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Musterbeispiel. Auf der Suche nach Ordnung im Primzahl-Chaos nutzen Forscher auch grafische Darstellungen.

© Andreas Loos

Wissen: Unkraut im Zahlengarten

Primzahlen sind die Atome der Mathematik – und gelten zugleich als unberechenbar und widerspenstig. Mathematiker opfern Jahre, um Ordnung ins Chaos zu bringen.

Am 31. Oktober 1903 fand einer der seltsamsten Vorträge in der Geschichte der Mathematik statt – ein Vortrag ohne Worte, der kaum fünf Minuten dauerte. Etwa 50 Mitglieder der American Mathematical Society in New York City hatten erst Vereinsangelegenheiten abgearbeitet, um anschließend zehn Vorträgen über neueste Forschungsergebnisse zu lauschen. Für Vortrag Nummer 4 trat der Zahlentheoretiker Frank Nelson Cole an die Tafel und schrieb kommentarlos: 2 hoch 67 - 1 = 147 573 952 589 676 412 927. Daneben multiplizierte er schriftlich: 761 838 257 287 × 193 707 721. Ergebnis: auch 147 573 952 589 676 412 927. Er wischte sich die Kreide von den Händen ab und setzte sich unter dem Beifall seiner Kollegen.

Diese fünf Minuten machten Cole berühmt. Er hatte gezeigt, dass sich 2 hoch 67 - 1 in zwei Faktoren zerlegen lässt, die nicht 1 und die Zahl selbst sind. Daher kann 2 hoch 67 - 1 keine Primzahl sein: Solche Zahlen sind nämlich ohne Rest nur durch sich selbst und 1 teilbar. Obwohl damals schon bekannt war, dass 2 hoch 67 - 1 gar nicht prim sein konnte – das hatte man mit mathematischen Tricks herausbekommen, ohne die Primfaktoren zu bestimmen –, hatte Cole für die Suche nach den Primfaktoren die „Sonntage von drei Jahren“ geopfert, wie er später verriet.

Zahlenreihe. Die Grafik zeigt die Mitte der Ulam-Spirale. Primzahlen sind grün markiert.
Zahlenreihe. Die Grafik zeigt die Mitte der Ulam-Spirale. Primzahlen sind grün markiert.

© TSP/Gitta Pieper-Meyer

Cole ist keine Ausnahme. Primzahlen faszinieren die Menschen seit Tausenden von Jahren. Sie scheinen in der Natur eine besondere Stellung einzunehmen und bilden heute etwa die Grundlage für sichere Verschlüsselungsmethoden. Doch für Mathematiker sind sie vor allem eine Herausforderung: „Primzahlen gehören zu den willkürlichsten, widerspenstigsten Objekten, die der Mathematiker überhaupt studiert“, sagt etwa der Bonner Zahlentheoretiker Don Zagier. „Sie wachsen wie Unkraut unter den natürlichen Zahlen, scheinbar keinem anderen Gesetz als dem Zufall unterworfen, und kein Mensch kann voraussagen, wo wieder eine sprießen wird, noch einer Zahl ansehen, ob sie prim ist oder nicht.“ Auch sein Berliner Kollege Jürg Kramer ist verlockt von der Ordnung im scheinbaren Durcheinander: „Es ist faszinierend, dass die Primzahlen auf den ersten Blick völlig irregulär aufzutreten scheinen, auf den zweiten aber sehr strengen Gesetzen gehorchen. Man ist in der Mathematik ja gewohnt, dass alles nach strengen Regeln vor sich geht. Die Gesetze der Primzahlen zu verstehen, das macht ihren Reiz aus.“

Und Primzahlen sind immer für eine Überraschung gut. Größen der Zahlentheorie haben sich an ihnen schon die Zähne ausgebissen. Zugleich haben Mathematiker aus der zweiten Reihe mit Hinweisen auf ein wenig Ordnung im Zahlenchaos von sich reden gemacht. Und vor vor zwei Wochen versetzte ein beispielloser Doppelschlag die Welt der Mathematik in Aufregung.

