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Begehbare Kühltruhe. In Biobanken wie dieser in Großbritannien lagern Millionen Blut- und Urinproben.

© REUTERS

Krebsforschung: Biobanken boomen

Forscher auf der ganzen Welt sammeln Blut und Gewebe von Millionen Menschen. Das soll zum Beispiel die Tumortherapie schlagkräftiger machen, birgt aber auch ethische Probleme.

Allen Banken geht es schlecht? Nein, unbemerkt von Wirtschaftsexperten macht eine besondere Art von Bank weltweit Karriere. In diesen Banken lagern nicht Geld noch Gold, sondern Blut und Biopsien, Nervenwasser, Speichel und Urin. Mehr als 110 solche Biobanken gibt es hierzulande bereits, laut Nationalem Biobanken-Register. Betrieben werden sie von großen, öffentlich finanzierten Kliniken, Instituten, Blutspendediensten und Stiftungen ebenso wie von privaten Kliniken und Unternehmen, die sich auf die Einlagerung von biologischem Probenmaterial spezialisiert haben. Fast wöchentlich kommen neue Biobanken hinzu.

Nicht nur in Deutschland wächst die Zahl rasant. Die EU-Initiative „Biobanking and Biomolecular Resources Research Infrastructure“ hat im Jahr 2011 rund 450 europäische Biobanken erfasst. Für die USA kommt eine Erhebung des Nationalen Krebsinstituts (NCI) auf 600 Millionen Proben. Die NCI-Experten schätzen, dass die Zahl der Proben in den Biobanken weltweit pro Jahr um 20 bis 30 Prozent steigt. Was steckt hinter dem Sammeleifer der Forscher?

„Bei der Suche nach den Ursachen von komplexen Krankheiten bilden Biobanken inzwischen die wichtigste Quelle, um daran beteiligte genetische Faktoren zu identifizieren und zu bewerten“, sagt Michael Hummel, Molekulardiagnostiker an der Berliner Charité und Kurator des Deutschen Biobanken-Registers. Mithilfe der biologischen Sammlungen wollen Wissenschaftler neue Therapien schneller aus der Grundlagenforschung zum Patienten bringen. Vor allem in der Krebsmedizin scheint das immer öfter zu gelingen.

Das Prinzip: Die Gewebeproben vieler Patienten, die an der gleichen Krankheit leiden, werden auf individuelle Veränderungen im Erbgut, in Steuerungsmolekülen oder in den Eiweißen untersucht und mit Proben gesunder Kontrollpersonen verglichen. Durch den systematischen Vergleich filtern Forscher jene molekularen Faktoren heraus, die auf einen bestimmten krankhaften Prozess im Körper hinweisen. Diese Biomarker dienen nicht nur als Erkennungsmerkmale, an welchen Stellen in den molekularen Schaltkreisen des Organismus etwas schiefläuft. An ihnen lässt sich auch der Krankheitsverlauf ablesen und eine Prognose erstellen. Letztlich erweist sich ein guter Biomarker als wertvoller Wegweiser, wo ein neues Medikament gezielt ansetzen kann.

Bisher war das oft ein Vabanquespiel. Zuerst in Zellkulturen, dann im Tierversuch getestet, scheitern viele Medikamentenkandidaten, wenn sie sich nach Jahren der Entwicklung erstmals beim Menschen beweisen sollen. Von fünfzig potenziellen Medikamenten schafft es durchschnittlich nur eines in die klinische Erprobung. „Solche Modelle können die Realität der menschlichen Erkrankungen nur ansatzweise widerspiegeln und scheitern häufig“, sagt Wolfgang Hiddemann, ärztlicher Direktor und Leiter der Biobank Leukämie am Klinikum Großhadern der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dort lagern Tausende von Blut- und Gewebeproben von Patienten mit den dazugehörigen Befunden und Behandlungsverläufen. Bei der Fahndung nach aussagekräftigen Biomarkern stützen sich die Münchner Forscher auf Patientengruppen, die im Rahmen von klinischen Studien einheitlich behandelt wurden. Dadurch lässt sich der Verlauf einer Erkrankung während der Therapie genau verfolgen. Die Beobachtungen bringen die Forscher dann zurück ins Labor, um den Verlauf anhand der Gewebeproben molekular zu analysieren. Die besondere Vorgehensweise liefert einen doppelt gesicherten Ansatz. „Die resultierenden Krankheitsmodelle und therapeutischen Ansätze werden so viel genauer“, sagt Hiddemann.

