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Gamze Kubasik, die Tochter des ermordeten Kioskbesitzers Mehmet Kubasik, spricht über den Tod ihres Vaters.

© dpa

NSU-Mord an Mehmet Kubasik: Das Leben mit dem Schmerz

Im April 2006 hat der NSU ihren Vater getötet. Seitdem muss Gamze Kubasik sehr stark sein, denn sie will ihrem Vater eine Stimme geben. In ihrem Inneren aber herrschen Schmerz und Dunkelheit. Erstmals erzählt sie darüber.

Sie sehnt sich nach sich selbst. Aber noch, sagt sie, sei alles, was andere von ihr sehen können, Fassade. Dahinter ist Dunkelheit. Sie kann sich dort im Inneren einfach nicht mehr finden. Nur den Vater, ihren geliebten Vater, sieht sie an diesem düsteren Ort immer wieder aufleuchten, auch wenn das Bild verschwimmt. Sie bekommt es nie scharf gestellt. Wenn es weg ist, hinterlässt es Leere. Das passiert ihr jeden Tag, seit sieben Jahren.

Wenn sie aber Beate Zschäpe überstanden hat und der Prozess vorbei ist, wird ihr Moment gekommen sein. Das ist ihre Hoffnung. Endlich wird sie dann zu sich finden. Sie will wieder Gamze Kubasik werden. Sonne fällt in die kleine Dachgeschosswohnung in der Dortmunder Nordstadt. In dieser gemütlichen privaten Trutzburg sammelt Gamze Kubasik, 27, verheiratet, ihre Kräfte. Sie sitzt auf einem sandfarbenen Sofa, und wenn sie beim Erzählen einmal ausgelassen lacht, kann man die enorme Stärke dieser kleinen Frau ganz gut in ihren Augen sehen. Sie hat sich stärker gemacht als sie ist, um dem toten Vater eine Stimme zu geben und um ihn, wie sie sagt, "allen so zu präsentieren, wie er wirklich war".

Aber sie weiß: Seit dem 4. April 2006 haben Ängste von ihr Besitz ergriffen, wie sie sie zuvor noch nie gekannt hatte. An diesem Tag im April wird ihr Vater Mehmet Kubasik vor seinem Kiosk mutmaßlich von den Neonazis Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, vielleicht mit Hilfe von Beate Zschäpe, mit mehreren Schüssen in den Kopf getötet. Er war das achte Opfer des selbsternannten Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Zwei Tage später wurde Halit Yozgat in Kassel erschossen und ein Jahr später das letzte Opfer, die Polizistin Michélle Kiesewetter.

Im März 2013, an einem der wenigen schon sonnigen Tage, sechs Wochen vor Beginn des NSU-Prozesses in München, redet Gamze Kubasik ganz bewusst von ihrer, wie sie sagt, "dunklen Seite", denn sie will, dass die Öffentlichkeit weiß, was die Mörder ihres Vaters auch mit ihrem Leben angerichtet haben. Ein paar Meter von Kubasiks Wohnung entfernt sind die Rollläden des alten Kiosk der Familie heruntergelassen. Der Laden steht leer, nur ein alter Wasserkocher und die Spüle, die man durch ein Fenster im Hofeingang sehen kann, erinnern an ihr altes Leben. An glückliche Tage.

Schräg vor dem Laden, direkt an der stark befahrenen Mallinckrodtstraße, ist der Gedenkstein an ihren Vater Mehmet Kubasik eingelassen, der für Gamze Kubasik, ihre jüngeren Brüder und für die Mutter wie ein zweiter Grabstein ist, zu dem sie gehen können und trauern. Das richtige Grab liegt viele tausend Kilometer entfernt in der Provinz Kahramanmaras im südöstlichen Teil Anatoliens in der Türkei nicht mehr weit von der syrischen Grenze entfernt.

Von hier stammen Mehmet Kubasik und seine Frau, beiden zusammen haben 15 Geschwister, und das sie überhaupt von diesem Ort nach Deutschland kamen, geschah unfreiwillig. Sie sind kurdisch-türkische Aleviten, und in dieser Gegend der Türkei gab es einige heftige Auseinandersetzungen mit Bürgern dieser muslimischen Glaubensrichtung, die generell bis heute von den Mehrheits-Muslimen in der Türkei nicht als gleichberechtigte Religionsgemeinschaft anerkannt wird. Mehmet Kubasik jedenfalls beschloss, nach dem er immer wieder Angst vor Verfolgung haben musste, mit seiner Frau und der Tochter nach Deutschland zu fliehen.

