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Geschleudert und geschreddert. Da der Fisch keinen Cortex hat, wird er als reine „Reflexmaschine“ betrachtet. Zu Unrecht, sagt der Philosoph Markus Wild.

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Tierphilosophie: Das Leid der Fische

Der Philosoph Markus Wild erklärt, warum Fische ähnlich wie Säugetiere Schmerzen empfinden und fordert das Ende grausamer Fangmethoden.

Herr Wild, Sie haben gerade für die schweizerische Ethikkommission ein Gutachten zum Thema Bewusstsein und Schmerzempfinden bei Fischen erstellt. Parallel zu Ihnen hat auch ein Biologe an dem Thema gearbeitet. Das versteht man. Aber was weiß ein Philosoph über Fische?

Es geht in dem Gutachten nicht um Fische als Ganzes, sondern um ihre kognitiven Fähigkeiten und ihr mögliches Schmerzempfinden. Ab wann können wir einem Wesen, das sehr weit von uns entfernt ist, so etwas wie eine Absicht zuschreiben? Unter welchen Bedingungen können wir den Begriff Schmerz verwenden, und wie können wir erkennen, dass ein Wesen Schmerz hat? Das sind genuin philosophische Fragen. Oft verwenden auch die Biologen in ihrer Diskussion Argumente, die streng genommen gar nicht biologisch sind. Da heißt es zum Beispiel, Schmerz sei immer subjektiv, deshalb könnte man nichts über Schmerz von anderen wissen. Bei der Verwendung dieser Begriffe braucht es gewissermaßen eine philosophische Aufräumarbeit.

MARKUS WILD (41) ist Professor an der Universität Fribourg/Schweiz mit den Arbeitsschwerpunkten Philosophie des Geistes und Tierphilosophie.
MARKUS WILD (41) ist Professor an der Universität Fribourg/Schweiz mit den Arbeitsschwerpunkten Philosophie des Geistes und Tierphilosophie.

© promo

Bislang sah man Fische eher als reine Reflexmaschinen. Sie propagieren aber ein „neues Bild vom Fisch“. Wie sieht das aus?

Nach der alten Auffassung ist der Fisch ein kleiner Automat. Wenn der zur Welt kommt, dann ist er schon mit allem ausgestattet, was er zum Überleben braucht. Das ist das alte Bild vom Fisch, zu dem auch die Vorstellung gehört, Fische hätten nur ein Drei-Sekunden-Gedächtnis und würden sofort alles wieder vergessen. Aber im Laufe der letzten 20 Jahre hat man immer mehr erkannt, dass Fische enorm lernfähig sind, dass sie Gedächtnisleistungen über viele Stunden, Tage und Wochen haben, dass sie nicht nur individuell, sondern auch sozial lernen können. Intelligenz ist ja nicht nur auf die physische, sondern auch auf die soziale Umwelt bezogen. Und da sind Fische erstaunlich gut. Sie jagen in Kooperationen und teilen darin ihre Rollen. Das setzt voraus, dass sie ein bisschen über das Bescheid wissen, was sie tun.

Das betrifft aber nur die Kognition, also die „Denkfähigkeit“ der Fische. Wie ist es mit den Schmerzen?

Erst seit etwa zehn Jahren kann man nachweisen, dass Fische überhaupt in der Lage sind, schädigende – oder wie man sagt: noxische – Reize aufzunehmen und diese Reize im Hirn zu verarbeiten. Sie haben also die physiologische Voraussetzung, um so etwas wie Schmerzen zu empfinden. Das war zuvor gar nicht klar, und zwar einfach deshalb, weil es niemanden wirklich interessierte. Es ist ein ethischer Aspekt, der jetzt auch die Forschung vorantreibt.

Es kursiert aber noch immer das berühmte Argument: „no brain, no pain“ („kein Gehirn, keine Schmerzen“). Demnach können Fische keine Schmerzen wahrnehmen, weil sie gar nicht über einen Cortex verfügen.

Dieses Argument hat sich wirklich in Windeseile verbreitet, und es besticht, weil es so einfach ist. Aber man kann es auch mit einem einfachen Beispiel entkräften: Das Sehen geschieht bei uns Menschen mithilfe des Neocortex, genauer mithilfe der Sehrinde. Man könnte also behaupten, dass wir sehen, weil wir eine Sehrinde haben. Vögel haben diese nicht, kein Adler, kein Falke hat diese Hirnregionen. Folgt daraus, dass die blind sind? Offenbar nicht. Sie haben etwas anderes, das diese Leistung übernimmt, man nennt das bei ihnen „Wulst“. Sobald man das einmal verstanden hat, sieht man auch den Fehler des „no brain, no pain“-Arguments.

Wie kann man erkennen, dass Fische Schmerzen erleiden können?

