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Interview mit Sven Regener: "Wer gegen Schwaben ist, ist auch nur Rassist"

Die Multikulti-Lüge, der Kiez-Muff und die kleine Welt von "Spiegel"-Redakteuren: Wer sich das Denken zu einfach macht, bekommt es mit Sven Regener zu tun.

Herr Regener, Ihr Schriftstellerkollege Thorsten Becker schrieb, die Transitautobahn von und nach West-Berlin sei vor der Wende der letzte Ort gewesen, an dem man sich Geschichten erzählen konnte.

Im Auto durch die DDR zu fahren und dabei launig Geschichten zu erzählen, das war etwas für die Berlin-Profis, für routinierte Transit-Pendler.

Ihr neuer Roman „Kleiner Bruder“, der die Ankunft Ihres Helden Frank Lehmann in Berlin beschreibt und somit das Bindeglied zwischen „Neue Vahr Süd“ und „Herr Lehmann“ ist, beginnt mit so einer Fahrt auf der Transitautobahn. Doch Ihre Helden schweigen fast nur.

Aber erst gegen Ende. Weil es so dunkel ist. Sie fühlen sich unwohl, insbesondere Frank Lehmann. Der kennt das alles noch nicht. Um die Paranoia aufzuspüren, die eine Grundvoraussetzung für den Lebensstil im West-Berlin des Jahres 1980 war, ist das ein guter Anfang.

Wie drückte sich diese Paranoia aus?

Allein, um in die Stadt hineinzukommen, musste man zwei Grenzkontrollen über sich ergehen lassen. Manche Menschen hatten Angst vor der Grenze, andere betonten ihre Lässigkeit, als berühre sie das alles gar nicht. Nichts war normal, wenn man über den Transit fuhr. Auch wenn man in der Stadt selbst so eine Normalität behauptete, indem man sagte: Heute fahre ich raus ins Grüne – und dann fuhr man nach Lübars …

… einem Dorf im Norden von West-Berlin, wo es sogar ein paar Kühe gab.

Was für ein großartiger Quatsch irgendwie! Und in der Kunst- und Musikszene verstärkte der hohe Drogenkonsum diese Paranoia nur noch.

Dafür gab es ein kollektives Wir-in-Berlin-Gefühl. Jeder West-Berliner war irre stolz darauf, hier zu leben und nicht im sogenannten Westdeutschland.

Das hatte mit der Arroganz der Jugend zu tun. Die beiden Jungs in meinem Buch kennen sich in Berlin nicht aus, kaufen sich aber auch keinen Stadtplan. Wenn man 20 ist, denkt man, ein Stadtplan ist für Idioten. Und dann landet Frank Lehmann mitten in der Kunst- und Musikszene – da konnten in West-Berlin alle gleich mitmachen. Es war wie in der Fremdenlegion. Niemand sprach darüber, wo er herkam oder was er vorher gemacht hatte. Die Mischung aus Aufbruchs- und Untergangsstimmung verlieh dem eigenen Leben Glanz. Das war der Glam-Faktor dieser ummauerten Stadt.

Unter Glamour stellt man sich was anderes vor: Glitzer, charismatische Figuren. Das West-Berlin der damaligen Zeit war eher düster und spießig.

Genau diese Umgebung aber bewirkte, dass das eigene Licht noch heller strahlte. Unter diesen Bedingungen machte man Kunst und Musik und fühlte sich dabei als Avantgarde. Drum herum die Ruinen, die Mauer, die alten Menschen – West-Berlin war eigentlich eine sterbende Stadt.

Können Sie sich noch erinnern, wie es war, als Sie von Bremen nach Berlin gezogen sind?

Ich kam über Hamburg und bin nach längerem Pendeln erst 1982 endgültig in die Stadt gekommen. Das Leben in Berlin war immer ein bisschen so, als lebte man in einer Filmkulisse.

Und wie Ihr Frank Lehmann gerieten Sie gleich in Kunst- und Musikerkreise?

Ich wollte in einer Band Trompete spielen, und das klappte ja auch schnell: Zatopek, Neue Liebe, Tote Piloten, Sportlerchor, Element of Crime. Aber es war nicht so, dass es da nur eine einzige Musikerszene gegeben hätte. Annette Humpe …

… die damals Sängerin der Band Ideal war …

… habe ich erst neulich kennengelernt, da gab es keine Überschneidungen, dafür war die Stadt ja viel zu groß und die verschiedenen Szenen zu unterschiedlich. Die war damals ganz woanders unterwegs. In Schöneberg, wo ich zuerst wohnte, gab es die Szene um die Einstürzenden Neubauten, die gingen dann vielleicht ins Risiko, ins Ex ’n’ Pop und ins Café M. Das wusste man, aber man hatte damit nicht viel zu tun.

