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Die Stadt: Lenins Nase

Mit Hammer und Meißel gegen den Vater der russischen Revolution: In Kiew streiten sich Nationalisten und Kommunisten um Denkmäler – ihre eigene Geschichte ist ihnen wichtiger als die Zukunft.

Alles an diesem Mann strebt vorwärts. Das ausschreitende linke Bein, das windbewegte Jackett, ganz besonders aber die Nase. Die Nase hängt zehn Meter über dem Bessarabischen Platz im Stadtzentrum von Kiew. Sie ist aus Granit und gehört Wladimir Iljitsch Lenin. Kühn ragt das Riechorgan des Revolutionärs in den Wind. Es gab Zeiten, da blies ihm der Wind aus der Zukunft entgegen. Woher er jetzt weht, weiß in Kiew kein Mensch.

Dass man nicht recht sagen kann, woran Lenin da schnuppert, ist das eine Rätsel. Das andere beginnt knapp über dem Krawattenknoten. Da zeichnet sich ein leichter Wechsel im Farbton des Granits ab, es sieht aus, als habe man Lenins Kopf auf einen fremden Kragen montiert. Was genau da passiert ist, das ist eine lange Geschichte.

Am 30. Juni 2009 tritt in grobkörniger Nacht ein Mann vor eine Kamera. Er ist breit gebaut, weder jung noch alt, seine Stimme klingt angespannt. „Hallo. Mein Name ist Mykola Kochaniwskij, ich bin ukrainischer Nationalist. Ich führe die Anordnung des Präsidenten zur Zerstörung von Denkmälern der totalitären Vergangenheit aus. Ruhm der Ukraine!“

Schnitt. Fünf junge Männer bringen eine lange Leiter in Positur. Ein hässliches Kratzen und Schaben, dann ruht ihr oberes Ende auf Lenins Brust. Mykola Kochaniwskij wirft sich einen Beutel über die Schulter. Nach 28 steilen Schritten steht er Lenin auf Augenhöhe gegenüber, der Kopf des Kommunisten ist doppelt so groß wie der des Nationalisten. Kochaniwskij zieht einen Hammer aus dem Beutel.

Das Video, das seit anderthalb Jahren im Internet kursiert, ist schwer verpixelt, nur vage lässt sich das Zerstörungswerk verfolgen. Funken sprühen, Schläge hallen durch die Kiewer Nacht, Metall auf Granit, wieder und wieder. Autos fahren vorbei, Passanten drehen die Köpfe, auf den Balkonen sammeln sich Zuschauer. Niemand greift ein. Schließlich tauchen zwei Milizionäre am Fuß der Leiter auf. Schnitt. Ende.

2011. Zu Füßen des Denkmals steht ein rotes Zelt. Vor dem Zelt steht Vera Jefimowna, und Vera Jefimowna ist jetzt ganz in ihrer Rolle.

„Was hier passiert ist? Kann ich Ihnen sagen: Ukrainische Faschisten haben dem Führer des Weltproletariats die Nase abgeschlagen!“

Vera Jefimowna ist 76 Jahre alt, aber ihre Augen funkeln wie die einer Jungpionierin. Sie lässt den Satz nachhallen, er soll seine ganze Empörungskraft entfalten – Faschisten! Dem Führer! Die Nase! Seit anderthalb Jahren schiebt sie hier Wache. Natürlich nicht rund um die Uhr, die Kiewer Kommunisten haben ein Schichtsystem entwickelt: Tagsüber passen die Frauen auf Lenin auf, nachts die Männer. Zu zweit, zu dritt, zu viert bemannen sie das rote Zelt, das sie nach dem Anschlag aufgebaut haben. Überwiegend sind es Rentner, die hier ehrenamtlich stehen. Viele wirken einfach froh, eine späte Lebensaufgabe gefunden zu haben, in einer Welt, die für Kommunisten sonst wenig Verwendung hat.

Nicht so Vera Jefimowna. Sie steht hier, weil ein Mensch nur auf der richtigen Seite der Geschichte stehen kann oder auf der falschen, und sie steht auf der richtigen – neben Lenin. Dass man da in letzter Zeit etwas einsam steht, mag sein, aber das wird so nicht bleiben. Starbucks und McDonald's und H&M mögen die stalinistischen Prachtbauten der Kiewer Innenstadt okkupiert haben, aber der Tag wird kommen, der die kapitalistische Kruste von den Fassaden sprengt.

