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Gesundes Gleichgewicht. Der Weg zum Wohlbefinden ist bei Männern und Frauen unterschiedlich. In der Gendermedizin sollen diese Unterschiede berücksichtigt werden. Foto: Imago

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Wissen: Medizin – nicht nur für Männer

Die Gendermedizin betont die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Das kann Leben retten

Jedes Mädchen, das heute in Deutschland geboren wird, hat eine Lebenserwartung von 83 Jahren, jeder Junge von 77 Jahren. Unsere Gesellschaft stellt sich mit der Reform der Renten- und Sozialsysteme darauf ein, dass ihre Mitglieder älter werden. Doch es muss eine weitere Reform hinzukommen, wenn der gerechtfertigte Wunsch erfüllt werden soll, gesund alt zu werden. Unser Medizinsystem muss umdenken und sich darauf einstellen, die biologischen und psychosozialen Unterschiede von Mann und Frau in Forschung und Praxis zu berücksichtigen.

Noch immer achten Ärzte bei Erkrankungen zu wenig auf geschlechtsspezifische Unterschiede. Das hat zur Folge, dass falsche Diagnosen gestellt und falsche Therapien eingeleitet werden und es mitunter zu einer erhöhten Sterblichkeit kommt. Die geschlechtsspezifischen Einflussfaktoren etwa auf die Entstehung einer Krankheit und ihren Verlauf, auf Risikofaktoren, Diagnostik und Therapie versucht die Gendermedizin zu verstehen – ein vergleichsweise junges Forschungsgebiet, auf das aufmerksam zu schauen ist, auch weil die geschlechterspezifischen Unterschiede bei Gesundheit und Krankheit umso sichtbarer werden, je älter Menschen werden.

Doch was unterscheidet Frauen und Männer? Frauen werden beispielsweise älter als Männer. Laut Statistischem Bundesamt waren 2009 in Deutschland mehr als 56 Prozent der über 60-jährigen Menschen Frauen. Die Ursachen hierfür sind vielschichtig. Zum einen gibt es verhaltensbedingte Ursachen, denn Männer leben gesundheitsriskanter als Frauen. Lungenkrebs etwa ist nach Herzerkrankungen die häufigste Todesursache – rund 32 500 Männer erkranken jährlich an Lungenkrebs; bei den Frauen sind es rund 14 600. Auch wenn wir wissen, dass die Lungenkrebsrate bei Männern vergleichsweise gleich bleibt und bei Frauen steigt, ist es so, dass die Raucherquote bei Männern 31, bei Frauen 21 Prozent beträgt. Frauen sind zudem eher bereit, Präventionsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen als Männer. Krebsfrüherkennungsuntersuchungen nutzen etwa 15,5 Millionen Frauen, aber nur 3,5 Millionen männliche Versicherte.

Die Forschung weiß heute also, dass es geschlechterspezifische Unterschiede bei Entstehung und Verlauf von Erkrankungen gibt, die nicht nur auf den biologischen Unterschieden zwischen Frau und Mann beruhen sondern auf sozialen, gesellschaftlichen, psychologischen und kulturellen Faktoren, wie einem unterschiedlichen Rollenverständnis, verschiedenen Lebenslagen und Lebensweisen, Rollen und Pflichten sowie einer unterschiedlichen Selbstwahrnehmung.

Der englische Begriff „Gender“ umfasst dabei sowohl die biologischen als auch die psychosozialen Aspekte der Geschlechtszugehörigkeit. Den Anstoß für eine geschlechterspezifische Forschung in der Medizin gab die Kardiologin Marianne Legato, die Ende der 80er Jahre erkannte, dass sich ein Herzinfarkt bei Männern und Frauen unterschiedlich äußern kann. Ein Grund für das Unwissen war, dass sich die medizinische Forschung in der Vergangenheit zumeist auf Männer fokussierte. Bis vor wenigen Jahren wurden nur Männer in klinische Studien eingeschlossen. Es mehrten sich Hinweise, dass diese Ergebnisse oftmals nicht eins zu eins von Männern auf Frauen übertragen werden können. So ist mittlerweile bekannt, dass Frauen anders auf einige Arzneimittel reagieren als Männer. Zudem führt die unterschiedliche Enzymausstattung von Männern und Frauen in der Leber zu einer erhöhten Häufigkeit von unerwünschten Arzneimittelnebenwirkungen bei Frauen.