Gamze Kubasik ist damals, 1989, vier Jahre alt, der Vater 23. Ein Bekannter lotst sie nach Deutschland ins Ruhrgebiet nach Dortmund. Zwei Wochen wohnen sie zusammen mit anderen Flüchtlingen in einer umgebauten Schule und schließlich in einem Flüchtlingsheim. Sie bekommen den internationalen Flüchtlingspass für anerkannte Asylsuchende, 2003 den deutschen Pass.

Mehmet Kubasik, der zu Hause auf den Feldern seines Vaters gearbeitet hatte, wo es der Familie wirtschaftlich sehr gut ging, jobbt erst als Hilfskraft in einem Obst- und Gemüsegroßhandel, später als Bauarbeiter, und schließlich, als er sich nach einem Schlaganfall wieder erholt hat, beschließt er, sich mit dem Kiosk selbständig zu machen.

Warum Gamze Kubasik nicht mehr schlafen kann

Mehmet Kubasik auf einem undatierten Bild.
Mehmet Kubasik auf einem undatierten Bild.

© Ufuk Ucta

Auf dem Sofa kann Gamze Kubasik nicht mit Worten formulieren, wie nahe sie ihrem Vater war. Sehr nahe jedenfalls. Sie erzählt von einem herzlichen Mann, offen und geradeaus, der auf die Menschen zugegangen sei. In ihrer Erinnerung lacht der Vater meistens, sie wiederum dreht stundenlang mit den Fingern in seinem Haar herum oder spielt ihm Streiche. Am liebsten guckt sie ihm einfach zu, wie er mit den Leuten redet. Das macht sie stolz.

Der Laden in Dortmund wird für viele Anwohner ein Treffpunkt. Mehmet Kubasik hat hier getan, was er offensichtlich sehr gut konnte, mit Menschen reden, ihnen das Gefühl geben, hier hört ihnen einer zu. Er kannte bald jeden in dieser Gegend, es ergaben sich Freundschaften mit Türken und Deutschen. Die Nationalität war egal. Und natürlich war er Fan vom BVB. Der Laden war fast immer offen, von 7 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts. Sie schufteten. Mutter, Vater und Tochter wechselten sich ab, die jüngeren Brüder waren noch zu klein. Heute sind sie 13 und 18.

Niemals, sagt Gamze Kubasik, habe man ein Problem mit Fremdenfeindlichkeit gehabt. Mehmet Kubasik war ohnehin ein glühender Verteidiger seiner neuen Heimat. Einmal reist die Familie zu einer Tante nach Frankreich. Ein Freund der Familie schimpft auf die Deutschen, sie seien unfreundlich und würden die Türken schlecht behandeln. Die Tochter erinnert sich kichernd: "Mein Vater stand wütend auf und erklärte, dass er nichts auf Deutschland kommen lasse, man habe ihn dort aufgenommen, er habe Arbeit und viele deutsche Freunde." Niemand durfte in seiner Anwesenheit schlecht reden über "sein" Land.

In der Schule wird Gamze Kubasik ein einziges Mal aufgrund ihrer Herkunft angegriffen: Muslimische Mädchen mit Kopftuch lästern über die "Alevitin": "Und ihr seid also die, die wie die Deutschen leben", rufen sie ihr nach. Ihre deutschen Freundinnen verheimlichen viele Dinge vor ihren Vätern, vor allem, auf welche Partys sie gehen und wo sie übernachten. Mehmet Kubasik dagegen wird eine Art Vertrauter für die Jugendlichen. Er fährt die Clique auch zu den nächtlichen Feiern und holt sie wieder ab. Das ist seine Bedingung. Er passt schon auf.

Heute aber, wenn Gamze Kubasik nachts mal wieder nicht schlafen kann, schützt sie niemand vor den Bildern aus dem dunklen Tal in ihrer Seele. Sie sieht den Vater in seiner Blutlache oder versucht sich auszumalen, wie er von den Schüssen getroffen zusammensackt. Es ist wie ein Zwang, sie muss sich diese Szenen vorstellen. Denn sie hat den Vater an dem Tag, als er ermordet wurde, nicht mehr zu Gesicht bekommen. Mindestens einmal in der Woche kann sie deshalb nachts nicht schlafen. Es tobt dann ein nicht zu lokalisierender Schmerz in ihr, der sich manchmal in heimlichen unheimlichen Heulkrämpfen entlädt. Dann hockt sie im Badezimmer und lässt das Wasser laufen, damit ihr Mann sie nicht hört.

