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WERT sachen: Leben

Leben besteht aber nicht nur aus organischen Vorgängen. Leben besteht fortwährend aus Entscheidungen.

Im „Campus-Knigge“, einem zwischen Scherz, Ironie und tieferer Bedeutung oszilierendem Taschenwörterbuch zum Verständnis der deutschen Universität aus dem Jahre 2006, finden sich neben allerlei erwartbaren Lemmata („Exzellenzcluster“) auch einige unerwartete („Festschriftendruckkostenzuschussversicherung“). Die Aufnahme solcher Artikel hatte freilich ihren Preis. Zentrale Lemmata fehlen. Die bitterste Lücke klafft beim Buchstaben „L“. Die Universität, die der „Campus-Knigge“ beschreibt, hat kein „Leben“. Nur ein paar Elemente des Lebens, von „Antrittsvorlesung“ über „Privatbibliothek“ bis „Zweitgutachten“. Und „Sex“. Dabei entwickelt sich der Begriff „Leben“ in der letzten Zeit zu einer Art Zentralbegriff der universitären Forschung. Nicht wenige halten daher die Biowissenschaften für die Leitwissenschaft des 21. Jahrhunderts, so wie es im Mittelalter die Theologie, dann die Philosophie, die Geschichtswissenschaft und schließlich im vergangenen Jahrhundert die Physik war. Allerorten sprießen „Centers for Life Sciences“ aus dem Boden. Der Rektor einer süddeutschen Universität versuchte zum Zwecke solcher Zentrumsbildung im Jahr 2001, eine große Zahl von Professorenstellen aus den Geistes- in die Biowissenschaften zu verlagern. Selbstverständlich protestierten die Geisteswissenschaftler, es tobte der „Tübinger Kulturstreit“. Leben besteht aber nicht nur aus organischen Vorgängen und selbstverständlich dürfen Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften nicht von seiner Erforschung ausgeschlossen werden. Eine „integrative Lebenswissenschaft“ ist gefordert, wenn eine Universität über die Fülle gelebten Lebens forschen und darüber in der Gesellschaft orientieren will.

Leben besteht fortwährend aus Entscheidungen. Und Rochefoucauld hat einmal gesagt: „Der Mensch glaubt oft, sein Leben selbst zu führen, während er in Wirklichkeit selbst geführt wird.“ Die Wahrheit dieses Satzes erkennt man spätestens dann, wenn man den Supermarkt mit weit mehr Dingen verlässt, als auf der Einkaufsliste standen. Biomedizinische Forschung wird bald noch ganz andere Möglichkeiten der Beeinflussung von Leben erlauben. Entsprechend wichtig ist, dass nicht nur verschiedenste Disziplinen über das Leben forschen, sondern sich auch ein präziser Konsens darüber bildet, was Leben gefährdet und was ihm nützt.

Der Autor ist Kirchenhistoriker und schreibt an dieser Stelle jeden dritten Montag über Werte, Wörter und was uns wichtig sein sollte.

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