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Kursdorf: Das lauteste Dorf Deutschlands

Was Lärm anrichtet, kann man in Kursdorf besichtigen: Es gilt als lautestes Dorf in Deutschland. Früher lag es auf dem Land, dann wurde es vom Flughafen Leipzig/Halle umzingelt. Die 250 Einwohner wurden umgesiedelt und entschädigt. Doch einige bleiben, und sie reden nicht gerne darüber.

Zum dritten Mal rast das Auto am Hoftor vorüber. Ein Mini, mit beinahe 100 Sachen, viel zu schnell für die Ortschaft. Aber dem Fahrer ist das egal. Er kennt sich hier offenbar aus, und er weiß, dass es tatsächlich egal ist: Wer sollte ihm vors Auto laufen? Grimmig zieht er seine Kreise durch ein totes Dorf, nur verfolgt von dem Blick Joachim Knaufs, der auf seinem Hof steht.

Der Gärtner ist einer der Letzten hier. In einem seiner Gewächshäuser schüttelt er kurz darauf eine Zigarette aus der Packung. Hier dürfe er rauchen, sagt der alte Mann, in seinem Wohnhaus nebenan darf er das nicht, und er gibt einem zu verstehen, dass er sich genau so viel Zeit nehmen werde, wie er für eine Zigarette braucht. Er hustet.

37 Menschen wurden 2009 in Kursdorf registriert. Es waren mal 250 hier zu Hause, als man noch sagen konnte: auf dem Land. In Vierseithöfen, in Ein- und Mehrfamilienhäusern. Die sind nun leer und dunkel, die Rollläden auch tagsüber heruntergelassen. Ein A ist auf den Außenputz vieler Gebäude gesprüht. A steht für Abriss. Ob wieder jemand weggezogen sei, erfahre man nicht mehr, sagt Joachim Knauf, der Gärtner. Man merke es, weil ein Garten verwildert. Die Unkrautpollen bedrohen sein feucht-warmes Biotop immer stärker.

Wenn der 72-Jährige könnte, wäre auch er längst weg. Verschwunden aus dem „lautesten Dorf Deutschlands“ („Stern“), wie so viele vor ihm. Die Menschen wollten hier nicht länger leben. Sie konnten nicht mehr.

Was Lautstärke anrichtet, in Kursdorf, Ortsteil Schkeuditz, kann man es besichtigen. Wenige Meter nördlich verläuft eine sechsspurige Autobahn. Eine weitere im Westen. Auch eine Schnellbahntrasse führt knapp hinter den Häusern vorbei. Das Getöse bricht nie ab. Je nach Windrichtung wechselt es sein Klangbild. Und dann mischt sich in das Zischen der Züge und das Rauschen der Autos noch schrilles Kreischen von Flugzeugtriebwerken. Die kleine Siedlung ist von riesigen Asphaltflächen umzingelt, den Rollfeldern und Parkplätzen des Flughafens Leipzig/Halle. Im Jahr 2000 wurde eine Piste im Norden gebaut, und die, die es im Süden schon gab, 2005 vergrößert. 3600 Meter sind die Bahnen jetzt lang. Die schwersten Maschinen der Welt können hier starten und landen. Wenn sie es tun, zittert die Luft, klirrt das Geschirr, und bullige Antonov-Maschinen schleppen schwarze Rußschleier hinter sich her.

Wie laut es werden kann, haben Sensoren früher vor Ort gemessen. Sie wurden abgebaut. Da der Schall über der Höchstgrenze von durchschnittlich 58,7 Dezibel lag, wurde Kursdorf „Übernahmegebiet“ und ein Fall für die Enteignungsbehörde. Trotzdem ist Knauf geblieben. Ein Satz hält ihn hier fest.