Die Tage, bevor das Unfassbare geschieht, sind glückliche Tage. Der Vater beschließt gemeinsam mit der Familie, den Laden, auch wenn er gut läuft, aufzugeben. Es ist kein Familienleben mehr möglich, sie sehen sich oft nur, wenn sie sich im Kiosk ablösen. Selbst das für den Vater heilige Ritual, das Abendbrot gemeinsam zu essen, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Als Gamze Kubasik erfährt, dass es einen Kaufinteressenten gibt und der Vater wieder einer zeitlich geregelten Arbeit nachgehen wird, ruft sie spontan: "Cool, dann machen wir im Sommer Urlaub."

Am 4. April 2006 stoppt der Bus, der sie von der Schule bringt, wie immer ein paar hundert Meter vor dem Kiosk an einer Haltestelle. Sie steigt aus, und sieht, es stimmt etwas nicht. Aber sie kommt gar nicht erst bis zum Tatort, ein Polizist fängt sie vorher ab. Dann fällt ein Vorhang, sie wird ohnmächtig. Es ist der Beginn ihres Albtraums, er beginnt gegen 13.10 Uhr mittags, der von der Polizei angegebenen Tatzeit, und dauert noch heute an. Keine 24 Stunden später wird die Familie erstmals lange verhört, sechs, sieben Stunden dauert das. Die Tochter wird immer wieder gefragt: "Hat dein Vater Drogen genommen?", "Hat dein Vater mit Drogen gehandelt?". Gamze Kubasik und ihre Brüder müssen Speichelproben abgeben, die die Polizei auf Drogen testet. Drogenhunde durchsuchen den Kiosk, die Wohnung, den Keller. "Ich habe damals immer gedacht, die machen das alles, weil sie uns helfen wollen", sagt Gamze Kubasik und schweigt.

Semiya Simsek war die Erste, die sie verstand

Freundin fürs Leben: Semiya Simsek, deren Vater Enver das erste Mordopfer war.
Freundin fürs Leben: Semiya Simsek, deren Vater Enver das erste Mordopfer war.

© Doris Spiekermann-Klaass

Beim ersten Mord im Jahr 2000 an Enver Simsek konnte die Polizei noch nicht ahnen, dass sich alle folgenden Taten sehr ähneln würden. Wieder wurde mit einer Pistole tschechischen Fabrikats geschossen, wieder wurde aus kurzer Distanz auf den Kopf gezielt, und wieder war das Opfer ein Kleinunternehmer mit ausländischen Wurzeln. Die Ermittler haben viele Vermutungen, Familienstreit, Drogenmafia, religiöse Konflikte. Aber auch in diesem Fall wird, wie bei allen anderen, die Spur Fremdenfeindlichkeit nicht ernsthaft verfolgt. Tatverdächtig bleiben dagegen die Kubasiks selbst. Und nicht nur das.

Ganz Dortmund weiß in wenigen Tagen, dass die Polizei Mehmet Kubasik für einen Drogendealer hält. Gamze Kubasik schließt sich ein Jahr zu Hause ein und weigert sich, auf die Straße zu gehen. Sie sagt heute: "Alle haben schlecht über ihn geredet. Sie haben ihn nicht nur ermordet, sie haben ihm seine Menschlichkeit genommen. All das Positive, was er ausstrahlte und was er besaß, sollte plötzlich nicht mehr existiert haben." Sie ist 21, als der Vater aus ihrem Leben gerissen wird. Sie spaltet ihre Persönlichkeit auf. Der sichtbare Teil von ihr übernimmt noch mehr Verantwortung, sie muss sich um die Mutter kümmern und um die beiden Brüder. Jahrelang ist sie diejenige, die zu Elternsprechtagen geht, die die Klassenarbeiten ansieht oder die Zeugnisse unterschreibt. Zwischendurch ist sie sechs Monate in der Türkei, im Dorf ihres Vaters. Der Freund, den sie heiraten wird, will, dass sie in der Türkei bleibt. Aber sie hält es dort nicht aus. Sie sagt: "Meine Heimat ist Deutschland." Ihr Mann zieht mit ihr nach Dortmund.

Sie hat jetzt lauter Rollen: Ehefrau, Familienoberhaupt, Vaterersatz für die Geschwister und Vorkämpferin für eine These, die sich erst im November 2011 bewahrheiten soll. "Ich habe immer daran geglaubt, dass es Rechtsextremisten sein mussten, aber das wollte ja niemand wahrhaben."

