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Jeder will gehört werden. Biologen der Uni Freiburg haben 300 Mikrofonkästen in Deutschlands Naturräumen aufgehängt – unter anderem im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin. Ökologie der Klanglandschaft heißt der neue Forschungszweig.

© Patrick Pleul, picture-alliance / dpa/dpaweb

Ökologie der Klanglandschaft: Lauschangriff auf die Natur

In der Klanglandschaft hat jede Tierstimme ihre akustische Nische. Forscher belauschen sie mithilfe von rund 300 Mikrofonkästen. Die Aufnahmen aus den deutschen Wäldern und Wiesen sind die Grundlage für eine junge Disziplin.

Ein nasskalter Tag in einem Buchenwald der Schorfheide, nordöstlich von Berlin. Während des Regens war kaum ein Vogel zu hören, doch nun tröpfelt es nur noch von den Blättern und die Tiere beginnen, sich Nachrichten zuzurufen. „Man hört Buchfinken und irgendwo dahinten trällert ein Kleiber“, sagt der Umweltwissenschaftler Hannes Röske von der Universität Freiburg. Er und sein Kollege Andreas Ziebel laufen durch dichtes Gestrüpp zu einem mannshohen Maschendrahtzaun, der eine etwa zehn Quadratmeter große Fläche eingrenzt. Rund 40 Forschergruppen nutzen sie für Biodiversitätsstudien. Es werden Bodenproben genommen, Bäume vermessen oder zum Beispiel Laub gesammelt. Seit Sommer 2015 läuft hier außerdem ein Lauschangriff.

Mit Kabelbindern befestigt Röske eine weiße Metallbox am Zaun. Sie sieht aus wie ein Verbandskasten fürs Auto und enthält zwei Mikrofone. Das eine nimmt Geräusche am Tag auf, das andere nachts unter anderem die Ultraschallrufe der Fledermäuse.

Insgesamt 300 solcher Mikrofonkästen sind auf Wiesen und Wäldern im Einsatz: in der Schwäbischen Alb, im Nationalpark Hainich in Thüringen und im brandenburgischen Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin. Alle zehn Minuten nehmen sie eine Minute die Klangwelt der Umgebung auf, mehr als ein Jahr lang. „Noch nie haben Forscher über einen so langen Zeitraum so viele Ökosysteme gleichzeitig belauscht. Das Projekt ist weltweit einmalig“, sagt die Biologin Sandra Müller von der Universität Freiburg.

Wenn der Wind pfeift, müssen die Tiere ihn übertönen

Sie erforscht die Ökologie der Klanglandschaft. „Soundscape Ecology“ heißt die Disziplin auf Englisch. Mit ihr wollen Wissenschaftler untersuchen, wie die Geräusche einer Gegend die Artenvielfalt widerspiegeln und wie die Geräusche Tiere beeinflussen. Flüsse zum Beispiel erzeugen oft ein lautes Hintergrundrauschen, Vögel sind dann gezwungen, lauter zu pfeifen. Gleiches gilt bei windigem Wetter im Wald, wenn die Tiere das Rauschen der Bäume übertönen müssen. Andererseits können Straßenlärm oder laute Spaziergänger Tiere verjagen. Fehlen dann Räuber wie Füchse oder Marder, beeinflusst das den Bestand der Beutetiere. Eine solche Dynamik möchten Soundscape-Ökologen mithilfe von akustischen Aufnahmen erforschen.

Sandra Müller wird im Sommer 2016 die Mikrofonaufnahmen mit Computern auswerten. Die Software wird vor allem Frequenzen und Lautstärken analysieren. Eine Straße zum Beispiel liefert eher monotone Töne im tiefen Frequenzbereich. Tiere dagegen sind weniger eintönig. „Wir gehen davon aus, dass sie sich akustische Nischen suchen, um gehört zu werden“, sagt Röske. „Wenn also viele verschiedene Frequenzen zu unterschiedlichen Tageszeiten zu hören sind, lässt das auf eine hohe Artenvielfalt schließen.“ Insgesamt werden 120 Terabyte an Daten zusammenkommen, ein Mensch alleine bräuchte 30 Jahre, um sich alles anzuhören. „Die riesigen Speichermengen sind ein Grund, warum Soundscape Ecology erst seit einigen Jahren betrieben wird. Zuvor waren die technischen Möglichkeiten dafür einfach noch nicht ausreichend“, sagt Sandra Müller.