Ausgesprochen hat diesen Satz der frühere Flughafendirektor. Er war zum Blumenkauf die paar Meter herübergekommen, die Gärtnerei und Passagierterminal voneinander trennen. Es gibt im Flughafen immer ein Fest oder ein Jubiläum, für das Blumen benötigt werden, und damals besorgte der Direktor sie noch bei Knauf. Längst lag man im Streit. Es ging um die Entschädigung. Der Flughafen wollte nur für den Verlust des Wohnhauses aufkommen, nicht für den Betrieb. Aber ein Gärtner lebt bei seinen Pflanzen. Was, wenn der Heizkessel ausfällt? Ein Temperaturregler defekt ist? Oder ein Gewitter aufzieht? Mehrere tausend Violen, Primeln, Alpenveilchen und Streptokarpusse könnten kaputtgehen. Der Gärtner muss da sein.

Er zog daraus den Schluss: Falls er umsiedeln würde, müssten es die Blumen auch. Aber Herr Knauf, sagte der Flughafendirektor, Sie sind alt, was brauchen Sie noch eine Gärtnerei?

Noch heute muss Joachim Knauf schlucken, wenn er davon erzählt. „Mensch“, sagt er, den Tränen nahe, „das ist mein Lebenswerk.“

Vielleicht hätte Knauf längst eingelenkt, wenn dieser Satz nicht gefallen wäre. Ausgerechnet ihm, dem Gärtner, der sich so gut aufs Umtopfen, Verpflanzen und Umsetzen versteht, misslingt die eigene Entwurzelung. Seine Söhne haben den Betrieb übernommen, sie wollen fort, und kürzlich ist wieder ein Freund von ihm gestorben, an Krebs. Er sagt: „Jetzt gibt es hier niemanden mehr, und ringsum sieht es aus wie Sau.“

Das Werk eines Lebens gegen ein Zukunftswerk. Der Konflikt wiederholt sich überall, wo Milliardenbeträge in Verkehrsprojekte investiert werden. Und Verkehr, das bedeutet meistens Lärm. Seit Bekanntwerden neuer Luftrouten für den Großflughafen BBI fürchten die Menschen in Teltow, Kleinmachnow, Berlin-Zehlendorf oder Stahnsdorf um ihre Ruhe. Sie haben Initiativen gegen den Donner von oben gegründet, sie demonstrieren. Ein Machtwort von Verkehrsminister Peter Ramsauer sollte ihren Ärger vertreiben. Lärm müsse vorhersehbar sein, lautete das Diktum des CSU-Politikers, deshalb würden die alten Flugkorridore weiterhin gelten.

Man soll sich verlassen können auf das, was kommt. Aber was macht man in dem Wissen, dass das, was kommt, unerträglich wird?

Jahrelang hatten die Kursdorfer Zeit, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Nun hängen ihre Worte bei Gesprächen wie lose Enden in der Luft. Die Leute wollen nicht mehr reden. Alles sei verdreht worden, das kriegt man oft zu hören. Mal habe man ihnen vorgeworfen, gegen den Flughafen zu sein – „absurd“, schimpft ein Mann am offenen Fenster und lehnt sich weiter hinaus, „wo doch so viele von uns auf dem Flughafen arbeiten“. Mal habe man nicht verstanden, wie sie es in dem Lärm so lange aushalten konnten, warum sie sich nicht stärker zur Wehr gesetzt haben. Als hätten 250 Kursdorfer aufhalten sollen, was später 100 000 Menschen um den Schlaf und die Gesundheit bringen würde.

Es ist ein Lehrstück darüber, dass eine kleine Ansammlung von Häusern mitten in einer Lärmkatastrophe keine Chance hat. Dasselbe Stück wird derzeit auch in Selchow aufgeführt, einem Teil von Schönefeld, der vom BBI teilweise geschluckt wird. Zum Protest ist es in Leipzig wie in Berlin erst gekommen, als es um neue Flugrouten ging. „Da lagen wir schon am Boden“, sagt Knauf.

