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Die Gletschermumie "Ötzi"

© Eurac/Lafogler

Keim aus dem Eis: Hatte "Ötzi" ein Magengeschwür?

Die Krankenakte des Eismannes "Ötzi" wird immer umfangreicher: In seinem Magen lebte das Bakterium Helicobacter pylori. Der Keim gibt auch Hinweise darauf, wie Europa besiedelt wurde.

Wer den Mann aus dem Eis auftauen will, braucht einen guten Grund. Die besterhaltene Feuchtmumie der Welt (besser bekannt als „Ötzi“) soll schließlich so langsam wie möglich zerfallen. Forscher setzen alles daran, die Bedingungen seines Gletschergrabes im Tisenjoch zu simulieren: Die Leiche des Steinzeitmannes wird regelmäßig mit sterilem Wassernebel benetzt, der bei minus sechs Grad zu einer dünnen Eisschicht gefriert. Besuchern des Archäologischen Museums in Bozen gewährt ein kleines Fenster Einblick in die Eisgruft.

Ötzis Leibärzten reicht die Außenansicht nicht, sie untersuchen das Mordopfer immer wieder. 2001 zeigte ein Röntgenbild eine Pfeilspitze, die vor 5300 Jahren Ötzis linke Schulter durchschlagen und dabei die Schlüsselbeinarterie getroffen hatte. Derart verletzt, war der 40- bis 50-jährige Mann in eine Felsmulde gestürzt. Er starb an inneren Blutungen. Sein Magen war durch den Aufprall hinter den Dünndarm verrutscht. Erst 2008 – nach fast 20 Jahren Forschung – konnten Radiologen das gut gefüllte Organ auf einer CT-Aufnahme verorten. Sie waren elektrisiert. Zwei Jahre lang planten die Forscher, wie sie an den Mageninhalt der Mumie kommen, ohne sie noch mehr zu beschädigen. „Wir haben nach dem Auftauen einen Einschnitt genutzt, der für eine Vorgängerstudie gemacht wurde“, sagt Albert Zink von der Europäischen Akademie in Bozen.

Die Mühe hat sich gelohnt, Ötzis letzte Stunden lassen sich immer besser rekonstruieren. Inzwischen ist fraglich, ob er an diesem Frühsommertag wirklich auf der Flucht war, wie Pollen in seinem Darm nahegelegt hatten. Zwar stieg er innerhalb von 33 Stunden von 2500 Metern auf 1200 hinab, um dann wieder eine Höhe von 3210 Metern in den Tiroler Alpen zu erklimmen. Aber eine halbe Stunde vor seinem Tod hat Ötzi Rast gemacht: Der drahtige Mann aß in aller Ruhe ein paar Bissen Brot, ein Stück Apfel, Hirsch- und Steinbockfleisch sowie Speck. Der mörderische Pfeil dürfte ihn überraschend getroffen haben.

Angesichts der Lebensumstände in guter Verfassung

Der Mageninhalt gab außerdem einen weiteren Puzzlestein zu Ötzis Gesundheit preis, berichten die Forscher um Zink nun im Fachblatt „Science“. Er war mit dem Bakterium Helicobacter pylori infiziert – jenem Magenkeim, den noch heute jeder zweite Mensch in sich trägt und der Schleimhautentzündungen, Magengeschwüre bis hin zu Tumoren verursachen kann. „Wir können nicht genau sagen, ob er Magenbeschwerden hatte“, sagt Zink. „Aber es ist wahrscheinlich, denn sein Immunsystem hat mit einer Entzündung reagiert. Das können wir anhand von zwei typischen Eiweißen zeigen.“ Von der Magenschleimhaut selbst sei jedoch so wenig übrig, dass über Gewebeschäden nur spekuliert werden könne. „Das ist ähnlich wie mit der Borrelieninfektion, die wir nachgewiesen haben.“ Angesichts seiner Lebensumstände sei Ötzi aber trotz aller Parasiten und schlechter Zähne, trotz kaputter Bandscheiben und abgenutzter Gelenke, trotz Gallensteinen, Laktoseintoleranz und Arteriosklerose in guter Verfassung gewesen „Er hätte noch zehn bis 20 Jahre leben können“, meint Zink. „In dieser Zeit war das ein hohes Alter.“

Ötzis ergänzte Krankenakte ist nur ein Grund, warum die Forscher der Helicobacter-Fund begeistert. Zum ersten Mal konnte ein 5300 Jahre altes Mikrobenerbgut komplett entschlüsselt werden. „Das ist eines der ersten Vorzeigeobjekte dazu, was moderne Sequenzierungstechnologie und Computerauswertungen leisten können“, sagt Thomas Rattei von der Universität Wien. „Sie eröffnen uns ein neues Forschungsfeld: Paläomikrobiologie, die Untersuchung uralter Keime.“

Rekonstruktion von "Ötzi"
Klein und drahtig. Das Archäologische Museum in Bozen zeigt, wie "Ötzi" ausgesehen haben könnte.

