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Studie: "Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose"

"Verhaltensauffällig, frech": Wie deutsche Grundschullehrer Kinder aufgrund ihrer Vornamen in Schubladen stecken.

Alltag in einer ersten Klasse einer Grundschule irgendwo in Deutschland: Marie und Hannah sind freundliche Mädchen, die im Unterricht gut mitarbeiten. Nett und unauffällig sind auch ihre Klassenkameraden Simon und Jakob. Kevin, Justin, Chantal und Mandy dagegen sind eher verhaltensauffällig – und sie sind frech. Dieses Szenario zumindest spielt sich in den Köpfen von Grundschullehrern ab, wenn ihnen die Namensliste ihrer künftigen Klasse vorgelegt wird. Dass Lehrkräfte Vorurteile gegenüber bestimmten Vornamen hegen, ergab eine Studie der Universität Oldenburg. Die Lehrer könnten den Kindern damit womöglich geringere Bildungschancen einräumen, warnt Studienleiterin Astrid Kaiser.

Nach der Online-Umfrage, bei der den Teilnehmern eine virtuelle Klassenliste vorgelegt wurde, assoziierten gut 80 Prozent mit „Marie“ ein eher verhaltensunauffälliges und freundliches Kind, während sie bei „Kevin“ zu ebenfalls rund 80 Prozent ein eher auffälliges, freches Verhalten erwarteten. Seit Anfang 2009 hätten sich über 3000 Lehrkräfte beteiligt, sagt Astrid Kaiser, Erziehungswissenschaftlerin an der Oldenburger Arbeitsstelle für Kinderforschung. Bis Juni hätten 500 davon alle 16 Fragen beantwortet und seien tatsächlich Grundschullehrer gewesen.

Ausgewählt haben Kaiser und ihre wissenschaftliche Mitarbeiterin Julia Kube die Namen aus der standesamtlichen Statistik – 24 Modevornamen, die in den letzten Jahren von Eltern favorisiert wurden. Offensichtlich sind Eltern schlecht beraten, wenn sie ihre Jungen Kevin, Justin, Marvin oder Cedric und ihre Mädchen Vanessa, Angelina, Chantal oder Mandy nennen. Bei Namen mit exotischen Anklängen oder Vorbildern aus der Unterhaltungsindustrie assoziierten teilweise weit über 50 Prozent der Befragten negative Eigenschaften. Schon auf die Eingangsfrage, wie sie ihr eigenes Kind auf keinen Fall nennen würden, nannten die Befragten spontan Namen aus dieser Reihe. Die Grundschullehrer ordneten die kleinen Mandys und Kevins ganz bewusst einem bildungsfernen Unterschichtmilieu zu, sagt Kaiser. Dabei ist „Kevin“ offenbar zum Synonym für Problemschüler geworden: „Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose“, kommentierte ein Lehrer. Heiße das Kind Nele oder Leon, werde dagegen ein bürgerliches Milieu mit guten Bildungsvoraussetzungen vermutet.

Tatsächlich würde eine Reihe früherer Studien bestätigen, dass Träger schillernder Modenamen mehrheitlich aus den unteren sozialen Schichten stammten, betont Kaiser. Fast 70 Prozent der von den Oldenburger Forscherinnen befragten Grundschullehrer erklärten denn auch, ihre negativen Assoziationen beruhten auf eigenen Erfahrungen mit konkreten Namensträgern. Doch die Grundschullehrer würden solche punktuellen Erlebnisse vollkommen zu Unrecht generalisieren. „Und dass die Schule die ohnehin schon vorhandenen Nachteile durch Bildungsferne noch verstärkt – das ist ein Hammer“, kritisiert Kaiser.

Der internationalen Iglu-Studie zufolge sind deutsche Grundschulen von sozialer Ungerechtigkeit gegenüber Kindern aus Arbeiterfamilien geprägt: Sie müssen bei der Lesekompetenz deutlich besser abschneiden als Kinder aus Akademikerfamilien, um eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen. Lehrer, aber auch Eltern trauten Schülerinnen und Schülern mit eher bildungsfernem Hintergrund nicht zu, aufgrund mittlerer und guter Leistungen den Weg zum Abitur zu bewältigen – sie müssen sehr gute Leistungen bringen. Das trifft Kinder aus Arbeiterfamilien mit zwei deutschen Elternteilen genauso wie Kinder aus sozial schwachen Familien mit Migrationshintergrund.

Wie türkische oder arabische Namen in der Klassenliste auf Grundschullehrer wirken, haben Kaiser und ihre Mitarbeiterin allerdings nicht erfragt. Auf ganz Deutschland bezogen kämen sie nicht so häufig vor wie die für die Umfrage ausgewählten Modenamen, erklärt Kaiser. Regionale Unterschiede in der Bewertung der Namen gebe es indes nicht. Aus nahezu allen Bundesländern hätten proportional ähnlich viele Lehrkräfte teilgenommen. Also hegen auch ostdeutsche Lehrer Vorurteile gegenüber Trägern englisch oder französisch klingender Modenamen – obwohl eine solche Namensgebung in der DDR als weltläufig und als passiver Widerstand gegen die vom Staat verwehrte Reisefreiheit gelten konnte.

Besonders erschreckend findet es Kaiser, dass die befragten Lehrkräfte ihre Vorurteile nicht kritisch reflektieren. Aus ihrer Sicht seien negative Assoziationen in der Bevölkerung weit verbreitet. Nur ein geringer Prozentsatz fände es problematisch, Kinder aufgrund eines Vornamens in eine Schublade zu stecken. Sensibilisierten könnte sie das „Anti-Bias-Training“ in der Lehreraus- und fortbildung, in dem Pädagogen lernen, eigene Vorurteile zu überwinden. Zum Repertoire sollte da auch der Song des Berliner Duos Eichhorn und Pigor gehören: Die Kevins haun uns raus / Die kenn’ sich überall aus / Denn die sahn schon von klein auf / Die Sendung mit der Maus.Amory Burchard

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