Die Kneipen Ex ’n’ Pop und Café M. gibt’s noch.

Im Gegensatz zum Schneecafé, der Ruine und dem Risiko. Und dem KOB. Das eine bleibt, das andere geht, wie überall. Das SO 36 in Kreuzberg war sicher auch ein wichtiger Zentralisationspunkt.

Auch das nach dem Postzustellbezirk um das Kottbusser Tor benannte SO 36 existiert weiter. Es war ein wichtiger Raum für Punk und New Wave.

Hier trafen sich alle, von Ratten-Jenny bis Frieder Butzmann. Aber die Elements haben dort zum Beispiel nie gespielt. Naja, das war dann ja auch schon ’85 und später.

Ratten-Jenny?

Die hatte eine Ratte auf der Schulter. War irgendwie berühmt dafür. Ansonsten hatte Monika Döhring, die später das Loft am Nollendorfplatz betrieb, ihren ersten Laden in Steglitz, die Music Hall. Dort ist man hingefahren, zum Walther-Schreiber-Platz, mit der U-Bahn, da spielten dann drei Bands für fünf Mark. Das war natürlich auch bizarr: Der Walther-Schreiber-Platz war ja eigentlich der Arsch der Welt.

Wenn Sie sich beim Schreiben daran erinnern, werden Sie wehmütig?

Nein, überhaupt nicht. Höchstens, dass ich mit 20 eine Nacht durchsaufen konnte und mich am nächsten Nachmittag wieder gut fühlte. Heute wäre ich drei Tage lang zerstört, weil der Stoffwechsel als Mittvierziger ganz anders funktioniert. Doch sentimental bin ich deshalb nicht. Ich bin auch etwas skeptisch bei einem Buch wie Jürgen Teipels „Verschwende deine Jugend“ …

… einem Buch über die Musikszene der frühen 80er-Jahre.

Manche Leute reden darin wie alte Bauchschuss- Kriegsveteranen. Immer nur damals, damals, damals. Macht einen traurig so etwas. Aber egal, muss auch sein, auf jeden Fall kann man Geschichten wie „Herr Lehmann“ und „Der kleine Bruder“ nur mit Figuren erzählen, die Anfang, Mitte 20 sind. Mit 45 haben Menschen andere Probleme.

Meinen Sie, Sie müssten die Jugend von heute verstehen?

Nein, das ist nichts, was ein 47-Jähriger verstehen können sollte. Die eine, einzige Generation von Jugendlichen gibt es sowieso nicht. Die kann man doch nicht über einen Kamm scheren! Wenn Westbam sagt: „Die Jugend schranzt“, dann hat er sicher recht, aber man macht andere Erfahrungen, wenn man wie ich in der Jury der Deutsch-Olympiade sitzt.

Wie bitte?

Das ist ein Wettbewerb für 15-, 16-Jährige, die Gedichte und Geschichten improvisieren und darin wettstreiten. Das ist toll zu sehen, denn plötzlich relativiert sich das eigene Bild von der Jugend und dem, was sie umtreibt.

Können Sie das erklären?

Es gibt eben auch Hunderttausende von Jugendlichen, die klassische Musik hören. Oder die sich für Pferde interessieren. Deshalb ist „Der kleine Bruder“ eben auch nicht gedacht als Buch über die Jugend aus dem Jahr 1980. Frank Lehmann und diese seltsamen Kunstfreaks aus dem Umfeld seines Bruders – sie alle sind Individuen mit einer ganz speziellen Vita, keine Stellvertreter irgendwelcher Generationen, Prinzipien oder Stadtviertel.

Lesen Sie auf Seite 2, warum Sven Regener Schwaben-Hass für Rassismus hält.

Wehren Sie sich deshalb immer dagegen, dass Ihre Romane „Herr Lehmann“ und jetzt vermutlich „Kleiner Bruder“ als Berlin-Romane gelesen werden?

