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Stoff für Träume. Die Mikroskopaufnahme zeigt Strontiummanganit mit winzigen Domänen, die nur etwa 100 Nanometer breit sind. Das sind Regionen im Kristall mit gleichen magnetischen Eigenschaften.

© Becher/ETH/Nature Nanotechnology

Multiferroika: Kristalle mit Multitalent

Spezielle Verbindungen aus Metallen und Sauerstoff zeigen verblüffende Eigenschaften. Sie könnten das Silizium in Computerchips ersetzen.

Kaum ein Laie hat das Wort je gehört, und nicht einmal jeder Physiker weiß, was „Multiferroika“ sind. Dabei haben sie das Potenzial, den nächsten großen Technologiesprung in der Datenverarbeitung einzuleiten: kristalline chemische Verbindungen aus Metallen und Sauerstoff, die sowohl auf magnetische als auch auf elektrische Felder reagieren. Diese Eigenschaften prädestinieren Multiferroika dafür, in Zukunft das Silizium in Computerchips zu ersetzen. Dann würden Computer und Datenträger noch viel kleiner und schneller sein – und obendrein weniger Strom verbrauchen.

In der Natur kommen solche Verbindungen kaum vor

Angesichts solcher Zukunftsaussichten ist es kein Wunder, dass sich Wissenschaftler inzwischen weltweit mit solchen Kristallen beschäftigen. So wie die britische Chemikerin und Geologin Nicola Spaldin, die seit 2010 als Professorin für Materialtheorie an der ETH Zürich forscht. Anhand von Computersimulationen hat sie die theoretischen Grundlagen für Multiferroika gelegt und der neuen Stoffklasse damit zum Durchbruch verholfen. Dafür wurde sie mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Körber-Preis für die Europäische Wissenschaft, der mit 750 000 Euro dotiert ist. „Elektronische Geräte enthalten heute meist zwei Arten von Materialien, magnetisches Material, das die Informationen speichert, und Halbleiter, welche die Informationen verarbeiten“, sagt Spaldin. „Unsere Vision ist es, ein Material zu schaffen, das beides kann.“

Die kristallinen Verbindungen bestehen in der Regel aus Sauerstoff und mindestens zwei Metallen wie Eisen oder Bismut. Solche Metalloxidkristalle kommen in der Natur kaum vor und müssen im Labor hergestellt werden. Das Besondere an ihnen ist, dass sie dauerhaft sowohl magnetische als auch elektrische Eigenschaften aufweisen.

2003 wurde das Material erstmals im Labor hergestellt

Multiferroika haben Physiker schon seit Längerem „elektrisiert“. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beschäftigten sich Wissenschaftler in der Sowjetunion mit diesem Phänomen. Mangels geeigneter Materialien kamen sie aber nicht weiter und ließen schließlich davon ab. Spaldins Interesse an dieser Stoffgruppe erwachte Ende der 1990er Jahre durch ein zufälliges Gespräch mit einem Kollegen in der Kaffeepause. Damals war sie Postdoc an der Universität Yale. Ein paar Monate später ging sie als Assistenzprofessorin an die Universität von Kalifornien in Santa Barbara. Dort wühlte sie sich erst einmal durch die Fachliteratur. „Enzyklopädien über magnetische Substanzen stapelten sich auf meinem kleinen Tisch im Büro“, berichtet sie, darunter das einzig existierende Buch über Ferroelektrika. Zwar gab es schon einige interessante Stoffe mit multiferroischen Eigenschaften. „Aber warum diese Substanzen so selten waren und wie man sie entwerfen und herstellen konnte, darüber wusste man so gut wie gar nichts.“

Spaldin beschloss, diesen Fragen auf den Grund zu gehen. Ihr gelang es, am Computer virtuelle Kristalle zu erstellen und deren Eigenschaften zu untersuchen. Im Jahr 2000 veröffentlichte sie einen aufsehenerregenden Fachartikel, in dem sie die Frage „Warum gibt es so wenige Multiferroika?“ theoretisch begründete. Als Nächstes begann sie, Multiferroika im Labor herzustellen, um zu überprüfen, ob die Vorhersagen korrekt waren. Der erste Durchbruch kam 2003, als sie und weitere Forscher erstmals dünne Filme aus Bismutferrit herstellten. Das war eine wissenschaftliche Sensation und löste einen wahren Boom auf diesem Gebiet aus. Heute ist es das meisterforschte Multiferroikum. Zahlreiche Wissenschaftler auf der ganzen Welt arbeiten derzeit mit solchen Stoffen, nicht nur an Universitäten, sondern auch in Industrielaboren.

Multiferroische Stoffe haben ein enormes Anwendungspotenzial für die Mikroelektronik. Mit Bismutferrit und anderen Kristallen dieser Art ließen sich Informationen dauerhaft abspeichern, sowohl in elektrischer als auch in magnetischer Form. Der Vorteil ist, dass sich die magnetischen Informationen durch elektrische Felder verändern lassen. Das öffnet den Weg für Miniaturmagnetspeicher, die superschnell sind und kaum Strom verbrauchen.

Grundlegende Erkenntnisse wurden auch in Berlin gemacht

Ein besonders vielversprechender Stoff ist Yttriummanganit. Manfred Fiebig, der heute ebenfalls an der ETH Zürich forscht, beschäftigte sich schon vor zehn Jahren damit, damals noch am Max-Born-Institut in Berlin-Adlershof. Er und seine Kollegen haben gezeigt, dass elektrische und magnetische Eigenschaften von Multiferroika räumlich zusammenhängen. Das war zwar lange vermutet worden, dank Fiebig und seinen Kollegen kann dies seither mithilfe von Laserlicht sichtbar gemacht werden.

Auch seine Experimente waren ein weiterer Fortschritt für die Entwicklung leistungsfähigerer und langlebiger Festplatten, Datenspeicher und Speicherchips. Allerdings funktionieren sie bisher nur bei extremer Kälte. Wissenschaftler wie Fiebig und Spaldin arbeiten deshalb an Materialien, die man im besten Fall bei Raumtemperatur beschreiben und auslesen kann. Sollte ihnen das gelingen, wäre es ein großer Fortschritt in der Datenverarbeitung. Spätestens dann dürften Multiferroika nicht nur Grundlagenforschern ein Begriff sein.

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