zum Hauptinhalt

Christian Petzold: "Wir brauchen viel mehr Empathie"

Christian Petzold ist Vorstand der Aktion Demenz e.V. Im Interview spricht er darüber, warum Demenz kein Todesurteil sein darf.

Gunter Sachs hat seinen Freitod mit den Worten begründet, „der Verlust der geistigen Kontrolle über mein Leben wäre ein würdeloser Zustand, dem ich mich entschlossen habe, entschieden entgegenzutreten“. Vermutlich hatte er Angst.

Wir wissen, dass die Diagnose Alzheimer Ängste auslöst. Das etabliert sich in den Köpfen. Anscheinend führt es zu einer Art kollektiven Demenzangst, weil wir den Kontrollverlust mehr fürchten als den Tod. Viele sagen, wenn ich die Kontrolle verliere, bringe ich mich um. Unsere Würde kommt uns aber nicht abhanden wegen der Krankheit. Menschen behaupten nur, dass sie abhanden kommt. In einer Gesellschaft, die Krankheit als kurzfristige Störung des Systems sieht, kann nicht offen über sie geredet werden.

Was hätte man Gunter Sachs sagen können, um ihm Ängste zu nehmen?

Man hätte ihn fragen müssen: Wovor hast du Angst? Man hätte ihm sagen müssen, dass man ihm die Angst nicht nehmen kann, aber dass man ihm helfen kann, mit ihr umzugehen. Sachs' Verhalten gibt Hinweise auf ein Denken, das sich keine Lebensräume mehr vorstellen kann, in denen man würdevoll behandelt wird. Die Zunahme der Patientenverfügungen ist ein Indiz für dieses Denken. Ich möchte keine Kontrolle verlieren, und wenn ich sie verliere, traue ich meinem Gegenüber nicht zu, meine Interessen würdevoll zu vertreten.

Glauben Sie, prominente Fälle von Menschen, die den Freitod wählen, können andere animieren, sich umzubringen?

Absolut. Auch Walter Jens hat immer darauf beharrt, den Zeitpunkt seines Todes selbst zu wählen. Wenn aber in den Medien und in der Gesellschaft nur über die Frage der Kontrolle diskutiert wird, ist das sehr gefährlich. Es animiert dazu, immer mehr in unser eigenes Leben, in das Schicksal einzugreifen. Sachs hat sich selbst erschossen, das symbolisiert auch Entschlossenheit und Heldentum und führt womöglich zu einer völlig unangebrachten Heroisierung. Jeder von uns hat einen Anspruch auf Eigentümlichkeit, auch Demenzkranke, das muss die Gesellschaft lernen und würdigen.

Anscheinend können biografische Beschreibungen wie zuletzt vom Schriftsteller Arno Geiger zur Aufklärung beitragen, aber nicht Ängste nehmen?

Geigers Buch ist sehr wertvoll, weil es auch lustige Episoden enthält. Er schafft es, seinen Vater würdevoll zu beschreiben, beide begegnen sich auf Augenhöhe. Er lernt von seinem Vater, er muss Rücksicht nehmen, sich zurücknehmen, aber dabei wächst auch die Liebe.

Das Beispiel eines Kollegen geht so: Sein Vater, Kriegsteilnehmer und Offizier, wunderte sich morgens immer, was die Frau im Bad mache. Die Ehefrau begriff, sie muss in eine Rolle schlüpfen. Und so sagte sie: Aber ich bin doch dein Bursche. Mit diesem Rollenspiel löste sie das Problem.

Das ist ein schönes Beispiel für die Fähigkeit zur Empathie. Wir brauchen mehr Empathie, denn bei Demenzkranken ist die Wirklichkeit im Wortsinn ver-rückt. Sich auf diese merkwürdige Wirklichkeit einzulassen, ist unsere Aufgabe.

Sachs hat sich offenbar selbst diagnostiziert. Anscheinend hat er Alzheimer gleichgesetzt mit Tod. Und ist es nicht auch so, wenn man Bilder sieht von apathisch in ihren Betten liegenden Menschen, dass sie sich fühlen, als wären sie tot?

Es gibt genügend Lebenssituationen, die nichts mit Dahinsiechen zu tun haben. Demenzkranke liegen nicht apathisch im Bett, sie können einen abwechslungsreichen Alltag haben. Sie leben!

Der Theologe Reimer Gronemeyer schreibt, die moderne Gesellschaft sei gekennzeichnet durch zwei Merkmale: vollendete Säkularisierung und radikalisierte Individualisierung. Man habe sich befreit von Gott und Gemeinschaft. Unsere Gesellschaft neige dazu, den Freitod oder den assistierten Tod als legitim zu betrachten, weil es nur eine Verantwortung für sich selbst gebe. Das ist sehr bedrückend.

Ich teile seine Ansicht, weil wir aufgrund dieser radikalen Individualisierung genauso radikal das Miteinander vergessen. Das ist die Gefahr. Gerade ist ja ausgelöst durch Äußerungen des Bundesärztepräsidenten wieder eine öffentliche Diskussion über ärztliche Suizidbeihilfen entstanden. Man muss aufpassen, dass der Arzt nicht sagt, er könne das mit seinem Gewissen nicht vereinbaren, aber nach Dienstschluss doch daran mitwirkt. Wenn ich ärztliche Suizidhilfe legalisiere, wird es immer einfacher zu argumentieren, dann könne man ja gleich selbst Hand anlegen. So wie Sachs.

Wo bin ich gut aufgehoben als Kranker?

Zunächst bei den Angehörigen, Sie kennen die Vorlieben und Abneigungen der Kranken. Dann haben wir die wichtige Säule der Hospiz- und Palliativbewegung. Aber das ist nur eine Säule, und wir müssen aufpassen, dass wir nicht eine qualitätsorientierte Sterbehilfe bekommen. Wir brauchen eine stärkere Verknüpfung von professioneller und privater Pflege.

Gronemeyer kritisiert, das säkularisierte Individuum begreife sich nicht mehr als Geschöpf oder als ein Element einer sozialen Konstellation, sondern als „System“, das man, wenn es versagt, selbst abschalten kann. Was sollen wir tun als Gesellschaft?

Zunächst gegen die Stigmatisierung und Pathologisierung dieser Krankheit vorgehen. Dann vermitteln, dass Menschen für uns alle eine soziale Bedeutung haben. Letztlich brauchen wir eine Renaissance der Solidargesellschaft. Solidarität, Freundschaft und Nächstenliebe dürfen nicht als Kompetenz zur Verweisung erscheinen, bei dem man dem Hilfsbedürftigen nur noch Adresse und Tür des zuständigen Amtes mitteilt und entlastet ist.

Eine zu hohe Anforderung an uns alle?

Nein. Wir entwickeln uns diametral zum technischen Fortschritt kulturell zurück. Die Frage aber, welchen Platz Demenzkranke in unserer Gesellschaft haben, ist eine ernstzunehmende Prüfung auf unsere Integrität und Belastbarkeit.

Das Gespräch führte Armin Lehmann

CHRISTIAN PETZOLD (46), ist Vorstand der Aktion Demenz e.V., die eng mit Kommunen und Städten zusammenarbeitet, und Geschäftsführer der poli.care ambulant GmbH in Berlin.

Zur Startseite