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Sie brauchte Jahrzehnte, um ihre "Muttergruppe" fertigzustellen. Noch 1935 sieht man sie am Gipsmodell der Skulptur feilen. Zu jener Zeit hat die 68-Jährige in einer Ateliergemeinschaft Unterschlupf gefunden.

© Bundesarchiv Koblenz

150. Geburtstag von Käthe Kollwitz: Die Mühen einer Mutter

Käthe Kollwitz wollte heiraten, eine Familie gründen und trotzdem Künstlerin sein. Ein abwegige Idee? Wie sie Haushalt, Familie und ihre Ansprüche an die Kunst zusammenbrachte - eine Spurensuche.

Als Käthe Kollwitz am 1. Dezember 1916 die Tür zu ihrem Atelier aufschließt, quillt ihr nachtschwarzer Rauch entgegen. „Daß es brannte, hörte ich nur, die Flamme war vor Rauch unsichtbar“, berichtet die Künstlerin noch am selben Tag ihrem Sohn Hans. „Faßte mir nun ein Herz (denn ich hatte gräßliche Angst vor Rauchvergiftung) und lief mehrmals mit Eimern Wasser nach hinten, goß immer die ganzen Kübel aus und als die Feuerwehr kam, war das eigentliche Feuer schon gelöscht. Trotzdem fanden sie noch verschiedene Stellen, wo es noch glimmte und hackten Stücke des Fußbodens aus.“

Über dem Kohleofen hatte ein Vorhang Feuer gefangen und eine große Zeichnung an der Wand in Brand gesetzt. „Wäre ich aber nur eine halbe Stunde später gekommen, hätte der Raum innen ausbrennen können und meine Arbeit wäre hingewesen“, meint die Künstlerin mit Blick auf die Zeichnungen und plastischen Entwürfe in Gips oder Ton, auf die fragilen Ideen, die in diesem Werkraum noch auf die Gestalt und Form warten, die den Weltruhm von Käthe Kollwitz ausmachen werden.

Sie ist 49 und eine Berliner Berühmtheit, als ihr das Missgeschick widerfährt. Ein halbes Jahr später werden etliche Ausstellungen im Kaiserreich die Bedeutung der unermüdlich Arbeitenden vergrößern und einige der Werke präsentieren, mit denen sie in diesem zweiten Kriegswinter ringt. Ihr Atelier befindet sich am Spreeufer, im heutigen Hansaviertel, 16 Jahre geht sie dort hin. Es ist sogar ein Gedicht überliefert, das ihr Schaffen dort benennt:

"In Siegmundshof, mit de Fenster zur Spree / Da stand mal n’ Haus, det hieß ,Atelier’. / Da hab’ ick de Käthe Kollwitz jesehen / Mal janz versunken am Fenster stehen - / Im weißen Kittel – schneeweiß ooch det Haar."

„Wenn man allein arbeitet, ist man ungleich fleißiger."

Aus dem kulturellen Gedächtnis ist das Atelierhaus mit der Adresse Siegmunds Hof 11 praktisch ausgelöscht. Das Gebäude steht nicht mehr. Auch wo die Künstlerin sonst in der Stadt ihre Arbeitsstätten fand, ist weitgehend vergessen. Dabei hatte sie als zweifache Mutter, Ehefrau und Berufstätige ein bis heute für viele Frauen elementares Problem zu lösen: Wie stelle ich es an, dass Familie und Beruf zusammenpassen?

Die Ateliers der Käthe Kollwitz erzählen viel darüber, wie sie ihren Alltag in verschiedenen Lebensabschnitten organisierte – pragmatisch und eigenwillig, mit viel Empathie für die Menschen um sie herum und der unerlässlichen Portion künstlerischen Egoismus’, ohne den es nicht geht im Alltag zwischen Kinderzimmer, Arztpraxis, Radier- und Bildhauerwerkstatt.

1867 in Königsberg geboren, wollte Käthe Schmidt früh sowohl Mutter als auch Künstlerin sein. Für eine Frau ihrer Generation war das eine ziemlich gewagte, ja abwegige Idee. Entweder blieb man kinderlos. Oder man gab mit der Familiengründung die großen Ambitionen auf. Kollwitz' Lebensentwurf sah anders aus.

Schon als Kunststudentin in München und danach wieder in Königsberg hatte sie festgestellt, wie wichtig ihr ein eigener ungestörter Arbeitsraum war. Ihr Atelier war „sehr klein“, gerade groß genug, um sich ein Modell zu stellen. Aber sie sah als Malerin Vorteile darin: „Ich finde, wenn man allein arbeitet, ist man ungleich fleißiger und kommt besser vorwärts.“

Dann heiratete sie den Arzt Karl Kollwitz und ging mit ihm 1891 nach Berlin, wo sie meistens zu Hause arbeitete, in der Weißenburger Straße 25, in einem bürgerlichen Eckhaus in Prenzlauer Berg, gelegen an jenem Platz, der heute ihren Namen trägt. Wegen der beengten Verhältnisse hatte sie die anspruchsvolle Ölmalerei aufgegeben und spezialisierte sich auf Zeichnung und Radierung: „aus der praktischen Überlegung, daß ich in Berlin für die ersten Jahre meiner Verheiratung kaum Geld genug haben werde, um mir ein Atelier zu mieten. In engen Stuben, die man bewohnt, Ölbilder zu malen, das ist ein trauriger Gedanke. Das Radieren ist doch lange nicht so umständlich.“

Die Lithografie erschien Käthe Kollwitz angemessen für das kleine Arbeitszimmer, das sie in ihrem Wohnhaus nutzte. Hier inspiziert sie 1910 eine Kupferplatte.
Die Lithografie erschien Käthe Kollwitz angemessen für das kleine Arbeitszimmer, das sie in ihrem Wohnhaus nutzte. Hier inspiziert sie 1910 eine Kupferplatte.