„Die Bourgeoisie“, sagt Vera Jefimowna, „wird hinweggefegt werden. Die Geschichte will es so. Lesen Sie Marx, lesen Sie Lenin.“

In gewisser Weise haben es die Kommunisten leichter als die Bourgeoisie. Den Kommunisten hat Lenin erklärt, wie mit der Bourgeoisie zu verfahren ist. Der neuen ukrainischen Bourgeoisie erklärt niemand, wie mit Lenin zu verfahren ist. Eine Zeitlang glaubte man, es zu wissen, damals, in den frühen 90ern, als im Überschwang der ukrainischen Unabhängigkeit vor allem im europäisch orientierten Westteil des Landes viele Sowjetdenkmäler gestürzt wurden. Doch es waren zu viele, um sie alle zu stürzen. Es sind noch jede Menge übrig. Heute ist der Überschwang weg, es finden sich nicht mehr so viele Stürzwillige wie damals. Dafür ist, besonders im russisch orientierten Osten des Landes, eine neue Front von Stürzunwilligen entstanden, die nicht unbedingt am Kommunismus hängen, aber doch an seinen Denkmälern. Weil sie an eine Zeit erinnern, als zwischen Russland und der Ukraine noch keine Grenze verlief. Oder weil, wie Lenin es formulierte, „nur bei geeintem Handeln der ukrainischen und russischen Werktätigen eine freie Ukraine möglich ist – sonst kann von ihr keine Rede sein“. Das Zitat ist in den Sockel des Denkmals gemeißelt, die Kommunisten haben es täglich vor Augen.

In der postkommunistischen Ukraine verlegte man sich irgendwann darauf, Lenin einfach zu ignorieren. Bis Viktor Juschtschenko an die Macht kam, der Präsident, der sich 2004 nach wochenlangen Straßenprotesten gegen seinen Widersacher Viktor Janukowitsch durchsetzte. Juschtschenko wollte vieles ändern in der Ukraine, auch den Umgang mit Lenin, deshalb ordnete er die „Demontage von Denkmälern der totalitären Vergangenheit“ an. Weil das schwammig formuliert war, fiel es den zuständigen Behörden leicht, die Anordnung zu ignorieren. Jetzt, wo Juschtschenko weg ist, hat sich auch sein Nachfolger Viktor Janukowitsch wieder aufs Lenin-Ignorieren verlegt.

Die Lenin-Ignorierer findet Vera Jerofimowna fast noch schlimmer als die Lenin-Hasser. Die Ignorierer haben zuletzt vorgeschlagen, die übrigen Lenins auf eine Kiewer Dnjepr-Insel zu stellen und einen „Park der sowjetischen Epoche“ daraus zu machen, als ideologisch entschärfte Touristenattraktion sozusagen. Kurz nach diesem Vorschlag kamen die Nationalisten mit dem Vorschlaghammer, und fast war Vera Jefimowna dankbar, dass sie nun täglich im Stadtzentrum stehen und den Menschen erklären konnte, warum Lenin in ihre Mitte gehört und nicht in einen Vergnügungspark.

Eines Tages tauchte ein Fernsehteam beim Denkmal auf. Man interviewte Vera Jefimowna vor laufender Kamera. „Was ist Ihr größter Traum?“, fragten die Journalisten.

„Ich träume davon“, antwortete sie, „zum Bahnhof zu gehen und eine Fahrkarte in die Sowjetunion zu kaufen.“

Am nächsten Tag wurde sie im Bus von einer unbekannten Frau angesprochen: „Waren Sie das nicht gestern im Fernsehen?“ Vera Jefimowna nickte stolz. Was dann geschah, dafür hat sie keine Worte, stattdessen holt sie ein Foto hervor. Es zeigt ihr Gesicht. Man erkennt es nicht gleich, weil zwischen lauter Blutergüssen nur wenig Gesicht übrig ist. Die Frau im Bus war keine Anhängerin der Sowjetunion.

