten Förderpreis des Europäischen Forschungsrates (ERC). Unter 404 Antragstellern hat sich Schmidtke Ende vergangenen Jahres mit ihrem Projekt „Rediscovering Theological Rationalism in the Medieval World of Islam“ (Wiederentdeckung des theologischen Rationalismus in der mittelalterlichen Welt des Islam) gemeinsam mit 44 weiteren Anträgen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften durchgesetzt.

Im Westen höre man „nur Schreckensgeschichten vom Islam“, sagt Schmidtke. Sie will andere erzählen: Geschichten aus einer Welt, in der ein vielstimmiges Gespräch der Religionen und Kulturen noch möglich war. Über den theologischen Rationalismus, der zwar von muslimischen Fundamentalisten bekämpft wird, aber auch im heutigen Iran noch Anhänger hat. Die 44-Jährige führt ein Forscherleben, in dem sie als philologische Detektivin zerrissene Manuskripte zusammenfügt, in dem sie Grenzen überschreiten kann, die anderen verschlossen bleiben. Und sie glaubt, dass ihre wissenschaftliche Arbeit „unmittelbar friedensstiftend wirken kann“. Denn im zeitgenössischen arabisch-islamischen Raum werde der Rückbesinnung auf das eigene kulturelle Erbe erhebliche Bedeutung beigemessen.

Theologen einzelner Glaubensrichtungen im Mittleren Osten des Mittelalters seien zwar teilweise erforscht, sagt Schmidtke. Das multiethnische Milieu, in dem sie lebten und lehrten, aber habe seit den Anfängen der vergleichenden Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert kaum jemanden interessiert. Bekannt ist lediglich die jüdisch-muslimische Symbiose in al Andalus, so der arabische Name für die vom 8. bis 15. Jahrhundert muslimisch beherrschten Teile der Iberischen Halbinsel. Vergleichbare Phänomene auch für andere Teile des arabisch-islamischen Kulturraums nachzuweisen ist ein Ziel von Schmidtkes Forschungsprojekt, das sie mit anderen Islamwissenschaftlern, mit Judaisten und christlichen Kirchenhistorikern angehen will. Grundlage des bis heute aktuellen islamischen Rationalismus ist die Mu’tazila, eine im 8. und 9. Jahrhundert entstandene theologische Richtung. Ihre Anhänger gingen unter anderem davon aus, dass Gut und Böse nur mittels der menschlichen Vernunft erkannt werden können. Warum könne Gott das Böse bestrafen, wenn er es selbst geschaffen habe, fragten sie etwa.

An der FU will Schmidtke vom Sommer dieses Jahres an nicht nur Forscher zusammenbringen, die durch Disziplinengrenzen getrennt sind, sondern auch durch politische. Wie schon in Schmidtkes 2003 gegründeter Arbeitsgruppe zu Mu’tazilitischen Manuskripten sind am neuen Projekt Wissenschaftler aus der muslimischen Welt ebenso wie israelische Forscher und „Neutrale“ aus Deutschland, England, den Niederlanden und den USA beteiligt. Geistesgeschichte kenne keine Grenzen, sagt die Islamwissenschaftlerin. Intellektuelle Symbiosen hätten insbesondere die Region geprägt, die heute einer der schlimmsten Konfliktherde ist. Ihre Forschung sei „ein Beitrag, um zu zeigen, dass die Grenzen, die wir heute haben, vor dem Hintergrund der Geschichte keinen Sinn machen“.

Da spricht auch die Diplomatin. Sabine Schmidtke machte nach ihrem Studium in Jerusalem und London und ihrer Promotion in Oxford von 1991 bis 1999 zunächst Karriere im Auswärtigen Amt. Zuletzt arbeitete sie während des Kosovokrieges im Nato-Referat. Nebenbei war sie Lehrbeauftragte für Islamwissenschaften an der Uni Bonn – und befand schließlich: „Forschung ist einfach interessanter.“

Braucht es diplomatisches Geschick, zwischen dem Iran und Israel zu pendeln, und dann wieder in die USA einzureisen? Das sei nicht immer leicht, sagt Schmidtke, aber die Grenzen seien meist einfacher zu überwinden als mancher Archivleiter. Schwer zugänglich sei etwa der Topkapi-Palast in Istanbul, dagegen habe sie durch gute persönliche Kontakte Zugang zu Teheraner Privatsammlungen. Ihre Quellen findet Schmidtke auch in den Handschriftenabteilungen von Bibliotheken in Jerusalem, St. Petersburg, Cambridge oder in der Staatsbibliothek zu Berlin. Jenseits der aktuellen politischen Bezüge ihrer Forschungsarbeit ist sie eine überzeugte Grundlagenforscherin, die sich zuallererst für die streng philologische Analyse ihrer Quellen interessiert, Wort für Wort, Blatt für Blatt.

Erhalten blieben die Handschriften der Theologen oft nur in hebräischen Transkriptionen arabischer Texte. Denn aus dem sunnitisch geprägten Islam wurden rationalistische Strömungen ab dem 14. Jahrhundert verdrängt, Manuskripte wurden gezielt zerstört. Hebräisch aber ist den Juden als Sprache Gottes heilig. Geschriebenes – und sei es noch so zerlesen – durfte lange nicht weggeworfen werden. In „Genizahs“, Zwischenlagern für Schriftgut, verwahrten die Juden bis ins 17. Jahrhundert nicht mehr gebrauchte Manuskripte und Bücher, um sie später auf Friedhöfen regelrecht zu bestatten. Vergessene Genizahs wurden im 19. Jahrhundert von Archäologen und Schatzgräbern ausgehoben.

Verschiedene Teile zerrissener Bücher gelangten in unterschiedliche europäische Archive. Schmidtke fand etwa eine Hälfte einer Handschrift des jüdischen Philosophen Ibn Kammuna, dem ihr bisheriges Hauptwerk gewidmet ist, in der Staatsbibliothek zu Berlin, die zweite Hälfte in der russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg. „Ich arbeite schrecklich gerne mit Handschriften“, sagt Schmidtke. „Am liebsten sind mir solche, mit denen sich noch niemand beschäftigt hat.“

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