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Wahrheitssuche: Das Ende der Objektivität

Wie kann Wissenschaft die Wahrheit finden? Objektivität erfordert Opfer von den Forschern. Was Atlantenbilder aus drei Jahrhunderten über Erkenntnisprozesse aussagen.

Man kann den Aufwand kaum hoch genug einschätzen, den der schwedische Naturforscher Carl von Linné im 18. Jahrhundert betrieb, um die Pflanzen im Garten des Amsterdamer Bankiers George Clifford abzubilden. Er beauftragte einen Illustrator, der die Gewächse skizzierte, bis auch noch der kleinste Strich so saß, wie Linné sich das vorstellte. Dann wurden die Zeichnungen von einem niederländischen Künstler in Kupfer gestochen. Linné überwachte jeden Schritt der Bildherstellung persönlich. Das Ergebnis war ein Pflanzenatlas, der Hortus Cliffortianus aus dem Jahr 1737, der bis heute Maßstäbe in der Botanik setzt.

Seit über zehn Jahren studieren Lorraine Daston, Direktorin am Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, und Peter Galison, Professor für Wissenschaftsgeschichte und Physik an der Universität Harvard, astronomische und anatomische Werke, Landkarten des Himmels und des menschlichen Körpers – enzyklopädische Werke, die ihre Gegenstände mit der schon Linné eigenen Akribie darstellen. Aber wie genau sind sie wirklich – wie wahr ist das, was sie zeigen? Daston und Galison wollten es genau wissen und haben aus ihren Beobachtungen ein Buch über „Objektivität“ gemacht.

„Atlanten haben die Funktion, zu standardisieren“, erklärt Lorraine Daston. In den Bildern der Atlanten kristallisieren sich die wissenschaftlichen Werte, Ziele und Ideale der jeweiligen Zeit. Objektivität aber scheint im Zentrum aller seriösen wissenschaftlichen Forschung zu stehen. „Man kann sich keine Wissenschaft ohne Objektivität vorstellen“, sagt Daston. Das geht so weit, dass wir heute „objektiv“ und „wissenschaftlich“ oft gleichbedeutend verwenden. Doch genau diese Annahme fordern die beiden Wissenschaftshistoriker Daston und Galison heraus: „Objektivität ist etwas, das keine Geschichte haben soll“, erklärt Daston, „aber wir wollen zeigen, dass Objektivität in den Wissenschaften relativ neu ist.“ Um ihre These plastisch zu machen, haben sie sich den wissenschaftlichen Bildern zugewandt. „Wir haben gesehen, wie sich die Bilder im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts geändert haben“, sagt Daston.

Als Linné seinen Pflanzenatlas herausgab, wollte er in den Abbildungen das Typische, Charakteristische und Wesentliche aus der überbordenden Flut der Sinneseindrücke herausfiltern. Dieses Ziel teilte er mit den meisten seiner Zeitgenossen, wie Lorraine Daston herausgefunden hat: „Die Forscher wählten bestimmte Exemplare aus, die sie dann immer weiter idealisierten.“ Unregelmäßigkeiten wurden begradigt, Fehler korrigiert. Ein angeknabbertes Blatt, eine zu große Blüte wurden so dargestellt, wie sie nach Meinung der Forscher sein sollten. Die Gladiole, die wir heute in Linnés Atlas betrachten können, hat es so nie gegeben. Denn auch dieses Bild sollte eine Wahrheit in, hinter oder über dem individuellen Einzelexemplar zeigen.

Doch dann ändert sich plötzlich, was jahrzehntelang unangefochten als die gute und richtige Art der Bildherstellung anerkannt war. Eine neue Art von Bild taucht ab etwa 1840 auf: Mechanisch hergestellte Abbildungen, oft sind es Fotografien, auf denen die Unregelmäßigkeiten und Eigenarten der Natur zu sehen sind. „Es geht um Bilder aller Art von wirklich sehr vielen Wissenschaften“, erläutert Daston die Bedeutung der Veränderung, „von Geologie, Astronomie, Anatomie. Wir sehen eine wissenschaftsübergreifende Tendenz in der Bildgeschichte.“