So haben die Münchner Forscher nun herausgefunden, dass an der Entstehung der akuten myeloischen Leukämie (AML), weit mehr unterschiedliche Gene beteiligt sind, als bislang bekannt war. An dem Blutzellenkrebs erkranken hierzulande jedes Jahr rund 3500 Menschen. AML ist jedoch keine einheitliche Erkrankung. Die Patienten wurden bisher aufgrund äußerer Merkmale und genetischer Veränderungen in den entarteten Zellen in sieben Untergruppen eingeteilt. „Die Diagnose ist von entscheidender Bedeutung, da die Untergruppen unterschiedliche Prognosen haben und die Therapie entsprechend abgestimmt wird“, erläutert Hiddemann. Nach neuen, noch unveröffentlichten Erkenntnissen der Forscher müssen jedoch 35, möglicherweise sogar 36 verschiedene Untergruppen unterschieden werden. „Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Therapie, die nun noch stärker an die individuellen genetischen Merkmale des Tumors angepasst werden muss“, sagt der Krebsforscher.

Personalisierte Medizin nennt sich der Ansatz, der die Therapie schlagkräftiger machen soll. „Biobanken sind dabei das Substrat für den Fortschritt“, sagt Hiddemann. Davon profitiert besonders die Krebsmedizin. Beim Schwarzen Hautkrebs (malignes Melanom) habe sich gezeigt, dass in rund 70 Prozent der Fälle das BRAF-Gen durch eine Mutation überaktiviert ist. Das veränderte Gen ist die Bauanleitung für ein fehlerhaftes Eiweiß, das die Zelle regelrecht anspornt, sich zu teilen. Dagegen ist seit 2011 erstmals ein personalisiertes Medikament auf der Basis des Wirkstoffs Zelboraf verfügbar. Das Wirkstoffmolekül passt in das BRAF-Eiweiß wie ein Schlüssel ins Schloss und schaltet es ab. Die Zelle erhält weniger Signale zu wachsen. In klinischen Studien erwies sich, dass das Medikament bei bis rund 80 Prozent der Hautkrebspatienten das Tumorwachstum verlangsamte oder sogar stoppte. Das Medikament könnte in Zukunft auch einigen Menschen mit Darmkrebs helfen, die dieselbe Mutation tragen.

Zurzeit ist Zelboraf nur für die Behandlung des Schwarzen Hautkrebses zugelassen. Bevor es zum Einsatz kommen kann, muss beim Patienten die betreffende Mutation durch einen Test nachgewiesen werden. Personalisierte Diagnostik und Therapie gehen in der Krebsmedizin Hand in Hand. „In der Krebstherapie basieren sämtliche molekularen Tests, mit denen die Wirksamkeit und Verträglichkeitpersonalisierter Therapien vorab überprüft werden, um unnötige Behandlungen zu vermeiden, auf wissenschaftlichen Untersuchungen an Geweben aus Biobanken“, sagt Manfred Dietel, ärztlicher Direktor an der Berliner Charité. Laut dem Verband forschender Arzneimittelhersteller sind derzeit 27 Medikamente in Deutschland auf dem Markt, bei denen vor der Anwendung ein solcher diagnostischer Vortest mit der Zulassung vorgeschrieben ist oder von medizinischen Fachgesellschaften empfohlen wird. Davon sind 21 Krebsmedikamente.

Die Entwicklung solch personalisierter Medizin stellt hohe Ansprüche an Biobanken, betont Hummel: „Biobanken müssen eine gesicherte, hohe Qualität liefern, wenn sie die Grundlage bieten wollen, auf der Forschungsprojekte der Arzneimittelindustrie aufsetzen können.“ Moderne Technik hilft: Prozeduren zur Probengewinnung und -verarbeitung sind großenteils standardisiert, Abläufe bei der Probeneinlagerung automatisiert. In eigens errichteten Lagerhallen sausen Roboter auf Schienen von Probenfach zu Probenfach, sortieren computergesteuerte Maschinen Blut- und Zellproben wie am Fließband in kleine Fläschchen, die dann bei minus 180 Grad schockgefroren werden. Computergespeicherte Sammel- und Lagerprotokolle machen die Proben jedes Patienten jederzeit wiederauffindbar. Auch die genetische Analyse übernehmen größtenteils Maschinen.

