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Memoiren: Die drei Leben der Marianne Awerbuch

Die Erinnerungen der Berliner Judaistin sind erschienen. 2004 wurde sie auf dem Friedhof in Weißensee bestattet.

Als sie unter Donner und Regen am 9. Juni 2004 bestattet wird, wirkt diese Entladung wie ein Gruß ihres unbequemen Temperaments, ihrer – pardon – großen Klappe, ihres blitzenden Intellekts. Ein Staatssekretär a.D., in dessen Familie die zurückgekehrte Emigrantin 30 Jahre hindurch Weihnachten gefeiert hatte, erwähnt ihre „Treue zu Berlin“. Marianne Awerbuch, die Judaistin der Freien Universität Berlin, sei von „bewundernswerter Liberalität“ gewesen, sagt er auf dem Friedhof in Weißensee. Sie habe „durch ihre Art in dieser Stadt zu leben vielen Berlinern etwas zurückgegeben von ihrem zerstörten Selbstwertgefühl“.

Der Freundschafts-Nachruf beschließt die nun erschienene Edition ihrer Memoiren (Erinnerungen aus einem streitbaren Leben, Hentrich & Hentrich). Das Zeugnis ihres Sohnes lassen die Herausgeber unübersetzt: um keine bruchlose Heimkehr zu simulieren. Seine Eltern, schreibt der 1942 in Palästina geborene Jonathan Awerbuch, hätten sich nie gefürchtet, gegen die Mehrheit störrisch-bescheiden „das Richtige“ zu tun. „Heroes“: trotz ihrer Schwächen „larger than life“. Ein bewegendes Bekenntnis. Überwiegend besteht das starke Buch jedoch aus den dreigeteilten, ironischen Erinnerungen seiner Mutter. Die Kämpferin reflektiert Menschheits-Dramen, Berlin-Geschichte: ihr 20. Jahrhundert.

Ihre Kindheit, die bürgerliche Kaufmannswelt am Holsteiner Ufer in Tiergarten, wird dominiert durch den tyrannisch-clownesken, bildungsversessenen Vater und eine schweigsam-schöne Mama. Marianne, Jahrgang 1917, das mittlere dreier Geschwister, hat einen „schlechten Charakter“. Als hässliches „Kind, das immer nein sagt“, formiert sie in arroganten Seligkeiten des Intellekts ihren Widerspruch gegen den anerzogenen Komplex, in der Musik ihr Pendant zur Rationalität.

Während nach 1933 der obrigkeitstreue Vater die Gefahr verdrängt, verlässt sie im Konflikt mit Nazilehrern das Lyzeum. Findet in Zionisten-Gruppen Solidaritäts-Aufgaben und ihren Max, den Ingenieur. „Dass man niemals das Richtige machen konnte, weil es in dieser umgestülpten Welt einfach das Richtige nicht mehr gab!“ habe sie in jenen Jahren erfahren. Vom letzten Abend bei den Eltern bleibt ihr das Bild des Flügels im leeren Musikzimmer: „ein einsames und nutzlos gewordenes Prunkstück“. Abschied am Anhalter Bahnhof, Januar 1939. Das junge Paar weiß: „Wir sind etwas Schrecklichem, Unvorstellbarem entronnen; wir werden unsere Eltern niemals wiedersehen.“

Als Reiseleiter für 100 Jugendliche nach Palästina gelangt, schlagen sich Marianne und Max dort bis zur Staatsgründung illegal durch. Die Intellektuelle arrangiert sich mit Kibbuzleben und physischer Ackerei. „Ich? Nach Deutschland? Niemals! Lieber verhungere ich hier“, antwortet sie dem Sohn, befragt zum Thema Rückkehr. 1943 waren ihre Eltern in Auschwitz ermordet worden. Sie ist nun längst in Israel eine erfolgreiche Pädagogin, erwirbt noch die Hochschulreife und studiert. 1966 erhält sie die Chance, an der Freien Universität zu promovieren: in mittelalterlicher Geschichte.

Der letzte Teil des Buches skizziert diesen dritten Start. Westberliner Kulissen und Gespenster. Studentenbewegung. Vor philosemitischen Abgründen kneift ihre Berliner Schnauze nicht. Statements, man finde grässlich, was „der Führer“ mit den Juden angestellt habe, werden knapp gekontert: „Sie auch?“.

Vera Bendt, später Pionierin des Berliner Jüdischen Museums, berichtet, wie ihre Professorin in den 80er-Jahren zu einem Termin verspätet, ganz verdreckt erschien. Da hatte sie sich in Weißensee durch den Dschungel über ihrem Familiengrab gekämpft, in dem die Eltern nicht begraben sind. Am Abend dieses schlimmen Tages erreicht sie aus Kanada die Nachricht von der Geburt ihrer ersten Enkelin. Dies ist ein Buch für alle, die es hassen aufzugeben. Thomas Lackmann

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