In den USA stellte Yitang Zhang, Mathematikdozent an der Universität von New Hampshire, einer verblüfften Fachwelt einen spektakulären Beweis vor. Dabei geht es um Primzahl-Zwillinge, also Primzahlen, deren Abstand nur 2 beträgt, wie etwa 11 und 13.

Es gibt unenedlich viele Primzahlen, das ist lange bewiesen. Doch je größer die Zahlen, umso seltener scheinen Primzahlen zu werden. So finden sich 25 Primzahlen zwischen 1 und 100, 16 zwischen 1001 und 1101 und nur 8 zwischen 10001 und 10101. Mathematiker glauben dennoch, dass es eine unendliche Zahl Primzahl-Zwillinge geben könnte.

Das hat Zhang zwar nicht zeigen können. Aber ihm ist es offenbar gelungen zu beweisen, dass es unendlich viele Paare von Primzahlen gibt, die nicht weiter als 70 Millionen auseinander liegen. Das sind zwar nicht gerade Zwillinge und 70 Millionen mag nach einem riesigen Abstand klingen. Doch entscheidend sei, dass es überhaupt so eine Zahl gebe, sagen Mathematiker. „Das ist einfach außerordentlich. Ich hätte nie geglaubt, das zu erleben“, jubelt der kanadische Zahlentheoretiker Andrew Granville im Fachblatt „Science“.

Die Leistung ist umso erstaunlicher als Zhang über 50 Jahre alt ist und als Außenseiter in der mathematischen Community gilt. In den vergangenen Jahren hatte er wenige wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht. In Blogs und Zeitungen wird gemunkelt, er habe jahrelang als Bedienung in Restaurants gearbeitet, während er im Stillen an seinem Beweis werkelte.

Am selben Tag, an dem Zhang seine Arbeit in einem Vortrag an der Harvard-Universität vorstellte, legte Harald Andrés Helfgott, ein Zahlentheoretiker an der Pariser École Normale Supérieure, seinen Vorschlag für ein anderes Jahrhundertproblem vor: die schwache Goldbach-Vermutung.

Christian Goldbach, Jurist, Professor für Mathematik und Geschichte, Beamter im russischen Außenminsterium und Prinzenerzieher, hatte in einem Briefwechsel mit seinem Freund, dem Mathematiker Leonard Euler, im Jahre 1742 über Summen von Primzahlen spekuliert. Seine Vermutung: Man könne eine ungerade Zahl stets als Summe von drei Primzahlen darstellen – zum Beispiel 13=5+5+3. Diese Behauptung hat Helfgott nun anscheinend bewiesen: Am 13. Mai 2013 hat der gebürtige Peruaner den Hauptteil seiner Arbeit im Internet veröffentlicht; Teil eins war bereits im Mai 2012 erschienen und der dritte Teil, den er einen Tag später publizierte, dokumentiert die umfangreichen Computerrechnungen, die zu dem Beweis gehören.

Wenn die Beweise stimmen – und alles sieht danach aus –, dann liefern Zhangs und Helfgotts Arbeiten neue Mosaiksteinchen im großen Bild von der Ordnung im Durcheinander der Zahlen.

Schon Euklid widmete den Primzahlen große Teile seines Buches „Elemente“ (siehe Kasten) – vermutlich, weil schon er verstanden hatte, dass Primzahlen die Atome der Mathematik sind. Jede natürliche Zahl lässt sich als das Ergebnis einer Multiplikation von Primzahlen darstellen, den Primfaktoren, also zum Beispiel: 15=3 x 5 oder 100=2 x 2 x 5 x 5. Aus Primzahlen kann man also Zahlen aufbauen. „Das klingt einfach, hat aber ungeheuer weit reichende Konsequenzen, die zu tiefgründigen Erkenntnissen in der Mathematik führen“, sagt der Berliner Mathematiker Jürg Kramer.

