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Frauen und Männer: Warum aus Kindern Neonazis werden

Bei den Rechten suchen Jungen nach Vaterersatz, sagen Experten – und raten den Familien: Gebt eure Söhne nie auf! Besuch bei Eltern, die genug Geduld hatten

Ramona Bayer* merkte lange nichts, oder wollte nichts merken. Die seltsame Musik, die ihr pubertierender Sohn hörte, die Springerstiefel, die er trug, die Reichskriegsflagge im Kinderzimmer – all das ignorierte sie über Monate, bis es ihr plötzlich zu viel wurde. Ramona Bayer ist eine temperamentvolle Frau: Eines Tages nahm sie Roberts* Nazi-Devotionalien einfach, darunter CDs der Band „Landser“, und verbrannte sie. „Wir hatten einen sehr guten Ofen“, sagt die 43-Jährige.

Doch das Problem ließ sich so nicht lösen. Robert traf sich weiter mit seinen neuen Freunden, jungen Rechtsradikalen aus dem Nachbardorf; die Familie lebte damals in einer kleinen Ortschaft im sächsischen Teil der Oberlausitz. Ramona Bayer hatte immer ein gutes Verhältnis zu ihrem Sohn gehabt, aber nun erreichte sie ihn nicht mehr.

Heute glaubt Bayer, dass der Familie damals etwas fehlte: ein Mann.

Roberts Vater, ein Dachdecker, war beruflich so viel unterwegs, dass ihn der Junge praktisch nie sah. Eine starke Beziehung baute Robert dafür zum Lebensgefährten seiner Großmutter auf, verbrachte die Tage mit ihm, schaute zu ihm auf. Entsprechend groß war der Schock, als Opa Ernst starb; schon als der Großvater zu Hause von der Familie gepflegt werden musste, hatte Robert aufgehört zu sprechen, selbst eine Psychologin konnte daran nichts ändern. Ein paar Monate ging das so. „Robert wollte stark sein, ertrug aber gleichzeitig das Alleinsein nicht“, meint die Mutter. In dieser Zeit freundete sich ihr damals 13-jähriger Sohn mit den gleichaltrigen Neonazis an.

Experten haben festgestellt: Wenn Jungen rechtsradikal werden – Mädchen werden es fast nie –, dann fehlt ihnen oft eine männliche Bezugsperson. Die Psychoanalytikerin Gertrud Hardtmann, die bis 1998 Professorin für Sozialpädagogik an der TU Berlin war und heute eine psychiatrische Praxis betreibt, hat Einzel- und Gruppengespräche mit Berliner Rechtsradikalen geführt – und analysiert, wie die jungen Männer in die Neonazi-Szene gerieten. „Wenn die Väter der Jugendlichen nicht aufgrund von Scheidung, Tod oder Trennung abwesend waren, so waren sie häufig depressiv, mit sich selbst beschäftigt, mit ihren eigenen selbstgemachten oder von außen produzierten Problemen – meist einer Mischung – oder mit ihrem Hobby“, schreibt sie in ihrem Buch „16, männlich, rechtsradikal“. Laut Hardtmann finden Jungen wie Robert Bayer in der Szene Ersatzväter – und ein Modell vermeintlich echter Männlichkeit: Dort gelten die angeblichen Helden der Vergangenheit mehr als die eigene Zukunft, und Prügeleien als Ausdruck von Stärke.

Ramona Bayer lebt heute in einer Kleinstadt südlich von Dresden. Ihr Sohn, mittlerweile 18 Jahre alt, ist aus der Neonazi-Szene ausgestiegen; einen Gerichtsprozess muss er noch überstehen, es geht um eine Schlägerei aus den letzten Tagen in der Szene. Bayer, gelernte Maschinenbauzeichnerin und jetzt in der Altenpflege tätig, will ihre Erfahrungen an andere Eltern weitergeben, auch wenn sie die Geschichte noch immer sehr aufwühlt. „Hinter mir liegen fünf Jahre Heulen, Hilflosigkeit und Angst“, sagt die Frau mit den dunklen, gewellten Haaren und der blauen Zipjacke.

Das erste, was Bayer tat, als sie merkte, dass ihr Sohn zum Neonazi wurde, war, sich besser zu informieren: über das Dritte Reich und über den Holocaust, den der Sohn leugnete. Damit praktizierte sie instinktiv, was auch Gertrud Hardtmann rät: Wenn man mit seinen rechtsradikalen Kindern ins Gespräch kommen wolle, bleibe gar keine andere Möglichkeit als über die Nazi-Zeit zu diskutieren, so die Psychoanalytikerin. Ramona Bayers Diskussionen mit dem Sohn arteten freilich meist in eine „einzige Bläkerei“ aus. Einmal, erzählt die Mutter, packten sich Robert und sie im Laufe eines Streits gegenseitig ganz fest an den Armen – diese merkwürdige Mischung aus unzerbrechlicher Liebe und maßloser Enttäuschung auf beiden Seiten wurde da plötzlich greifbar. Am Ende hatten sie beide blaue Flecken.

