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Magischer Klang. Der Film „Farinelli“ von Gérard Corbiau aus dem Jahr 1994 widmet sich dem Kastratensänger Carlo Boschi (1705–1782), verkörpert von Stefano Dionisi.

© IMAGO

Kastraten als Sänger: Verstümmelte Engel

Himmlische Töne: Kastraten wurden wegen ihres Gesangs im Barock gefeiert. Heute meistern Countertenöre ihre Stimmlagen.

Unter den vielen neuartigen Reizen, über die Johann Wolfgang von Goethe nach seiner Italienreise berichtete, war auch die „schöne und schmeichelhafte Stimme der Kastraten“. Der Einsatz von Sängern, denen als Jungen die Hoden entfernt wurden, damit sie als Männer mit einer hohen, um erwachsene Kraft und großes Lungenvolumen bereicherte Stimme das Publikum verzauberten, ist ein von vielen Legenden umranktes Kapitel barocker Musikpraxis.

Auch heute hat es seine Faszination nicht verloren. Für seinen 1994 erschienenen Film „Farinelli“ ließ Regisseur Gérard Corbiau eine solche Stimme eigens im Tonstudio aus Frauen- und Männerstimmen mixen. Das Verstörende und Grausame der verstümmelnden Praktiken setzte später auch der Choreograf Nacho Duato in seiner Produktion „Castrati“ in Szene.

Der Allgemeinmediziner Heinz Baum allerdings behauptete in seinem 2012 erschienenen Buch „Die Sängerkastraten der Barockzeit“ schlichtweg, es könne diese Praktiken nicht in nennenswertem Umfang gegeben haben. Baum gibt zu bedenken, die chirurgischen, hygienischen und schmerzlindernden Möglichkeiten dazu hätten in der Barockzeit gefehlt, Eingriffe dieser Art hätten zu zahlreichen Todesfällen führen müssen, die in der Öffentlichkeit nicht unbemerkt geblieben wären. Dass zwischen 1600 und 1750 in Italien Jahr für Jahr an die 4000 Knaben kastriert worden seien, sei schlicht ein Mythos.

„Mythen und Fakten“, so lautete auch der Untertitel eines Symposiums im Musikinstrumenten-Museum Berlin, zu dem die Freunde des Museums mit der Berliner Medizinischen Gesellschaft und dem Staatlichen Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz eingeladen hatten. Der Chirurg Michael Sachs aus Frankfurt am Main, Autor eines mehrbändigen Werkes zur Geschichte der Chirurgie, widersprach dort Baums These. Mit Hinweis auf einseitige Leistenbruch-Operationen mit Entfernung eines Hodens, über die schon im 16. Jahrhundert in Fachbüchern detailliert berichtet wurde, stellte er zu den Kastrationen junger Sänger im Barock nüchtern fest: „Es war technisch möglich, und die Gefahr, daran zu sterben, war nicht groß.“

"Das schlappe Kastraten-Jahrhundert", dichtete Schiller

An den Höfen riss man sich bis weit ins 18. Jahrhundert um die Starsänger, wie Ruth Müller-Lindenberg, Musikwissenschaftlerin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover, anhand des Briefwechsels von Friedrich dem Großen mit seiner Schwester Wilhelmine in Bayreuth belegen konnte. Auch Herzog Carl Eugen von Württemberg holte sie an seinen Hof. „Pfui, pfui über das schlappe Kastraten-Jahrhundert“ ließ Goethes späterer Freund Friedrich Schiller seinen Räuberhauptmann Karl Moor in „Die Räuber“ schimpfen.

Arme Familien versprachen sich von dem Eingriff große Karrieren für ihre begabten Söhne. „Die körperliche Unversehrtheit hatte noch nicht denselben Stellenwert wie heute“, erklärte Müller-Lindenberg. Hohe Stimmen galten zudem nicht als weiblich oder gar weibisch, sondern einfach als rein, als jugendlich, vornehm und engelsgleich.

Die reine Stimme der vorpubertären Knaben indes war nicht nur vergänglich und dem Stimmbruch unterworfen, sie stieß in großen Kirchenräumen auch kräftemäßig an ihre Grenzen. Frauen jedoch sollten, dem Paulus-Wort (Erster Korintherbrief 14, 34) folgend, „in der Gemeindeversammlung schweigen“. Auch in der päpstlichen Kapelle kamen deshalb Kastraten zum Einsatz, etwa beim berühmten „Miserere“ von Gregorio Allegri (1582–1652) – kirchlichen Bedenken gegenüber den widernatürlichen Eingriffen zum Trotz.