© Robert Parigger, dpa

Helicobacter pylori wird von den Eltern auf die Nachkommen übertragen beziehungsweise wenn Kinder miteinander spielen. Das Bakterium hat keinen anderen Wirt, sondern wandert mit uns rund um die Welt. „Die Struktur der Helicobacter-Populationen ist ein Spiegelbild der menschlichen Gemeinschaften“, sagt Yoshan Moodley von der Universität von Venda in Südafrika. „Die Helicobacter der australischen Aborigines sind andere als die der Chinesen. Es gibt verschiedene afrikanische Helicobacter-Stämme und einen europäischen Helicobacter.“ Anhand heute existierender Unterschiede, der Mutationsrate und bekannter Wendepunkte der menschlichen Geschichte haben er und seine Kollegen berechnet, dass sich Mensch und Bakterium seit 100 000 Jahren gemeinsam entwickeln. Manche Forscher vermuten, dass der Mensch davon auch profitierte. Vor 5300 Jahren hatte das Bakterium aber bereits das Potenzial, den Menschen krank zu machen. „Dass wir nun ein einzigartiges Fenster in die Steinzeit haben, ist umwerfend“, sagt Moodley.

Helicobacter soll helfen, die Wanderungen der Menschheit nachzuvollziehen

Die Rekonstruktion des Erbgutes war Fleißarbeit. In den letzten Resten der Magenwand war keine Spur des Keims zu finden. „Wir gingen deshalb davon aus, dass wir den gesamten Mageninhalt durchsuchen müssen“, sagt Frank Maixner von der Europäischen Akademie in Bozen. Eine erste Genanalyse zeigte, dass die Proben aus dem Magen Helicobacter enthalten; die Technik konnte aber nicht zwischen alter DNS und modernen Verunreinigungen unterscheiden. Die Forscher entschieden daher, jegliches im Magen enthaltene Erbgut zu entschlüsseln – egal ob es sich um Ötzis Zellen, Nahrungsmittel, Bodenmikroben, andere Parasiten oder Helicobacter-Bruchstücke handelte. Aus hunderten Gigabyte Daten filterten Rattei und sein Team dann monatelang „wie die Nadel im Heuhaufen“ Helicobacter-Erbgutschnipsel heraus und fügten sie wieder zusammen. Durch das typische Schadensbild des Erbguts und die Verteilung des Keims im Magen und Darm sind sich die Forscher sicher, dass es sich um Uralt-Erbgut handelt.

„Es handelt sich um einen ausgestorbenen Helicobacter-Stamm, der am ehesten jenem ähnelt, den es heute noch in Südasien gibt“, sagt Moodley. Das bedeute nicht, dass Ötzi ein Migrant sei. Im Gegenteil. Es sei sehr sicher, dass der Eismann in den Alpen geboren, aufgewachsen und gestorben ist. Vielmehr wurde die Helicobacter-Variante, die früher Menschen in weiten Teilen Europas besiedelte, über die Jahrtausende nach Südasien abgedrängt. In den Magenschleimhäuten der Europäer leben heute Helicobacter-Stämme, deren Erbgut eine Mixtur aus „asiatischen“ und nordostafrikanischen Komponenten ist. Bauern könnten es im Neolithikum aus dem Nahen Osten nach Europa mitgebracht haben, spekuliert Moodley. Allerdings nach Ötzis Zeit.

Jahrtausendealtes Erbgut von Helicobacter pylori könnte in Zukunft helfen, die Wanderungen der Menschheit genauer nachzuvollziehen, hoffen die Forscher. Das Team um Zink will nun bei anderen Mumien danach suchen. Ägyptische Mumien kommen dafür allerdings nicht infrage. Ihnen fehlt der Magen.

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