Als Robert 15 wurde, schien der Spuk kurzzeitig vorüber, der Junge fand Freunde außerhalb der rechten Szene. Ramona Bayer wagte einen Neuanfang, zog – nach der Trennung von ihrem Mann – zu ihrem heutigen Lebensgefährten. Ihr Sohn blieb im Dorf, machte eine Lehre als Tierwirt, doch die Trennung von der Mutter kam zu früh. Nur Wochen vergingen, bis Robert wieder abrutschte. In der Berufsschule lernte er neue Freunde kennen, stand bald vier Mal vor Gericht. „Er steuerte direkt auf den Knast zu“, sagt die Mutter: prügelte sich, trank, kam wegen Körperverletzung in U-Haft. Zwischendurch wollte er, längst NPD-Mitglied, eine eigene „Kameradschaft“ gründen. Ab und an schickte Robert der Mutter eine MMS: zum Beispiel ein Bild, auf dem er mit Glatze und Bomberjacke zu sehen war, daneben ein Gruß „von deinem Kleinen“.

Doch Ramona Bayer gab nicht auf – selbst als ihr Sohn den Kontakt abbrach. Sie suchte immer wieder das Gespräch, vergaß alle Verletzungen. „Wenn ihn seine Mutter in Ruhe gelassen hätte, wäre er endgültig auf die schiefe Bahn geraten“, sagt Michael Ankele, der mit seinem Neonaziaussteiger-Projekt „21 II“ Jugendliche und deren Eltern in der Lausitz betreut, so auch Robert und Ramona Bayer. Leider fehle vielen betroffenen Eltern diese Hartnäckigkeit, oft würden sie sich zurückziehen. Manche kommen nicht über die erste wütende Reaktion hinaus, die auch Ramona Bayer zeigte, als sie Roberts Nazi-Devotionalien verbrannte. Aber Verbieten, Wegschmeißen, Wegschließen hilft nichts. Im Gegenteil. Die Jungen werden dadurch noch bestärkt in ihrem Glauben, alleine in der Welt zu sein, sich nur auf ihre „Kameraden“ verlassen zu können.

Natürlich ist es auch die Scham, die die Eltern lähmt. Die meisten werden wegen ihres rechtsextremen Kindes in der Nachbarschaft schief angeguckt – und leiden darunter. So war es auch bei Ramona Bayer: „Ich hatte immer das Gefühl, dass die Nachbarn über uns reden.“ Bekannte aus dem Dorf blieben weg, weil sie um ihren eigenen Ruf fürchteten. „Ich habe in dieser Zeit gemerkt, wer meine wahren Freunde sind.“

Dass Robert schließlich den Ausstieg schaffte, lag aber nicht nur an Bayers Hartnäckigkeit, sondern auch an ihrem neuen Lebensgefährten. Er arbeitete bei der lokalen Zeitung und war der erste erwachsene Mann seit dem verstorbenen Großvater, der Robert ernst nahm, „mit seiner souveränen Art und seiner Unaufgeregtheit“, wie Ramona Bayer sagt.

Der neue Freund adoptierte Robert, nahm jene Rolle ein, die laut Gertrud Hardtmann für orientierungslose Jugendliche unerlässlich ist. „Es bedarf nicht nur der Vorbilder. Es bedarf vor allem einer alltäglichen, fürsorglichen und gleichzeitig warmherzig kritischen und konfrontativen Präsenz“, schreibt die Psychoanalytikerin. Die Phantasiewelten der Jungen seien „eindeutig geschlechtsspezifisch geprägt“. Sie trügen Vorstellungen unverletzbarer Helden im Kopf: Wikinger, Heerführer, Geheimagenten wie James Bond. Dieses Bild kann „selbst von der besten Mutter nicht in der spezifischen Weise bearbeitet werden, wie es ein Vater aufgrund eigener Kindheitserfahrungen kann: verständnisvoll, aufmunternd, einfühlsam.“ Soll heißen: Ein Vater kann dem Sohn viel leichter zu der Einsicht verhelfen, dass er kein Held sein muss, um ein Mann zu werden. So fand Robert Bayer bei seinem Adoptivvater zum Beispiel den Rückhalt, wieder Kontakt zu Mutter und Schwester zu suchen, ohne sich in seinem Ego gekränkt zu fühlen.