Nun, es sind ja keine Berlin-Romane. Es sind keine Bücher über Berlin, sondern über Frank Lehmann. Sie spielen halt in Berlin, aber eine Geschichte, die in Bielefeld angesiedelt ist, kann genauso bizarr oder normal sein. Auch das Bielefeld des Jahres 1980 war vielleicht unter bestimmten Voraussetzungen eine seltsame und fremde Welt.

Allerdings ohne jeden Faktor des Glamourösen.

Na gut. Aber der ist bei „Herr Lehmann“ auch nicht mehr da. Das Interessante an Frank Lehmann zu dem Zeitpunkt ist doch eher, dass er die ganze Auflösung des Ostblocks völlig verpasst. Er hat andere Probleme: Seine Freundin verlässt ihn, sein bester Freund muss in die Klapse. Das hat nur sehr indirekt mit Berlin zu tun. Berlin kann alles mögliche bedeuten, was weiß man denn wirklich über jemanden, der aus West-Berlin kommt?

Sie meinen: aus Kreuzberg. „Der kleine Bruder“ spielt dort bis auf das letzte Kapitel. Das hat etwas sehr Enges, Abgezirkeltes, Muffiges, wie sich hier einer seine kleine Welt schönlebt.

Aber jetzt hören Sie doch mal auf! Beim „Zauberberg“ sagt das doch auch keiner. Ist das ein Davos-Roman? Oder bei „Doktor Faustus“! Da macht sich doch auch ein Hans Castorp oder ein Adrian Leverkühn die Welt klein! Aber einem, der gerne in Kreuzberg lebt, wird genau das vorgeworfen. Wie lächerlich. Als müssten alle Romanfiguren immer Globetrotter sein, oder was? Kleine Kreuzberg-Welt – so was sagen dann Hamburger Journalisten, die aus Eppendorf auch nicht groß rauskommen, gerade mal zur Brandstwiete …

… an die Elbe, wo die Redaktion des „Spiegel“ sitzt …

… und zurück, oder höchstens noch mal zum Einkaufen ins Alsterhaus. Was ja okay ist, aber eben auch nicht gerade die große Welt. Die kommen auch nie nach Poppenbüttel. Kreuzberg, selbst das alte SO 36, ist da immer noch eine Ecke größer. Niemand kann in ganz Berlin wohnen. Okay, neulich war ich mal in Spandau, weil dort die Eagles Of Death Metal in der Zitadelle gespielt haben. Aber was soll ich denn sonst dort? Was würde ich denn damit beweisen, wenn ich da immer mal hinfahren würde, damit mir keiner sagt, ich würde nur in dem einen Viertel leben – in diesem Fall jetzt Prenzlauer Berg, aber das ist ja auch egal.

Können Sie sich vorstellen, einmal einen Roman über den Prenzlauer Berg zu schreiben?

Nein. Aber ich könnte mir vorstellen, einen zu schreiben, der dort spielt. Stadtviertel sind keine handelnden Subjekte. Man schreibt einen Roman über Menschen. Ich kann aber kein Buch in Bielefeld spielen lassen, denn ich kenne mich da nicht aus. Und was heißt schon Kreuzberg? In Kreuzberg gab und gibt es doch ohne Ende Parallelwelten. Das ist doch so eine Mulitkulti-Lebenslüge: Ich habe in Kreuzberg nie einen Deutschen gekannt, der mit einem Türken befreundet gewesen war. Und in die Türkencafés, das nur mal als Beispiel, darf man oft gar nicht rein. Aber das macht ja nichts, die Leute müssen doch nicht den ganzen Tag Händchen halten, und wenn es einem nicht passt, zieht man weg.

Ist das jetzt ein Plädoyer für den mobilen Großstadtbewohner und gegen die Kiez-Liebhaber?

Ja. Der ganze Kiez-Quark, das ist doch alles nur muffig. Und übrigens überhaupt nicht Frank Lehmanns Ding, falls das noch keinem aufgefallen ist. Denn wenn einer sagt, unser Kiez soll so und so sein, ist das die Voraussetzung dafür, dass einer totgeschlagen wird, wenn er nicht reinpasst.

In Prenzlauer Berg hängen an den Spielplätzen Zettel an den Bäumen, die vor den Schwaben und dem Blockwarttum der Neu-Prenzlauer-Berger warnen.