Einzelne Tierstimmen auszuwerten, hat Tradition

Von den neuen Speicher- und Rechenleistungen profitieren auch Bioakustiker, die einzelne Tierarten belauschen, um zum Beispiel den Bestand bedrohter Arten zu erfassen. Diesen Ansatz des akustischen Monitorings gibt es schon länger, doch weltweit kommt ihm immer größere Bedeutung zu. In Deutschland zum Beispiel leitet Karl-Heinz Frommolt vom Tierstimmenarchiv im Berliner Museum für Naturkunde die akustische Beobachtung von Vögeln am Kummerower See in Mecklenburg-Vorpommern.

An seinem Nordwestufer wird seit 2006 eine über 840 Hektar große Fläche renaturalisiert. Zuvor waren dort Wiesen für die Landwirtschaft, nun soll wieder ein Moor entstehen. Schon jetzt ist die Fläche nass und sumpfig, sodass Biologen dort kaum herumlaufen können. Es bietet sich daher an, akustische Aufnahmegeräte aufzustellen, um den Tierbestand vor Ort zu verfolgen. Frommolt und sein Team haben von 2008 bis 2011 am Kummerower See nachtaktive Vögel belauscht, die sich tags verstecken und nur schwer zu entdecken sind. Das menschliche Ohr kann sie oft nicht orten, sagt Frommolt: „Die Rohrdommel zum Beispiel hat einen sehr tiefen, monotonen Klang. Man erkennt kaum, aus welcher Richtung er kommt“, sagt er. „Wenn nur ein Tier ruft, hört es sich an, als seien es mehrere. Anhand unserer Aufnahmen können wir besser erkennen, wie viele tatsächlich unterwegs sind.“

Nicht alle Arten erkennt der Computer zuverlässig

Andererseits hat auch das akustische Monitoring seine Tücken. Eine Aufnahmestation überwacht zum Beispiel die Brutzeit der Vögel. „Wir wissen, dass es dort Löffelenten gibt, aber unsere Mikrofone haben sie nicht aufgenommen, weil diese Tierart kaum Geräusche von sich gibt“, erzählt Frommolt. Er sieht das akustische Monitoring als wichtige Möglichkeit, um die klassischen Methoden der Bestandskontrolle zu ergänzen. Das Potenzial sei bisher nicht ausgeschöpft, denn noch gibt es für längst nicht alle Tierarten geeignete Mustererkennungsalgorithmen. Damit werten Computer die Aufnahmen aus, um einzelne Tierarten zu bestimmen. Informatiker leisteten zurzeit weltweit viel Forschungsarbeit, sagt der Bioakustiker.

Die Ökologen der Klanglandschaft können an diese Arbeit anknüpfen. Allerdings soll ihre Disziplin mehr erreichen. Nicht nur einzelne Arten soll die Soundscape Ecology detektieren, sondern das Zusammenwirken der Arten – gerade vor dem Hintergrund von Geräuschen, die Landschaft und Menschen hervorbringen. Noch steht die Ökologie der Klanglandschaft ganz am Anfang. Die Freiburger Wissenschaftler um Sandra Müller haben daher die 300 Mikrofonkästen in Ökosystemen aufgehängt, deren Artenvielfalt bereits gut bekannt ist. Das sei wichtig, denn man müsse den Forschungsansatz zunächst prüfen. „Wir wollen untersuchen, ob wir aus den Aufnahmen die bekannte Artenvielfalt mit dem Computer richtig errechnen können“, sagt Sandra Müller.

Wie beeinflusst ein Flughafen die Artenvielfalt?

Erst wenn die Algorithmen gefunden wurden, um die Klangwelt einer Landschaft zu analysieren, könne die Soundscape Ecology weniger bekannte Naturräume erforschen und zuverlässige Ergebnisse liefern. Wenn in Berlin zum Beispiel eines Tages doch ein neuer Flughafen in Betrieb geht, könnten die Biologen über Klangaufnahmen prüfen, ob und wie der neue Flugverkehr die Artenvielfalt des Landes beeinflusst. „Genauso könnte man wahrscheinlich eines Tages via Klangaufnahmen analysieren, welche Auswirkung der Klimawandel auf bestimmte Naturräume hat“, sagt Sandra Müller. Um solche Prozesse zu erforschen, brauche man aber Aufnahmen über lange Zeiträume. Der erste Schritt in diese Richtung ist getan.

Julia Beißwenger

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