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Festhalten. In Deutschland leben rund 50 000 Heranwachsende mit schweren Krankheiten. Es fehle an geeigneten Einrichtungen, sagt ein Kinderpalliativmediziner.

© Imago

Sterbehilfe für Jugendliche: Umstrittener letzter Wunsch

In Belgien wurde erstmals einem minderjährigen Patienten Sterbehilfe gewährt - legal. Das provoziert heftigen Widerspruch, doch es gibt auch Befürworter.

Wenn das körperliche Leiden zur Qual wird und keine Aussicht auf Besserung besteht, sollte jeder für sich entscheiden können, ob er oder sie sein Leben beendet – auch mit Hilfe einer dritten Person. Dieses Argument erhält viel Zustimmung. Lediglich zwölf Prozent der Deutschen spricht sich Umfragen zufolge strikt gegen jegliche Form der Sterbehilfe aus. Aber gilt der Satz auch für Minderjährige?

Diese Frage wirft ein Fall aus Belgien auf. Am Wochenende wurde bekannt, dass erstmals eine minderjährige Person (das Geschlecht ist nicht bekannt) auf legalem Weg mit ärztlicher Unterstützung gestorben ist. Entgegen ersten Meldungen, wonach „ein todkrankes Kind“ Sterbehilfe erhalten habe, ist mittlerweile klar, dass es sich um eine 17-Jährige handelt. „Fast 18“, zitiert die BBC den Leiter der zuständigen nationalen Sterbehilfekommission, Wim Distelmans. Der oder die Jugendliche habe „unter unerträglichen körperlichen Schmerzen gelitten“. Laut „Medical Daily“ hat er eine seltene Erbrankheit gehabt.

Aktive Sterbehilfe ist in Belgien erlaubt

Die Sterbehilfe wurde durch den zuständigen Arzt in der vergangenen Woche fristgerecht bei der nationalen Kommission angezeigt, erklärte Distelmans. Was genau geschah, ist weitgehend unbekannt. Während die Nachrichtenagentur Reuters von einem „ärztlich assistierten Suizid“ berichtet, verwenden etliche andere Medien lediglich den Oberbegriff „Sterbehilfe“ mit der nachgeschobenen Erklärung, dass dazu auch das Verabreichen von hoch dosierten Medikamenten zählt, die zum Tode führen.

In Belgien ist seit 2002 beides erlaubt – der assistierte Suizid, bei dem entsprechende Medikamente bereitgestellt und vom Patienten selbst eingenommen werden, wie auch die aktive Sterbehilfe, bei der eine weitere Person die tödliche Dosis verabreicht. „Tötung auf Verlangen“ wird dies mitunter genannt.

Seit 2014 ist Sterbehilfe auch bei Minderjährigen möglich. Voraussetzung ist, dass sie an einer tödlichen Krankheit und unerträglichen Schmerzen leiden. Sie müssen in der Lage sein, selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen, wiederholt den Sterbewunsch äußern, dem auch die Eltern zustimmen müssen. Zudem haben mehrere Gutachter den Fall zu prüfen. Im Vorfeld der Gesetzesnovelle hatte eine Meinungsumfrage in Belgien ergeben, dass 75 Prozent der Bevölkerung dieses Gesetz unterstützen.

Kritik von Kirchenvertretern und Palliativmedizinern

Nun wurde es zum ersten Mal offiziell angewandt. Die Reaktionen sind kaum überraschend. Kirchenvertreter zeigen sich entsetzt. Der Deutsche Hospiz- und Palliativverband verurteilt den Fall als „Skandal“: „Kinder und Jugendliche brauchen besonderen Schutz, auch und gerade wenn sie schwer krank sind. Ihre Tötung kann niemals eine Lösung sein“, erklärte Verbandsgeschäftsführer Benno Bolze in einer Mitteilung.

Distelmans verteidigt das Geschehene: „Glücklicherweise gibt es nur sehr wenige Minderjährige, die dafür infrage kommen. Aber das bedeutet nicht, dass wir ihnen das Recht auf einen würdevollen Tod verwehren können“, sagte er der Tageszeitung „Het Nieuwsblad“.