Habe ich noch nicht gesehen, kann aber sein. Es gibt immer Menschen, die Feindbilder brauchen. Früher hieß es in Kreuzberg auch öfter mal, die Scheißtouristen sollten abhauen. Ich habe mal erlebt, wie geborene Berliner auf der Wiener Straße als Touristen beschimpft wurden, und zwar von Leuten mit schwäbischem Akzent. Aber das ist kein Argument gegen die Schwaben. Wer gegen Schwaben ist, ist auch nur Rassist.

Schwingt bei diesen Zetteln in Prenzlauer Berg nicht auch die Angst vor Gentrifizierung mit?

Vielleicht. Aber Angst ist kein guter Ratgeber. Prenzlauer Berg ist jetzt einfach ein bürgerliches Viertel, in dem viel Geld drinsteckt. Die Leute dort mit ihren Restaurants, Kinderklamottenläden und den ganzen anderen kulturellen Codes, die müssen auch irgendwo leben.

Sie verdrängen die Alteingesessenen.

Das gilt immer und überall für jeden Neuankömmling. Soll man deshalb den Leuten verbieten, irgendwo hinzuziehen? Müssen wir deshalb für immer dort wohnen bleiben, wo wir geboren sind? Die Dinge, und damit auch die Wohnviertel, ändern sich. Das wäre nur dann schlimm, gäbe es sonst in Berlin überhaupt keine anderen Wohnungen mehr und die Leute müssten auf der Straße wohnen. Und was heißt ansonsten Alteingesessener? Ab wann hat man diesen Titel, was muss man dafür tun? Mein Gott, wir reden hier über Mietwohnungen. Da kann man ein- und ausziehen.

Herr Regener, vergeblich wartet man bei der Lehmann-Trilogie darauf, dass Ihre Figur eine Art von Entwicklung durchläuft.

Frank Lehmann hat Spaß an dem, was er macht: Becks rausgeben, abkassieren, Bierkästen stapeln, Bier aus dem Keller holen, Theke abwischen. Und das ist offensichtlich für manche Leute schwer zu verstehen. Ich finde es bedenklich, wenn einer Romanfigur bescheinigt wird, nur weil sie in einer Kneipe arbeitet und damit sehr zufrieden ist, dass sie ein Taugenichts ist, der sich nicht entwickelt. Wer jahrelang Chefredakteur bei der „Zeit“ ist, wird doch auch nicht gefragt, warum er eigentlich nicht mal was anderes macht.

Sie als sein Schöpfer lieben Herrn Lehmann eben.

Ich hätte jedenfalls nicht gedacht, dass das Sozialprestige der Arbeit, die Herr Lehmann macht, so niedrig ist! Dass so viele Leute so vernagelt durch die Welt gehen und denken, ihre Karrierevorstellungen seien das Maß aller Dinge und der Sinn allen Lebens! Aber dann sauer werden, wenn man sein Bier nicht sofort kriegt!

Ist es nicht das Ideal eines Entwicklungsromans, dass am Ende zumindest ein Minimum einer Bewusstseinswerdung stattgefunden hat?

Wer sagt denn, dass ich einen Entwicklungsroman schreiben muss? Und was verstehen Sie eigentlich unter „Bewusstseinswerdung“? Das Bizarre ist doch, dass sich das Thema von „Herr Lehmann“, nämlich die Selbstbehauptung des Einzelnen gegenüber den spießigen und unterdrückerischen Zumutungen seiner Umgebung, in die literarische Rezeption hinein verlängert. Und nicht nur in Bezug auf seinen Job: Auf einer der Frankfurter Buchmessen saß ich mal in einer Runde mit Peter Rühmkorf. Rühmkorf wies mich darauf hin, Lehmann lese mit Mommsens Römischer Geschichte das ganz falsche Buch, Niebuhr müsse man lesen, wenn man sich für die Römische Geschichte interessiere.

Und?

Naja, ist schon ein bisschen seltsam so was! Aber es beweist doch irgendwie auch die Lebendigkeit der Figur. Am Ende läuft es darauf hinaus: Frank entwickelt sich, aber er knickt nicht ein. Und das scheint mehr zu provozieren, als ich gedacht habe.

Sven Regener, 47, schrieb mit „Herr Lehmann“ einen Roman, der sich mehr als eine Million mal verkaufte und von Leander Haußmann verfilmt wurde. Nun erscheint mit „Der kleine Bruder“ (Eichborn Berlin) der letzte Teil einer Trilogie. Regener ist Sänger der Band Element of Crime, die gerade eine neue CD veröffentlicht hat.

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