Der Meteorologe Gustav Hellmann zum Beispiel überredet 1893 den Fotografen Richard Neuhauss, Schneeflocken unter dem Mikroskop zu fotografieren. Bis dahin hatten handgezeichnete Typologien von Schneeflocken die geometrische Vollkommenheit der vermeintlich perfekten Kristalle gezeigt. Nun wurden zum ersten Mal Asymmetrie, abgebrochene Ärmchen, Verdickungen sichtbar. Den Forschern fiel es nicht leicht, sich mit den neuen Bildern anzufreunden. „Man hatte sich an eine derartige mathematische Gesetzmäßigkeit der Schneekristalle nachgerade gewöhnt und ist nun etwas enttäuscht, diese hier nicht vorzufinden“, schreibt Hellmann: „Wir haben nun nicht mehr ideale Formen und schematische Figuren vor uns, sondern reelle Bilder, wie sie die Natur uns darbietet.“

Die neue Parole lautete: Die Natur soll sich selbst abbilden. Die Bilder sollten befreit werden von individuellen Wahrnehmungen, Vorstellungen und Interpretationen, kurz, von allem Subjektiven. Das Ideal der Objektivität war geboren. Daston und Galison zufolge entsprang dieses neue Leitideal vor allem der Angst vor Fehlern. „Man musste erklären, wie es möglich war, selbst für Wissenschaftler vom Rang Newtons, Fehler zu machen und sich zu täuschen“, sagt Daston. Als Gefahrenquelle machte man da die Subjektivität aus: Newton und viele andere Wissenschaftler, so die Annahme, hatten es sich erlaubt, ihre subjektiven Wünsche, Hypothesen und Lieblingstheorien in ihre Forschung zu projizieren. Ohne den Einfluss der Philosophie von Immanuel Kant sei diese Erklärung gar nicht denkbar gewesen, sagt Daston: „Diese Idee der Projektion, dass es möglich ist, psychologische Vorstellungen auf die Welt zu prozedieren, das ist eine Idee, die ohne den deutschen Idealismus nicht vorstellbar war.“

Der Subjektivität wurde mit einer Radikalkur begegnet. „Objektivität erforderte eine Selbstverdrängung seitens des Wissenschaftlers“, so Daston. Schließlich galt der Forscher selbst mit seinen subjektiven Vorstellungen als größtes Hindernis auf dem Weg zur Erkenntnis. „Es geht nicht darum, ein Urteilsvermögen zu pflegen oder zu kultivieren, sondern darum, sich selbst tatsächlich zu verdrängen. Es ist dieses Extrem, das der Objektivität ihren Heiligenschein gegeben hat“, sagt Lorraine Daston.

Bis heute halten wir Objektivität für eine unabdingbare Voraussetzung der Wissenschaft. Dabei erkannten bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts, nur wenige Jahrzehnte nach ihrer Blütezeit, viele Kritiker die Grenzen dieser wissenschaftlichen Tugend. Konsequent dem Ideal der Objektivität zu folgen, erfordert Opfer, erklärt Daston: „Man muss auf Schönheit verzichten, obwohl Schönheit eine starke Motivation der Forschung ist.“ Wenn Linné den Grundtypus der Gladiole zeichnen ließ, das Einzelexemplar idealisierte, brachte er damit ganz selbstverständlich die Schönheit der Natur zum Ausdruck. Unretuschierte Schwarz-Weiß-Fotografien asymmetrischer Schneekristalle konnten da nicht mithalten.

Doch das Ideal der Objektivität birgt ein noch tiefer sitzendes Problem: Wie sollte ein zufällig ausgewähltes Einzelexemplar den Typus einer Pflanze repräsentieren? Deshalb wandten sich Wissenschaftler auch wieder von der Objektivität ab, erklärt Daston: „In den 1920er Jahren haben Kritiker der Objektivität deshalb der Intuition der Forscher und unbewussten Prozessen wieder mehr Spielraum gegeben.“ Wichtige Merkmale und Muster werden in den Bildern nun bewusst hervorgehoben, und erneut wandeln sich wissenschaftliche Werte und Ziele. Objektivität ist nur noch eine Tugend unter anderen, mit deren Hilfe Wissenschaftler nach Wahrheit streben.

Lorraine Daston, Peter Galison: Objektivität. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2007. 530 Seiten, 34,80 Euro.

Sibylle Salewski

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