An dieser Stelle, irgendwann im Spätsommer 2006, verzahnen sich die Geschichten von drei Hinterbliebenen der Neonazi-Mordserie. Das Telefon klingelt im Hause Kubasik, der Vater des nur zwei Tage nach dem Mordanschlag auf Mehmet Kubasik getötete Halit Yozgat ist am Apparat. Die Mutter stellt auf Lautsprecher, aber niemand versteht, was der Mann sagt. Er schreit und weint, bis seine Ehefrau den Hörer nimmt und für ihn spricht. Man wolle, sagt sie, eine Demonstration organisieren, weil man glaube, dass die Polizei einen ausländerfeindlichen Hintergrund nicht sehen will.

Auch die Mutter von Gamze Kubasik versucht nun, andere für diese Idee zu gewinnen und telefoniert alle Opferfamilien ab. Eine Ehefrau sagt zu ihr: "Wie kannst du deinem Mann noch schützen nach all' den Vorwürfen." Offensichtlich glauben selbst manche Hinterbliebenen eher der Polizeitheorie.

Es kommen nur drei der Angehörigen. Aber bei der Demonstration lernt Gamze Kubasik zum ersten Mal jemand kennen, der sie wirklich verstehen kann. Die junge Frau rennt mit den Worten auf sie zu: "Gamze, auch dein Vater hätte nicht sterben müssen." Es ist Semiya Simsek, die vor wenigen Tagen ihr Buch "Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater" veröffentlicht hat. Die beiden fühlen wie Schwestern, und ihre Geschichten und inneren Kämpfe ähneln sich. Es ist kein Zufall, dass bei der offiziellen Gedenkfeier für die Opfer und Angehörigen der Neonazi-Mordserie im Februar 2012 die Redner Simsek, Kubasik und Yozgat heißen. Bis heute sind diese Drei bis auf ganz wenige Ausnahmen die einzigen, die öffentlich sprechen und den Opfern eine Stimme geben. Für die Tochter von Mehmet Kubasik ist es eine Erleichterung, ihre öffentlichen Auftritte, der gemeinsame Kampf für die Opfer, macht sie stark. Sie sagt: "Darüber zu reden und zu berichten, was geschehen ist, ist auch eine Art Therapie. Vielleicht ist es meine Art." Jedenfalls hält es die Dämonen in ihr einigermaßen in Schach.

Sie engagiert sich fortan immer wieder politisch, redet auf Gewerkschaftstagen, wählt als Vertreterin für die Grünen in der Bundesversammlung den Bundespräsidenten mit und gibt immer wieder Interviews, in denen sie mahnt, die auch von Bundeskanzlerin Angela Merkel versprochene Aufklärung müsse endlich erfolgen.

Das ist die starke Seite von ihr. Aber einmal, auf einer Veranstaltung zur Erinnerung an den Nationalsozialismus, steht plötzlich ein alter Mann vor Gamze Kubasik und ihrer Mutter. Er sagt zur Mutter: "Sie haben es leichter. Ihre Tochter dagegen ist nach außen stark, aber wenn sie nach Hause kommt, weint sie." Gamze Kubasik ist irritiert, niemand hat ihre Situation bisher so genau auf den Punkt bringen können, und nun macht das ausgerechnet ein fremder Mann. Sie schweigt, aber sie ist auch erleichtert, weil die Mutter nun weiß, wie es um ihre Tochter steht. Sie hätte es ihr selbst nicht gesagt, aus Angst, ihr noch mehr Kummer zu bereiten.

Gamze Kubasik erzählt in ihrer Wohnung von Tagen, an denen sie sich dafür schämte, dass sie fröhlich war oder gelacht hat. Wenn sie mit Freunden ausgeht, schweifen ihre Gedanken immer wieder ab, und sie kann der Unterhaltung nicht folgen. Oft wird ihr in der U-Bahn plötzlich heiß, weil sie sich verfolgt fühlt. Wie aus dem Nichts steigt Panik in ihr hoch. Sie hadert dann mit sich und macht sich selbst Vorwürfe, dass sie nicht normal leben und keinen Schlussstrich ziehen kann.

Sie sagt: "Ich weiß nicht, was mir helfen würde, meinen Schmerz zu überwinden." Sie weiß nur, dass sie Beate Zschäpe beim Prozess in die Augen sehen will.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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