Dennoch gibt es große Unterschiede bei der Qualität des Probenmaterials, der Art der Vorbehandlung und Lagerung. Das hat nicht selten zur Folge, dass in den Proben die Aktivität von Genen und Eiweißen verändert ist, ohne dass dies erkennbar wäre. Wie sich zeigte, hat auch die vorausgegangene Gabe von Arzneimitteln, die Wahl von Narkose- und Konservierungsmitteln einen Einfluss auf den Zustand einer Probe. Zudem hapert es an einer systematischen und lückenlosen Dokumentation. „Über die Hälfte der Analysen humaner Gewebeproben nutzen unzureichend charakterisiertes Material und sind daher fehlerhaft“, mahnt Esther Herpel, Leiterin der Biobank am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen in Heidelberg.

Dass noch erhebliche Anstrengungen bei der Qualitätssicherung nötig sind, glaubt auch Hummel. An der Entwicklung von Standards und Zertifizierungsverfahren werde daher intensiv gearbeitet. Eine Initiative setzt beispielsweise auf offene Ringversuche, ein Verfahren, das sich bereits bei der Qualitätsprüfung von Diagnostiklabors in der Pathologie bewährt hat. Dazu erhalten Biobanken Proben mit bestimmten Biomarkern zur Analyse. „Nur jenen, die akzeptable Resultate liefern, wird eine hohe Qualität bescheinigt“, sagt Hummel. Zudem werden Testsätze mit Qualitätsbiomarkern entwickelt. Sie sollen Aufschluss darüber geben, wie stark Eiweiße oder Gene in den gelagerten Biomaterialien abgebaut sind. Das wiederum soll Aussagen über die Qualität von Biobanken liefern.

Die neuen Forschungsinstrumente sollen die Krebsforschung voranbringen. Durch die vollständige Sequenzierung von Krebszellen und den Vergleich mit dem Genom gesunder Zellen erhoffen sich Forscher Aufschluss über neue Angriffspunkte für personalisierte Medikamente. Doch wirft das Wissen um genetische Risiken und bestehende Krankheiten zahlreiche juristische und ethische Fragen auf: Welcher Personenkreis soll Zugang zu den Daten erhalten? Wie lange dürfen die Informationen gelagert werden und für welchen Zweck? Sollen Patienten über mögliche Zufallsbefunde informiert werden, auch wenn dabei die Veranlagung für eine bisher unheilbare Erbkrankheit festgestellt wurde?

Wie im letztgenannten Fall eine Lösung aussehen könnte, zeigt das Beispiel Schweiz. Dort sehen die Richtlinien für Biobanken vor, dass „Zufallsbefunde, die Auswirkungen haben auf Rettung oder Erhaltung von Gesundheit oder Leben“, an die behandelnden Ärzte weitergeleitet werden. Diese sollen darüber dann den betroffenen Patienten informieren, es sei denn, dieser hat dem Verfahren zuvor in der Einwilligungserklärung ausdrücklich widersprochen.

Der Deutsche Ethikrat und die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina hatten sich 2010 in Stellungnahmen für gesetzliche Regeln beim Umgang mit Humanbiobanken ausgesprochen. Darin hatten sie auch Vorschläge zum besseren Schutz der Persönlichkeitsdaten von Patienten gemacht. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hatte kurz darauf vorgeschlagen, dass nur große Biobanken von einer weitgehenden Regulierung erfasst werden sollten und will die Umsetzung weitgehend in der Hand der Wissenschaftler belassen. Auch die Bundesregierung lehnt ein eigenes Gesetz für Biobanken ab und begründet dies mit der Sorge, dass mehr Bürokratie die Forschung behindern könnte. Sie setzt auf eigenverantwortliche Lösungen der Partner. Eine Herausforderung nicht nur für die Biobanken-Betreiber.

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