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Bernd Matthies.

© Mike Wolff

Bernd Matthies: Pornorodeln gegen Wutbürger

Etwa 17.000 Besucher drängten sich am frühen Samstagabend an der Piste auf der Braunlager Rathauswiese um den Nacktrodel-Wettbewerb zu sehen. Eine Aktion des Betäubungsausschusses im Kanzleramt?

Es ist ziemlich schwer, angesichts all der weltbewegenden Ereignisse hier nun ausgerechnet auf das Nacktrodeln in Braunlage einzuschwenken. Denn Irrelevanz & Ungeschmack lassen sich ja kaum sinnfälliger in einem einzigen Ereignis zusammenfassen, nicht wahr? Andererseits sind am Sonnabend 17 000 bekleidete Menschen zum Zuschauen erschienen, stark steigende Tendenz, und das vor dem Rathaus bei Temperaturen um minus fünf Grad; wir wissen ja, wie das damals mit der Love Parade in Berlin angefangen hat.

Ein solches, wie wir heute sagen würden, Spaß-Event hat also irgendetwas zu bedeuten. Aus der Resonanz im Internet lassen sich zwei verschiedene, wie wir heute sagen würden, Narrative ablesen. Eines läuft im Wesentlichen darauf hinaus, eine Mordsgaudi zu feiern, die nur Spießern und sogenannten „Spaßbremsen“ zuwider sein kann und das heitere Leck-mich-Gefühl der Mario- Barth-Gesellschaft in einer leicht verständlichen Sportart verdichtet.

Das andere teilt die Beobachtung, bewertet das Ereignis aber im hohen Ton der Kulturkritik, gestützt beispielsweise auf Reinhard Mey: „Gib ihnen Brot und Spiele, das betäubt die Republik.“ Pornorodeln gegen Wutbürger: Das liefe auf die schon im alten Rom bekannte Einschätzung hinaus, dass Menschen, die satt und heiter sind, den eigentlich dringend anstehenden Sturz ihrer Regierung lieber noch einmal hinausschieben. Möglicherweise handelte es sich um die erste Aktion des Betäubungsausschusses im Kanzleramt, der demnächst den Weiterbau von Stuttgart 21 mit einem lustigen Nacktspätzleschaben durchsetzt? Da müsste man dann natürlich dagegen sein.

Deutsch sein, das bedeutet nach dem aktuellen Stand der Sexualwissenschaft: eine Sache um ihrer selbst willen zu tun, und zwar nackt, baden, spielen, philosophieren, rodeln. Wenn es gelänge, die Ski-WM auf textilfreien Modus umzustellen, wären deutsche Athleten die unumstrittenen Sieger, bedrängt allenfalls von ein paar Italienern, die sich vom Bunga-Bunga ihres Ministerpräsidenten inspirieren ließen.

Für Braunlage ist die Sache klar. Der Ort wirft sein altbackenes Wandervogel-Image ab, zieht 2012 schon 50 000 Menschen an, exponentiell steigend, Stefan Raab organisiert die Nackt-Wok- WM, die „New York Times“ schickt einen Reporter, ach, die Welt wird mal wieder auf Deutschland blicken. Hoffentlich bleibt uns wenigstens das Nacktregieren erspart.

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