Da ist zum Beispiel die Art, wie Fische reagieren. Bei Schmerz vermeiden wir es zum Beispiel, die verletzte Stelle zu berühren, oder wir kümmern uns um sie. Die Katze leckt eine Wunde. Fische, denen man Essigsäure in die Lippen spritzt, fangen an, die Lippen am Boden zu reiben. Das ist keine rein „nozizeptive“, also reflexhafte Reaktion, das ganze Verhalten der Fische ändert sich, es sieht so aus, als seien sie ganz auf diesen Zustand fokussiert. Das ist ähnlich wie bei uns, wenn wir Schmerzen haben. Die Fische können aufgrund von Erfahrungen lernen und sie können unterschiedlich, je nach Gefahrensituation auf die Verletzung reagieren. Diese Distanz zwischen Reflex und flexibler Reaktion ist ein wichtiger Schritt hin zu einer bewussten Empfindung.

Wie sähe denn ein solches „Fischbewusstsein“ aus? Es ist ja wohl kein wirkliches Selbstbewusstsein.

Ich würde bei Fischen von einem „phänomenalen Bewusstsein“ sprechen. Es ist durch Empfinden, Spüren, Anfühlen gekennzeichnet, wie etwa Hunger fühlen, etwas riechen, müde sein. Es ist einleuchtend, dass man keine hohe Art von Selbstbewusstsein haben muss, um etwas zu spüren. Je mehr wir bereit sind zuzugestehen, dass Fische lernfähig sind, desto mehr müssen wir auch ihnen ein bewusstes Erleben der Umwelt attestieren. Der Fisch ist ein kognitiv relativ anspruchsvolles Wesen, und es wäre verwunderlich, wenn seine Schmerzen sozusagen ganz unbewusst abliefen. Es wäre ja auch merkwürdig zu sagen: Das Wesen hat Schmerzen, spürt aber nichts. Da wäre der Begriff falsch verwendet.

Können wir also mit den Fischen fühlen?

Das ist damit nicht gesagt. Der erwähnte Analogieschluss führt streng genommen nur zu der Behauptung, dass es eine Schmerzempfindung des Fisches gibt, nicht aber zu Aussagen darüber, wie sie sich anfühlt. Die Tierschutzorganisation Peta hat einmal ein Plakat herausgegeben, auf dem ein Fisch an der Angel zu sehen ist und daneben ein Mann mit einem Angelhaken in der Wange: „Wie würde Ihnen das gefallen?“, steht darunter. Das Plakat erzielt zwar eine Wirkung, aber die direkte Übertragung unserer Schmerzempfindung auf andere Lebewesen verdeckt auch etwas. Denn es geht ja nicht darum, ob sich der Schmerz für den Fisch gleich anfühlt wie für uns. Der Fischschmerz ist vermutlich sehr anders, aber das heißt eben noch lange nicht, dass er nicht wehtut. Es ist sehr wichtig, dass man das nicht verwechselt.

Welche Konsequenzen hätte es, wenn wir Fischen Schmerzen zuschreiben?

Interessant ist, dass wir bei beiden Gutachten – dem biologischen und philosophischen – im Resultat konvergieren. Wir glauben, dass es angemessen ist zu sagen, dass Fische Schmerzen empfinden. Ich hoffe, dass das Gutachten Auswirkungen auf die Tierschutz-Gesetzgebung für den kommerziellen Umgang mit Fischen haben wird, aber auch auf die Privatfischerei und auf das Konsumentenverhalten. Kommerziell träfe es vor allem die Hochsee-Wildfängerei und das Aquafarming. Wenn Fische Schmerzen empfinden, ist es eine Quälerei, sie ersticken zu lassen, wie es beim Hochseefang passiert. Ganz abgesehen davon, dass sich hier auch noch massenweise Fische in Netzen verhängen oder bei lebendigem Leib geschreddert und zerrissen werden. Beim Aquafarming müsste man genauer bestimmen, welche Betäubungsmethoden vor der Schlachtung zulässig sind – beim Schleudern oder Einfrieren sind die Tiere sicher nicht komplett bewusstlos. Außerdem wäre bei der Massentierhaltung zu überlegen, wie viele Fische man auf wie viel Raum halten sollte.

Und das private Glück des Anglers wäre auch davon betroffen?

Einige Techniken, wie das „catch and release“ („Fangen und wieder aussetzen“), sind in der Schweiz schon verboten, in anderen Ländern aber nicht. Weil es wenige Fische gibt oder weil man nicht alle gefangenen Fische verwerten möchte, fängt man sie und schmeißt sie hinterher wieder ins Wasser. Wenn das dem Fisch wehtut, finde ich das unverantwortlich. Auch dass man Forellen hobbymäßig aussetzt, damit man sie dann angeln kann – eine kleine Ausgabe des römischen Circus Maximus sozusagen – ist einfach ein unprofessioneller Umgang mit einem Wesen, das Schmerzen empfindet. Es könnte auch Beschränkungen für Gewicht und Größe der erlaubterweise zu angelnden Fische geben.

Was davon betrifft die Konsumenten?

Ich beobachte, dass viele Menschen zwar vorsichtig mit Fleisch sind, es aber für unbedenklich halten, Fisch zu essen. Wenn die erkennen, dass der Fisch gar nicht so verschieden von den Säugetieren ist, dass es etwas gibt, das ihn freut und das er scheut, dann wird sich vermutlich auch ihre Einstellung ändern. Es könnte dazu führen, dass man beispielsweise entscheidet, keine Fische aus Hochsee-Wildfängerei zu essen oder überhaupt mehr auf Fischprodukte verzichtet.

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