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Trauer oder bereits eine behandlungsbedürftige Depression? Experten streiten darüber, ab welchem Zeitpunkt der Arztbesuch empfohlen wird.

© dpa

Medizin: Eine Krankheit namens Diagnose

Ärzte diskutieren, wo künftig die Grenze zwischen gesund und behandlungsbedürftig verlaufen soll.

Es ist nicht lange her, dass sich Dorfgemeinschaften das Maul zerrissen über eine Witwe, die nach kurzer Zeit wieder helle Kleider anzog. Trauer musste buchstäblich am Leib getragen werden, für mindestens ein Jahr. Inzwischen gilt diese Konvention allenfalls während der Beerdigung. Die Seele aber trägt länger Schwarz: Niedergeschlagenheit siegt über Lebensfreude; immer wieder schweifen die Gedanken ab. Man beginnt zu weinen, kann nicht schlafen und kaum etwas essen. Man ist unfähig, sich auf den Alltag zu konzentrieren oder etwas mit anderen Menschen zu unternehmen.

Wie lange ist das „normal“? Wann wird aus Trauer, die zum Leben gehört, eine Depression, mit der man zum Arzt gehen sollte? Darüber wird in den USA eine heftige Debatte geführt. Anlass ist die Neufassung des Krankheitskataloges der American Psychiatric Association, der ab dem nächsten Jahr gelten soll. In diesem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, kurz DSM 5, wird empfohlen, die Alarmglocken schon nach zwei Wochen läuten zu lassen: Wenn Traurigkeit, Apathie, Konzentrationsstörungen, Schlaflosigkeit und Appetitmangel dann noch anhalten, könnten sie Symptome einer Depression sein. Das DSM 4 gab den Trauernden nach dem Tod eines nahen Angehörigen noch mindestens zwei Monate Zeit. In der vorangegangenen Fassung war es ein ganzes Trauerjahr. Im Fachjournal „Lancet“ wurde angesichts der nochmals verkürzten Zeitspanne Besorgnis laut: „Trauer ist keine Krankheit; sie sollte als Teil des menschlichen Leben und als normale Antwort auf den Tod eines geliebten Menschen betrachtet werden“, heißt es dort. Für diese natürliche Reaktion enge zeitliche Grenzziehungen vorzusehen sei unangemessen: „Die meisten, die einen Menschen verlieren, den sie lieben, brauchen keine Behandlung durch einen Psychiater oder einen anderen Arzt.“ Eine echte Hilfe sei mitmenschliche Empathie, nicht Pillen.

Parallel zu der Neufassung des DSM überlegen auch die Experten bei der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die International Classification of Disorders ICD 11 um eine Störung mit dem Namen „verlängerte Trauer“ zu erweitern.

Der Psychiater Allen Frances von der amerikanischen Duke University warnte auf der Tagung „Graduelle Annäherungen an Gesundheit und Krankheit“ in Berlin vor derart niedrigen Krankheitsschwellen: Werde Trauer vorschnell pathologisiert, dann sei das „ein Angriff auf die Würde von etwas, das zur Liebe gehört“. Das gelte auch für andere schwerwiegende Lebensereignisse wie eine Trennung oder den Verlust des langjährigen Arbeitsplatzes. Er kritisierte die neuen Grenzziehungen in dem Bewusstsein, dass Grenzen zwischen gesund und krank in vielen Fällen schwer zu ziehen sind – nicht allein in der Psychiatrie.

Die strenge WHO-Definition von Gesundheit als „Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens“, der mehr sei als „das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“, hilft hier kaum weiter. Wer sich in diesem Sinn gesund fühlt, der sei nur noch nicht gründlich genug durchgecheckt worden, spotten Mediziner schon lange. Doch welcher Befund ist „krankhaft“? Der Mediziner und Philosoph Peter Hucklenbroich von der Universität Münster nannte als Kriterien für die Krankhaftigkeit eines Zustands die subjektiven Beschwerden, die Verkürzung der Lebenszeit und die Unfähigkeit, am sozialen Leben teilzuhaben. Letzteres hat zum Beispiel für die Krankschreibung Bedeutung. Hucklenbroich machte jedoch auch darauf aufmerksam, dass es „Nichtkrankheiten“ gibt, die im Einzelfall behandlungsbedürftig sein können. Beispiel: Die Schwangerschaft.

Während hier die Grenzziehung eindeutig ist – „ein bisschen“ schwanger gibt es nicht –, sieht die Sache beim Blutdruck schon schwieriger aus: Hoher Blutdruck ist gefährlich. Doch ab welchen Werten sollte mit Medikamenten behandelt werden?

„Es gibt pragmatische Gründe für Grenzziehungen, doch sie dürfen nicht willkürlich sein“, forderte der Philosoph Rico Hauswald, der an der Humboldt-Universität im Projekt „Vernünftiger Umgang mit unscharfen Grenzen“ forscht. Die gewählten Schwellenwerte müsse man mit Studienergebnissen begründen können.

Die geplanten Grenzziehungen im DSM 5 findet Frances jedenfalls nicht vernünftig, und das nicht allein beim Thema Trauer und Depression. In seinen Augen hat schon das vergleichsweise vorsichtige Vorgänger-Katalog DSM 4 zu Überdiagnosen geführt. Dabei wurden da nur zwei Diagnosen neu aufgenommen und die Kriterien für wenige Krankheitsbilder „entschärft“. Im Vergleich mit dem Jahr 1994 wird heute trotzdem bei amerikanischen Kindern 20 Mal häufiger die Diagnose Autismus gestellt. Frances führt das darauf zurück, dass das damals neu aufgenommene Asperger-Syndrom die Aufmerksamkeit heute auf mildere Formen des Leidens lenkt.

Psychiatrische Diagnosen würden inzwischen geradezu inflationär ausgemacht, kritisiert Frances: Jeder vierte erwachsene Amerikaner hatte demnach bereits einmal ein psychiatrisches Problem, jedes zehnte Kind litte unter einem Aufmerksamkeitsdefizit-Überaktivitätssyndrom. Bei stolzen 40 Prozent der 32-jährigen Neuseeländer sei schon eine Abhängigkeitserkrankung diagnostiziert worden: „Wir nähern uns immer mehr der Normalität.“ So entstehe ein neuer Markt für Medikamente, schließlich hätten viele Menschen eine leichte Störung. Für Deutschland hatte das kürzlich der Norbert Klusen, Vorstandsvorsitzender der Techniker-Krankenkasse, ähnlich formuliert: „Wenn bei drei von zehn jungen Frauen eine psychiatrische Diagnose gestellt wird, müssen wir uns nicht nur über die Zunahme psychischer Störungen Gedanken machen, sondern auch darüber, wo die Grenze zwischen gesund und krank gezogen wird.“

„Überdiagnostik ist ein Thema der gesamten Medizin, nicht allein der Psychiatrie“, gab der Charité-Psychiater Hendrik Walter zu bedenken. Andererseits könne es auch ein Segen sein, wenn die Medizin Dinge als behandlungsbedürftig einstuft, die zuvor als unvermeidliches Schicksal galten: „Früher haben es alte Menschen ja auch klaglos akzeptiert, ihre Zähne zu verlieren.“ Frances stimmte zu: Auch die moderne Psychiatrie, die sich nicht allein auf Medikamente verlässt, sei für viele von Vorteil. Leider würden viele schwere psychische Erkrankungen immer noch nicht angemessen behandelt. „Stattdessen behandeln wir oft die, die es nicht brauchen.“ Wer um einen geliebten Menschen trauert, dürfte zu dieser Gruppe gehören. Viele Wunden heilt die Zeit.

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