Welche fatalen Folgen die unzureichende Beachtung von Geschlechterunterschieden in der medizinischen Versorgung für Frauen haben kann, offenbarte die sogenannte Digitalis-Studie. 1997 waren die Ergebnisse der Studie – ohne nach Männern und Frauen zu unterscheiden – im renommierten „New England Journal of Medicine“ erschienen. Sie zeigten einen klaren Überlebensvorteil der Gruppe von Patienten, die Digitalis erhielten, gegenüber der Kontrollgruppe auf. Digitalis wurde danach in die Leitlinien zur Behandlung von Herzinsuffizienz aufgenommen. Erst im Jahr 2002 folgte eine gendersensitive Analyse, nach Männern und Frauen getrennt, aus der sich für Frauen eine erhöhte Sterblichkeit mit Digitalis im Vergleich zur Kontrollgruppe ergab. Ähnliches gilt, wenn auch weniger dramatisch, für den Einsatz von Aspirin als Sekundärprophylaxe nach einem Schlaganfall: Nur bei Männern reduziert dies das Risiko, einen weiteren Schlaganfall zu erleiden.

Als ein Ergebnis der Genderforschung gilt inzwischen, dass sich Arzneimittel in Körpern von Frauen anders verteilen und an Männern getestete Arzneimittelgaben zu einer Überdosierung mit den entsprechenden Nebenwirkungen führen können. Die biologischen Gründe, die zu solchen Geschlechterunterschieden führen, sind noch weitestgehend unverstanden und werden derzeit erforscht. Es ist inzwischen jedoch sicher, dass man Geschlechterunterschiede auch in Tiermodellen und sogar in Zellkulturmodellen beobachten kann.

Es ist deshalb ein wesentlicher Qualitätsaspekt unseres Gesundheitssystems, dass wir zukünftig bei der medizinischen Forschung beide Geschlechter angemessen in Untersuchungen einbeziehen. Insgesamt gilt es, geschlechtsspezifische Aspekte stärker in den Blickpunkt der modernen Medizin zu rücken. Dabei geht es selbstverständlich nicht ausschließlich um Frauen – von einem neuen „Genderblick“ in der Medizin werden auch Männer profitieren. Die Depression etwa wurde lange als „Frauenkrankheit“ verstanden, obwohl die Zahl der Suizide bei Männern zwischen 30 und 65 Jahren deutlich höher liegt als in der gleichen Altersgruppe bei Frauen.

Untersuchungen zeigen, dass auch in der Frage der Gerechtigkeit noch Fortschritte gemacht werden müssen. So zeigen Studien, dass Männern eher innovative und teure Therapieformen verschrieben werden als Frauen. Männer sind auch vier- bis fünfmal häufiger Empfänger einer Herztransplantation als Frauen. Das darf nicht so bleiben. Die medizinische Forschung muss beide Geschlechter angemessen in die Untersuchungen einbeziehen. Frauen dürfen nicht wie bisher in klinischen Studien zugunsten junger Männer unterrepräsentiert bleiben. Denn auch für Frauen müssen frühzeitig unerwünschte Arzneimittelwirkungen und angemessene Arzneimitteldosierungen ermittelt werden. Und da in der Gendermedizin auch die gesellschaftlich, sozial und kulturell geprägte Geschlechterrolle erforscht wird, gilt es beispielsweise für Männer die Vernachlässigung der Krebsfrüherkennung oder die geringe Teilnahme an Präventionsmaßnahmen systematisch zu untersuchen und zu verbessern.

Letztlich wird es auch darum gehen, eine geschlechterspezifische Ansprache der Patienten zu entwickeln, die die besonderen Lebensumstände und -phasen von Frauen und Männern angemessen berücksichtigt. Dass damit auch eine gesellschaftliche Debatte ausgelöst wird, ist unvermeidlich und sinnvoll – genauso wie Deutschland seinen Teil zur internationalen Forschung auf diesem Gebiet beitragen sollte. Die Ansätze in der Gendermedizin müssen vielschichtig sein und einen Bogen von der molekularen und zellulären Ebene, über klinische und epidemiologische Studien bis hin zur Patientenversorgung und den allgemeinen psychosozialen Einflüssen spannen. Erfolgreiche Forschung auf dem Feld der Gendermedizin muss interdisziplinär sein, denn sie muss sowohl Mediziner als auch Natur- und Sozialwissenschaftler zusammenbringen.

Die Politik kann all dies befördern, indem sie die richtigen Akzente in der Gesundheitsforschungsförderung setzt. Ein Forschungsschwerpunkt im Rahmenprogramm Gesundheitsforschung ist deshalb die individualisierte Medizin, die Krankheitsaspekte erforscht, die für bestimmte Bevölkerungsgruppen spezifisch sind. Gendermedizin ist ein erster Schritt in Richtung einer individualisierten Medizin. Geschlechterspezifische Behandlung und zielgerichtete Arzneimittelgabe nutzen dem einzelnen Individuum und werden langfristig auch zur Effizienzsteigerung der Gesundheitsversorgung in unserer Gesellschaft beitragen.

Die Autorin ist Bundesministerin für Bildung und Forschung.

 Annette Schavan

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