Über die Verlässlichkeit von Lärm wüsste eine Frau einiges zu erzählen, die mit ihrer betagten Schwiegermutter als eine der wenigen im Kursdorfer Schallinferno ausharrt. Sie will ihren Namen nirgendwo erwähnt wissen. Ihr Leben, das sei ihre Sache, sagt sie. Von dem Ärger in Berlin hat sie gehört, sie kennt das alles. Zuerst würden Bauanträge gestellt und genehmigt. Da gehe es bloß um Gebäude, Beton. Die Leute dächten sich nichts dabei. Erst viel später lege die Flugsicherung die Routen fest, Lärmschutzzonen würden eingerichtet, die Schallimmission errechnet, als wenn nicht jeder, sagt sie, Geräusche anders empfinde. Sie hätten in Kursdorf immer gewusst, dass sie betroffen seien, geholfen hat ihnen niemand. „Es hat geheißen, ,ihr paar Leute, was steht ihr dem Fortschritt im Weg?’ Die Nachbargemeinden spürten erst, was auf sie zukam, als das Planfeststellungsverfahren abgeschlossen war. Zu spät, um noch etwas zu ändern.“

Verbitterung schwingt mit in diesen Worten. Für sie gibt es kein einfaches Nein. „Ich bin nicht der Mensch schneller Entschlüsse“, sagt die Frau. „Vielleicht habe ich gehofft, es gehe beides, Flughafen und Dorfleben.“

Auf seiner Website stellt sich der Flughafen als „verantwortungsvoller Nachbar“ dar. Er sponsort den FSV Kursdorf 58 und hat weit über 100 Millionen Euro dafür ausgegeben, den Krach zu dämmen. Schallschutzfenster, verstärkte Außenwände, Dachisolierungen sind Standard. Eine 20 Meter hohe Lärmschutzwand ist um halb Kursdorf herumgebaut wie der Palisadenzaun eines King-Kong- Films. Sie soll das Triebwerksgetöse von der Siedlung fernhalten.

„Das dient bloß als Sichtschutz“, sagt Gärtner Knauf. Die Flugzeuge dahinter höre er genau. Vor allem nachts, wenn die Post-Tochter DHL, die Leipzig als Drehkreuz nutzt, bis zu 50 Frachtmaschinen abfertigt. „Es ist ja nicht nur der Lärm, der uns fertigmacht“, sagt er dann. „Wenn ich morgens das Tor aufschließe, kann ich kaum atmen.“

Joachim Knauf hat immer mit dem Flughafen gelebt. Seit 1927 gibt es ein Rollfeld mit Abfertigungshalle. In den 30er Jahren zählte das Areal zu den drei belebtesten Flughäfen des Reiches. Ein Bombenangriff 1944 zerstörte alles. Als Knauf zehn Jahre später den Blumenhandel seiner Mutter übernahm, lag noch immer das meiste brach. Erst 1972 wurde regelmäßiger Flugverkehr aufgenommen. Um die Zeit rief die Volkspolizei bei Knauf an. Er solle seine beiden Söhne abholen, die hatten Pilze an der Piste gesammelt. Das geht schon lange nicht mehr.

Seit 1995 sind 1,5 Milliarden Euro aus EU-Fördertöpfen und Landesmitteln in den Ausbau zum „Interkontinentalflughafen“ geflossen. 4500 Arbeitsplätze wurden geschaffen, 140 Unternehmen angesiedelt. Sogar die Leipziger Landtagsabgeordnete Gisela Kallenbach findet die Idee eines mitteldeutschen Drehkreuzes im Rückblick „als Grüne in Ordnung“. Die Aussicht, Arbeit in der Region zu binden, war ein triftiges Argument bei 20 Prozent Erwerbslosen. Mit der Folge, dass nun in Kursdorf nichts mehr nur um seiner selbst willen da ist. Außer die Dorfbewohner. Die Polizei patrouilliert durch die Straßen. Joachim Knauf erzählt, dass ein Sohn von ihm öfters kontrolliert worden sei, Personalien wurden aufgenommen, als er nachts vom Kartenspielen heimkehrte. Als gehörte er nicht hierhin, wo eine Feldsteinkirche aus dem Jahr 1310 daran erinnert, wie lange Menschen an diesem Fleck schon leben. Heute sind sie von Infrastruktur umgeben. In der hat alles eine Funktion und einen Preis.