Manchmal kommt der Einfluss, der ein Kind zum Neonazi macht, allerdings auch aus der eigenen Familie.

Joachim Regnatz* hatte viel zu wenig Zeit für seinen Sohn. Regnatz, 51 Jahre alt, lebt ebenfalls in einem Dorf in Sachsen, nahe der Grenze zu Tschechien und Polen. Er ist ein erfolgreicher Polier, seine Auftragsbücher sind voll; kürzlich hat er an sein Einfamilienhaus einen Wintergarten angebaut. Er empfängt Besucher im Wohnzimmer, seine Frau arbeitet derweil in der Küche.

Joachim Regnatz wurde mit 21 Vater, aus heutiger Sicht zu früh, er sei damals ja selbst noch nicht ganz erwachsen gewesen. Seit der Geburt von Sohn Martin* war er ständig unterwegs, auf Montage – seine von der Sonne gegerbte Haut beweist es. Die Rolle des Vaters übernahm auch bei Martin der Opa, ein Angehöriger der sorbischen Minderheit.

Der Großvater war in der Wehrmacht Feldwebel gewesen und blieb auch nach Ende des Krieges glühender Anhänger des Nationalsozialismus. „Der Opa hat geschwärmt vom Krieg, von Ordnung, vom deutschen Vaterland, und auf Hitler hat er nichts kommen lassen“, erzählt Regnatz. Da Martin die meiste Zeit mit dem Großvater verbrachte, saugte er dessen Weltbild auf. Psychoanalytikerin Gertrud Hardtmann nennt diesen Prozess „Teleskoping“. „Das bedeutet, dass die Generationen trotz unterschiedlicher historischer Lebenszeiträume in einer imaginären gemeinsamen vergangenen Welt leben, deren Schatten bis in die Gegenwart reichen.“ Die Enkel übernehmen dabei das Weltbild ihrer Großeltern, die sie lieben, und entwickeln Wut auf alle, die dieses Bild infrage stellen.

Joachim Regnatz erzählt Geschichten, von denen fast alle Eltern rechtsradikaler Jungen so oder so ähnlich zu berichten wissen. Wie Robert kam Martin in der Berufsschule in intensiven Kontakt mit der Neonazi-Szene, damals war er 16 Jahre alt. Wie Robert wurde auch er schnell zum Alkoholiker: Die vielen Partys mit den neuen Kumpels, die rechte Musik, die Hakenkreuz-Tattoos – auch hier ähneln sich die Geschichten.

Michael Ankele vom Aussteigerprojekt „21 II“ hat die Erfahrung gemacht, dass die meisten jungen Neonazis eine regelrecht holzschnittartige Entwicklung durchmachen. An deren Ende steht meist die Erkenntnis, in einer Sackgasse gelandet zu sein. „Das geht denen spätestens dann auf, wenn sie den unvermeidlichen Assi-Sumpf erreicht haben“, sagt Ankele. An diesem Punkt der Verzweiflung „sind die Eltern der einzige verbliebene bürgerliche Bezugspunkt.“ Das Problem: Die wenigsten Eltern verstehen das – und verpassen deshalb die manchmal letzte Chance, ihr Kind zu retten. Gerade im Moment der größten Distanzierung hätten viele Jungen keinen sehnlicheren Wunsch, als von ihren Eltern rausgeholt zu werden.

Was genau seinen Sohn 2004 zum Ausstieg bewog, weiß Joachim Regnatz auch heute noch nicht richtig. Er weiß nur, dass es für Martin ausschlaggebend war, zu wissen, „dass er auf unseren Rückhalt zählen kann, egal, was passiert“. Auch Regnatz brach den Kontakt nie ab, versuchte dem Sohn zu vermitteln, was er als „Selbstverständlichkeiten“ bezeichnet. Dass jeder Mensch etwas wert ist, zum Beispiel. Dass der Sohn einfach nur er selbst sein könne und niemandem etwas beweisen müsse, „dass er sich selber finden muss“. Warum hatte er das Martin nicht schon früher gesagt? „Als er geboren wurde, wusste ich das doch selbst noch nicht.“

Mittlerweile ist Martin 30 und seit einem Jahr Familienvater, er hat sämtliche Gerichtsverfahren hinter sich, die aus seiner Zeit in der Szene resultieren. Auch Robert wird im kommenden März Vater werden.

Martin und Roberts Eltern sind sicher, dass ihre Kinder endgültig aus der rechten Szene raus sind, keine Rückfallgefahr besteht. Und sie hoffen, dass die Enkel eines früh lernen: Was Männlichkeit bedeutet – und vor allem, was nicht.

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