Denken wir uns zum Beispiel zwei Zahnräder, die ineinander verzahnt sind, und auf denen jeweils ein Zahn markiert ist. Wenn beim Start die beiden markierten Zähne einander gegenüberstehen – wie lange dauert es, bis das wieder geschieht? Nehmen wir mal an, das eine Zahnrad habe 10 und das andere 15 Zähne. Dann muss sich das große Zahnrad zweimal drehen und das kleine dreimal. Hat das kleine aber 11 statt 10 Zähne, dann braucht das kleine Rad plötzlich 15 Umdrehungen und das große Rad 11 Umdrehungen. Der Grund liegt darin, dass 11 und 15 keine Primfaktoren gemeinsam haben – 15 lässt sich durch 5 und 3 teilen. Aber 11 ist eine Primzahl, also nur durch 1 und 11 teilbar.

Auf den ersten Blick sieht das nach einer Aufgabe für Schulkinder aus – doch offenbar hat auch die Natur dieses Prinzip entdeckt. Im Jahr 2000 veröffentlichten der Physiker Mario Markus, der Informatiker Eric Goles und der Biologe Oliver Schulz eine Reihe von Arbeiten über Zikaden der Gattung Magicicada, die nur alle 7, 13 oder 17 Jahre schlüpfen und dann für kurze Zeit Beute für potenzielle Jäger sind; die übrige Zeit verbringen sie vergraben im Erdboden. Es scheint kein Zufall zu sein, dass 7, 13 und 17 Primzahlen sind – Jäger mit anderen Lebenszyklen müssen so nämlich viel länger warten, bis ihr Lebenszyklus wieder mal mit einem Magicicada-Jahr zusammenfällt. Bis heute haben die Biologen die Magicicada-Jäger mit kürzerem Lebenszyklus nicht ausfindig machen können; vielleicht sind sie im Laufe der Evolution verhungert.

Auch in der Technik spielen Primzahlen heute eine wichtige Rolle. Egal, ob man mp3s erzeugt und abspielt oder über verschlüsselte Verbindungen im Internet surft, stets sind Primzahlen beteiligt. Besucht man im Internet „sichere Webseiten“ – erkennbar am Adressvorspann „https“ –, dann werden zwischen Server und Computer Zahlen ausgetauscht. Man erhält von der Gegenseite ganz öffentlich das Produkt zweier sehr großer Primzahlen, um damit Daten so zu verschlüsseln, dass sie nur dann wieder ausgepackt werden können, wenn man die beiden Primfaktoren kennt. Die beiden Primfaktoren werden aber von der Gegenstelle geheim gehalten – auf diese Art kann nur sie das Geheimnis lesen.

Die Sicherheit der Methode beruht darauf, dass man bis heute keine wirklich schnellen Wege kennt, um Zahlen in Primfaktoren zu zerlegen. Genau aus diesem Grund braucht der Computer immer noch viel länger, Primfaktoren zu berechnen, als festzustellen, ob eine Zahl überhaupt prim ist. Doch das wird sich vielleicht ändern. Auch die sehr schnellen Tests, ob eine Zahl eine Primzahl ist, wurden erst vor wenigen Jahren entwickelt. Und so arbeiten Experten bereits an neuen Verschlüsselungsmethoden, für den Fall, dass Primfaktoren bald nicht mehr sicher sind.

„Dass in letzter Zeit so viele Probleme gelöst werden, liegt zum einen an der enorm gewachsenen Zahl an Publikationen und Wissenschaftlern. Zum anderen sind deren Ergebnisse mit dem Internet heute sehr schnell verfügbar“, sagt Kramer. Tatsächlich sind Mathematiker, oft als heimlichtuerisch und kommunikationsfeindlich verschrieen, Vorreiter, was den offenen Zugang zu den Arbeiten angeht: „Es ist Sitte, aktuelle Forschungsergebnisse im Internet verfügbar zu machen und zur Diskussion zu stellen, auf Universitätswebseiten oder offenen Servern“, sagt Kramer. Heute hätte wohl auch Frank Nelson Cole sein Ergebnis online verbreitet. Es wäre eine kurze Mitteilung gewesen.

Der Autor ist Mathematiker an der Freien Universität Berlin.

Andreas Loos

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