Hinter seinem Grundstück habe sich ein Haus befunden, sagt Knauf. Der Besitzer habe es zwei Jahre lang eigenhändig gebaut. In der DDR gab es ja nichts. Das Holz fürs Dach wurde aus alten Transportkisten für Maschinenteile gewonnen. Dann rückten die Bagger an und rissen alles an einem halben Vormittag weg. Die Lektion der Bagger: Die Zeit steht in keinem Verhältnis zur Funktion.

Aber Gärtner denken in Zeitspannen. Um den Streptokarpus, auf den sich die Knaufs spezialisiert haben - flacher Blattwuchs mit dünnen, hohen Blütenstengeln –, zum Erfolgsmodell zu machen, bedurfte es viel Zeit, 10 bis 15 Jahre. Mit jeder Saison kamen sie dem Ergebnis ein bisschen näher. Was nicht passte, wurde aussortiert. In diesen Gewächshäusern könne das noch 20 Jahre so weitergehen, sagen sie. Nun drohen sie selbst aussortiert zu werden.

Bleibt noch der Preis, zu dem das geschehen soll. Ursprünglich hatte die Dorfgemeinschaft gefordert, als Ganzes umgesiedelt zu werden, samt Sportplatz und Feuerwehr. Sie nahm sich einen Anwalt, um gegenüber der Flughafengesellschaft geschlossen aufzutreten. Die Gewächshäuser dienten als Versammlungshalle. Aber die Gruppe zerbrach. Knauf setzte sich nicht durch mit der Idee, „ein Haus für ein Haus“ zu verlangen, „egal ob dieses alt oder neu gebaut war“. Er fand: „Wer eins verliert, will eins dafür haben.“ Das war im Planfeststellungsbeschluss nicht vorgesehen. Gutachter und Anwälte rückten an, taxierten die Häuser und legten Entschädigungssummen fest. Neuere Gebäude waren mehr wert als alte, selbst wenn auf beide später ein A gesprüht wird. „Sie drücken jetzt den Bodenpreis“, sagt Knauf. Die Zeit steht auch in keinem guten Verhältnis zum Preis.

Still ist es dagegen in Altscherbitz – bis auf das Ratsch-Geräusch von Schaufeln und das Rumpeln einer Rüttelwalze. Neben einem pinkfarbenen Neubau schütten drei Männer einen Graben zu. Altscherbitz auf der anderen Seite von Schkeuditz ist zur neuen Heimat für Kursdorfer geworden, die das Angebot zur Umsiedlung angenommen haben. Hier konnten sie noch einmal den Traum vom Eigenheim ausleben.

„Heute braucht man Geld, in der DDR mussten es Beziehungen sein“, sagt einer. Sein Haus hat er wieder selbst errichtet. Für mehr als die Materialkosten habe die Entschädigung nicht gereicht, sagt er. Insofern hat sich für ihn nicht so viel geändert. Seine Freunde nicken, sie helfen einander. Haben sie es jetzt besser?

„Warum wollen Sie das wissen?“, zischt der Hausbesitzer. „Sind Sie von der Presse? Mit Ihnen rede ich nicht.“

Warum?

„Bringt nichts.“

Was hätte es bringen sollen?

„Ja, was? Wenn der Staat etwas will, dann setzt er es auch durch.“

Wollten Sie nicht irgendwann auch weg, wegen des Lärms?

„Man gewöhnt sich an alles.“

Vielleicht, so hat der amerikanische Lyriker Jesse Bernstein einmal geschrieben, vielleicht brauchen wir den Lärm, den wir nicht haben wollen, "um die alltäglichen Verrichtungen ertragen zu können". Vielleicht hat er Recht.

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