Die Sänger mussten vor der Pubertät kastriert werden

Männliche Sänger, bei denen die Hoden schon vor der Pubertät als Produzenten männlicher Geschlechtshormone ausgeschaltet wurden, behielten in ihrem Kehlkopf kürzere Stimmlippen und damit eine höhere Stimme, wie der Kinder- und Jugendmediziner und Hormonspezialist Volker Hesse von der Charité erläuterte. Aufgrund der Kastration (nicht zu verwechseln mit der Sterilisation, bei der nur die Samenleiter unterbunden werden und die ein Mittel zur Empfängnisverhütung darstellt) hatten sie als Erwachsene nicht nur ein auffallendes Erscheinungsbild mit besonders langen Armen und Beinen, sondern wurden auch überdurchschnittlich groß und entwickelten einen stattlichen Brustkorb. Gegenüber Kindern und Frauen hatten sie ein wesentlich größeres Lungenvolumen. In hohen weiblichen Tonlagen, die dank des Eingriffs die ihnen gemäßen waren, konnten sie die beliebten lang gehaltenen Töne und bravourösen Verzierungen der Barock-Arien deshalb kraftvoll meistern.

Das allerdings tun heute Sänger wie Philippe Jaroussky, Andreas Scholl, Franco Fagioli oder Bejun Mehta auch. Männer mit „ganz normalen männlichen Kehlköpfen“, wie der Stimmexperte und Sänger Wolfram Seidner betonte, der lange an der Charité arbeitete und Fachwerke zur Sängerstimme veröffentlichte.

Um die Tonlage zu erreichen, braucht man eine Falsettstimme

Üblicherweise werden diese modernen hohen Männerstimmen als Countertenöre bezeichnet. Seidner bevorzugt allerdings wie Jochen Kowalski, langjähriger Countertenor an der Komischen Oper Berlin, Begriffe, die sich an der Tonlage orientieren, wie „männlicher Alt“. Um diese Tonlage zu erreichen, singen sie in Falsettstimme, also mit einer besonderen Einstellung des Kehlkopfes und einem Atemdruck, der sich von dem bei der normalen „Modalstimme“ unterscheidet. Ist eine Begabung dafür bekannt, dann sollte sich der Gesangsunterricht von Anfang an danach ausrichten, fordert der Phoniater Seidner.

Renate Faltin, Professorin an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin, Sängerin und Autorin des Standardwerks „Singen lernen? Aber logisch!“, bildet männliche Sopranisten, Mezzosopranisten und Altisten aus. Als besondere Herausforderung für die Falsettisten benennt sie die Übergänge in die tiefe, modale Lage und die Koloraturen in schwindelerregender Höhe. „Der Falsettist kann sich nicht darum herumschummeln.“ Entsprechende Begabung vorausgesetzt, könne man es jedoch lernen.

Tonaufnahmen des letzten Kastraten-Sängers sind erhalten

Wurden also Tausende von Kindern einem verstümmelnden Eingriff unterzogen, um als Erwachsene mit kraftvollen, aber hohen und engelsgleichen Stimmen das Publikum zu bezaubern – obwohl zumindest die für das Falsettieren Begabten unter ihnen auch mit planvollem Unterricht dieses Ziel hätten erreichen können? Man könnte es meinen, wenn man sich heute in Barockopern von männlichen Sopran- und Alt-Sängern verzaubern lässt. Und wird bestärkt darin, wenn man hört, dass die Kastraten im Barock besonders sorgfältigen Unterricht bekamen. Was zumindest einen Teil ihres Erfolges erklären könnte. „Man hätte es auch bei anderen Kindern trainieren können“, sagte Faltin.

Wie viel die unterschiedlichen physiologischen Gegebenheiten in den Kehlköpfen von Kastraten und von Falsettisten in der Praxis wirklich ausmachen, bleibt unklar, zumal die einzigen Tonaufnahmen des letzten Kastraten-Sängers Alessandro Moreschi aus dem Jahr 1902 stammen und technisch sehr schlecht sind.

Über die Jahrhunderte hinweg bleibt jedenfalls die Dankbarkeit für viele wunderbare Musikstücke, die heutige Liebhaber der Alten Musik und der Barockoper der Existenz von Sängern verdanken, die für ihren Beruf, für ihre Kunst, als Kinder körperlich versehrt wurden. Und es bleibt der Gedanke an diejenigen Kinder, die zwar operiert wurden, deren Namen aber schon damals keiner kennenlernte. Weil sich bei ihnen die Hoffnung auf eine große Stimme und eine brillante Karriere nicht erfüllte.

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