Trösten konnte sich Vera Jefimowna nur damit, dass ihr Gesicht nun genau so ramponiert aussah wie das ihres Idols. Und während ihre blauen Flecken verblassten, heilten auch Lenins Blessuren. Mit Parteigeldern ließen die Kommunisten das Denkmal restaurieren. Lenin bekam einen neuen Kopf und eine neue linke Hand, und am 27. November 2009 wurde die wiederhergestellte Statue feierlich enthüllt. Ein KP-Funktionär hielt eine Rede: „Neue Generationen sowjetischer Menschen werden Blumen zu Lenins Füßen niederlegen“, sagte er. „Jawohl‚ sowjetisch – denn ohne Zweifel wird der Sozialismus zurückkehren.“

Die Kommunisten hätten jetzt ihr Zelt abbauen und nach Hause gehen können. Sie taten es nicht. Sie stehen immer noch hier. Wie lange noch, können sie selbst nicht sagen. Vielleicht, bis der Sozialismus kommt. Vielleicht aber auch nur, bis der Krieg der Steine endet, in den Lenin die Ukraine gestürzt hat.

Im Krieg der Steine ist das Kiewer Denkmal nur eine von vielen Fronten, auch wenn hier die bisher folgenreichste Schlacht geschlagen wurde. Begonnen aber hat der Krieg lange zuvor, und sein Ende ist nicht absehbar. Es ist ein Krieg des Gedenkens, und ausgetragen wird er mit Denkmälern. Nase um Nase, Stein um Stein.

Alles begann damit, dass den alteingesessenen Sowjetdenkmälern in den 90er Jahren plötzlich steingewordene Feinde gegenübertraten. In der Westukraine wurden Statuen des Separatistenführers Stepan Bandera aufgestellt, der im Zweiten Weltkrieg gegen die Sowjets gekämpft hatte, zeitweise im Verbund mit den Nazis. Anderswo tauchten Mahnmale für die Opfer des Holodomors auf, jener lange verschwiegenen Hungersnot, mit der Stalin in den 30er Jahren die Kollektivierung der Landwirtschaft durchsetzte.

Zwei steinerne Armeen standen sich nun gegenüber, abwartend und misstrauisch. Dann brach der Krieg aus. Erste Scharmützel erschöpften sich in Schmierereien auf bronzenen Rotarmisten. Erst als in Kiew Lenins Nase fiel, eskalierte die Gewalt, folgte Vergeltungsschlag auf Vergeltungsschlag. Bandera-Statuen büßten Gliedmaßen ein. Sowjetsoldaten wurden geköpft. Ein Holodomor-Engel verlor beide Flügel. Man hackte Lenins Frau Nadeschda Krupskaja die Nase ab, brannte einem Lenin-Relief in der Kiewer U-Bahn einen Davidsstern in die Stirn.

Die vorläufig letzte Schlacht wurde im südostukrainischen Saparosche geschlagen. Vor gut einem halben Jahr stellten örtliche Kommunisten dort auf ihrem Parteigelände ein neues Denkmal auf – keinen Lenin, sondern diesmal gleich einen Stalin. Es war eine Provokation mit absehbarem Ausgang. Anfang dieses Jahres, in der Sylvesternacht, wurde die Statue mitten im Feuerwerksdonner von einem selbstgebastelten Sprengsatz zerfetzt.

Anfang Februar. Ein Verhandlungssaal des innerstädtischen Bezirksgerichts Kiew-Schewtschenkenskij.

„Kochaniwskij?“

„Hier, euer Ehren.“

„Sadoroschnyj? Frant? Sribnyj?“

„Anwesend, euer Ehren.“

„Tarasenko?“

Stille.

Die Richterin räuspert sich. Fragend sieht sie den Anwalt an. Der steht auf. „Euer Ehren, der Angeklagte Tarasenko konnte nicht zur Verhandlung erscheinen. Er befindet sich in Polizeigewahrsam...“

Die Richterin unterbricht: „Schon wieder?“

„Ja, euer Ehren. Man wirft ihm vor, an der Sprengung des Stalin-Denkmals in Saparosche beteiligt gewesen zu sein. Man hat ihn stundenlang in einer ungeheizten Untersuchungszelle...“

Die Richterin winkt entnervt ab. „Schon gut.“ Nach kurzer Beratung mit dem Staatsanwalt vertagt sie die Sitzung. Wieder ein ergebnisloser Verhandlungstag in einem Prozess, der das Gericht jetzt schon seit anderthalb Jahren beschäftigt. Es ist der Prozess um Lenins Nase.