Außer in Belgien ist Sterbehilfe bei Minderjährigen nur noch in den Niederlanden erlaubt. Dort liegt die Altersgrenze bei zwölf Jahren, von 16 Jahren an ist dort keine Zustimmung der Eltern erforderlich. In Deutschland ist aktive Sterbehilfe, also Töten auf Verlangen, strafbar; der assistierte Suizid jedoch nicht. Seit November 2015 ist allerdings gesetzlich geregelt, dass die Hilfe bei der Selbsttötung (etwa durch das Beschaffen eines Medikaments) nicht „geschäftsmäßig“ erfolgen darf. Juristisch ist klar, dass sich diese Bestimmungen auf zustimmungsfähige Erwachsene im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte beziehen. Auch Patientenverfügungen sind erst mit der Volljährigkeit gültig.

Auch Kinder und Jugendliche müssen erfahren, wenn sie unheilbar krank sind

Im entwicklungspsychologischen Sinn wird jedoch keiner von heute auf morgen erwachsen. Heranwachsende müssen deshalb in medizinische Entscheidungen in einer Form einbezogen werden, die ihr Alter und ihre Verstandesreife berücksichtigt. Das heißt aber auch: Heranwachsende müssen darüber aufgeklärt werden, dass sie unter einer unheilbaren Krankheit leiden. „Der Versuch, sie vor einer schlimmen Diagnose zu schützen, schlägt eigentlich immer fehl“, sagt Sven Gottschling vom Zentrum für Palliativmedizin und Kinderschmerztherapie am Uniklinikum des Saarlands und Autor des Buches „Leben bis zuletzt“.

Wenn Kinder palliativmedizinische Betreuung brauchen, so liegt das, im Vergleich zu den Erwachsenen, seltener an einer unheilbaren Krebserkrankung. Viele leiden an schweren, nicht operierbaren Herzfehlern, an Mukoviszidose, an Muskelschwund oder schweren Behinderungen, oft infolge einer Frühgeburt. „Es ist eine sehr heterogene Gruppe, und meist sind die Eltern längst Experten für die Erkrankung“, berichtet Gottschling.

Konzepte vom Tod, vom Sterben und vor allem von der eigenen Sterblichkeit bilden sich bei Kindern im Lauf der Jahre erst langsam aus. „Ich habe noch nie ein Kind erlebt, das geäußert hätte, dass es sterben möchte“, betont Gottschling. Bei Jugendlichen sei das anders. Zwar klammerten sie sich in aller Regel mehr ans Leben, doch sie sagen auch öfters, dass sie nicht mehr könnten. Darauf gebe es allerdings bessere Antworten als die Tötung auf Verlangen oder auch die Hilfe bei der Selbsttötung, sagt der Mediziner.

Schlechte Palliativversorgung von Heranwachsenden

Rund 50 000 Heranwachsende mit schweren Krankheiten, die ihr Leben eng begrenzen, leben derzeit in Deutschland. Sie brauchen Helfer, die sich auf ihre individuelle Entwicklungsstufe einlassen können. Doch es gebe nur verschwindend wenige spezialisierte Kinderpalliativstationen und Kinderhospize, beklagt Gottschling. Auch Heranwachsende haben im Bedarfsfall Anspruch auf Spezialisierte Ambulante Palliativmedizinische Versorgung (SAPV), die ihnen ein Leben zu Hause ermöglicht. In der Praxis klappt es damit allerdings deutlich schlechter als bei den Erwachsenen. „England ist uns hier um Längen voraus“, sagt der Kinderpalliativmediziner.

Aufklären, Angst, Schmerzen und Atemnot lindern – die großen Aufgaben der Palliativmedizin stellen sich ebenso bei der Begleitung von sterbenskranken Kindern und Jugendlichen. Selbst auf ausweglos erscheinende Situationen gebe es andere Antworten als das Töten, betont Gottschling. „Auch bei Heranwachsenden haben wir immer noch die Möglichkeit der palliativen Sedierung. Mit Medikamenten, etwa mit Beruhigungsmitteln und Opiaten, können wir unsere Patienten kontrolliert abschirmen, also in eine Art künstliches Koma versetzen.“ Bis es vorbei ist.

Einen Kommentar von Claudia Keller zu diesem Thema finden Sie hier.

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