Mykola Kochaniwskij verlässt grinsend das Gerichtsgebäude. Er ist der Mann aus dem Video, der Mann, der Lenin die Nase abschlug. Im Prozess ist er der Hauptangeklagte. Seine vier Mitstreiter haben ihm nur die Leiter gehalten, es sind junge Studenten, teilweise noch nicht volljährig.

Angeklagt hat man sie ursprünglich wegen zwei Vergehen: „Beschädigung eines Denkmals von nationalem Rang“ und „Hooliganismus“. Der erste Anklagepunkt wurde schnell fallengelassen: Kochaniwskijs Anwalt argumentierte, dass die Lenin-Statue bei ihrer Einweihung 1946 zwar als „Denkmal von sowjetrepublikanischem Rang“ registriert wurde, was aber nicht bedeuten könne, dass sie seit der Unabhängigkeit „nationalen“ Rang habe. Er bekam Recht, und die Nationalisten feierten ihren ersten Etappensieg: Das Gericht hatte ihnen bescheinigt, dass die Ukraine keine Sowjetrepublik mehr ist, und Lenin kein Nationalheld.

Bleibt der zweite Anklagepunkt: Hooliganismus, definiert im ukrainischen Strafgesetzbuch als „unmotivierte Gewalt“. Auch das will Kochaniwskij anfechten. „Meine Gewalt“, sagt er, „ist hochmotiviert.“

In einem Café in der Nähe des Gerichts erklärt er seine Motive. Die Zwangskollektivierung nach dem Bürgerkrieg, die Hungersnot der 30er Jahre – ins Werk gesetzt von Stalin, aber konzipiert, betont Kochaniwskij, von Lenin. In seiner Familie gab es Opfer dieser Gewalttaten. Ein Onkel verhungerte im Säuglingsalter. Vier Brüder des Großvaters saßen in sibirischen Lagern. „Lenin“, sagt Kochaniwskij, „ist der Henker des ukrainischen Volkes.“

Seinen Anschlag hat er lange geplant. Bevor er sich an Lenin heranwagte, übte er an kleineren Denkmälern, um im richtigen Moment zu wissen, worauf es ankommt. „Granit ist schwer kleinzukriegen. Du musst die empfindlichen Stellen treffen – die Hände, das Kinn, vor allem die Nase.“

Wenn Kochaniwskij solche Sätze sagt, spreizt amüsiertes Grinsen sein Gesicht. Es ist ein Grinsen, das sehr plötzlich verschwinden kann. Etwa, wenn man ihn fragt, ob dieser ganze Krieg der Steine nicht ein bisschen einem Kindergartenstreit ähnelt: Machst du meins kaputt, mach ich deins kaputt. Kochaniwskijs Gesicht verfinstert sich abrupt. „Denkmäler sind Geschichte“, sagt er leise. „Und ich will, dass mein Volk seine Geschichte kennt.“

Mehr als einmal beginnen seine Sätze mit begründeter Wut, bevor sie sich in Verschwörungstheorien verheddern, in historischen Komplotten und Intrigen der Gegenwart, bei denen Lenin und Stalin und Putin irgendwann kaum noch auseinanderzuhalten sind. Wer länger zuhört, wird den Eindruck nicht los, dass dieser Mann selbst zur Geisel jener Vergangenheit geworden ist, die er zerschlagen will.

„Jetzt wollen sie einen Park für Lenin bauen!“, stöhnt Kochaniwskij ganz am Ende des Gesprächs. „Meinetwegen, baut einen Park! Aber nicht in Kiew! Es gibt in der Ukraine nur einen Ort, wo Lenin seine Ruhe vor mir hätte.“ Er lächelt ein schlaues Lächeln.

„Die Sperrzone von Tschernobyl.“

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