© Hänse Herrmann, Nachlass Kollwitz Käthe Kollwitz Museum Köln

Schon vor ihrer Heirat hatte sie sich vorausschauend auf die zu erwartenden beschränkten Raumverhältnisse Grundkenntnisse in grafischen Techniken angeeignet. Die improvisierte Grafikwerkstatt in der Wohnung, in der ihr Mann auch seine Kassenpatienten empfing, bildete zwar nur eine Notlösung. Aber sie gab der jungen Frau die Chance, auch nach der Geburt ihrer Söhne Hans und Peter jede freie Minute zu nutzen und trotzdem erreichbar zu sein. Während ein Kindermädchen unten den Kinderwagen über den Wörther Platz schob, hantierte sie oben mit Zeichenstift, Radiernadel, Kupferplatte und großen Papierbögen. Vormittags, wenn ihre Schwägerin Lisbeth als Lehrerin außer Haus war, durfte Käthe Kollwitz deren Stube eine Etage tiefer zum Zeichnen und Radieren nutzen.

Einen richtigen eigenen Arbeitsraum nahm sie zwischen Wartezimmer und Praxis ihres Mannes erst in Beschlag, als die anfangs finanziell klamme Familie eine zweite Wohnung im Haus anmieten konnte. Das Privatleben mit den beiden Kindern spielte sich nun hauptsächlich auf Etage drei ab, gearbeitet wurde im Geschoss darunter. Später meinte sie: „Es glückte nur sehr langsam, da auch meine Zeit, weil ich zwei Kinder hatte, knapp bemessen war.“

Ihr jüngerer Sohn Peter war kaum zwei Jahre alt, da trat die Künstlerin 1898 mit einem Grafikzyklus an die Öffentlichkeit, dessen Vehemenz und künstlerische Meisterschaft gestandene Kollegen wie Liebermann und Menzel verblüffte. Der „Weberaufstand“ brachte ihr den Durchbruch, auf Anhieb. Von nun an musste man mit ihr rechnen. Der „Bauernkrieg“-Zyklus, den sie anschließend vorantrieb, setzte mit seiner unerbittlichen Parteinahme für die Entrechteten noch eins drauf.

Als die junge Grafikerin Sella Hasse die ältere Kollegin um 1902 in ihrem „schmucklosen Arbeitsraum“ besuchte, erlebte sie ein „Labor mit den geheimnisvollen Ätzungen in Aquatinta und Vernis mou und der fast eremitischen Stille“.

Skulpturen brauchen Platz. Und mehr Licht.

Sie sah „unter der Lampe die Dominante, eine Kupferdruckpresse, daneben ein langer Tisch. Seine Platte war vom Alter gerunt, rauh und riefig die Maserung. Platten, Tampon und anderes Gerät befanden sich darauf. Einem großen Schrank aus rohem Holz entnahm sie Zeichnungen und Radierungen.“

In der Weißenburger Straße entstanden bis Mitte 1912 sämtliche Arbeiten von Käthe Kollwitz, also der größte Teil ihres grafischen Werks. In der Umgebung fand sie ihre Modelle, oft Arbeiterfrauen. Sie begleitete ihren Mann in die Krankenstuben von Heimarbeiterinnen und Tagelöhnern in der Nachbarschaft. Sie zeichnete im Frauengefängnis, verarbeitete Eindrücke von Arbeiterstreiks in Moabit, besuchte das Leichenschauhaus in der Hannoverschen Straße und das städtische Obdachlosenasyl in der Fröbelstraße, nicht weit von ihrer Wohnung. 1909 druckte der Münchener „Simplicissimus“ eine Serie „Bilder vom Elend“, 1912 verbot der Berliner Polizeipräsident ein von ihr gestaltetes Plakat gegen die Wohnungsnot.

Solche Auftragsarbeiten, oft unter Zeitdruck entstanden, nutzte Kollwitz, um öffentlich zu zeigen, „was noch lange nicht genug gesagt worden ist: die vielen stillen und lauten Tragödien des Großstadtlebens“. Aber irgendwann schien ihr das grafische Medium künstlerisch ausgereizt.

Es passte ihr auch nicht, ausschließlich auf die Rolle einer sozialkritische Künstlerin festgelegt zu sein. Sie wollte stärker allgemeingültige, menschliche Themen gestalten, Figuren in den Raum stellen. Skulpturen schaffen! Da lockte Neuland.

Die Kinder waren noch klein, Peter im Vorschulalter, da brach sie 1904 für Monate nach Paris auf, ins Zentrum der Avantgarde. Sie besuchte Auguste Rodin, den Altmeister moderner Plastik, belegte Aktkurse als Basis für den von ihr anvisierten Schritt in die Bildhauerei. Zurück in Berlin dauerte es aber doch Jahre, bis Kollwitz erst zaghaft, dann beharrlicher begann, sich im dreidimensionalen Medium zu erproben. Sie stellte fest: Dafür musste ein richtiges Atelier her. Die Plastik braucht Platz. Und mehr Licht.

Das Atelierhaus Siegmunds Hof am Spreebogen in Tiergarten war von 1912 bis 1928 Kollwitz Arbeitsstätte, wo sie ihre Skulpturen-Projekte umsetzte.
Das Atelierhaus Siegmunds Hof am Spreebogen in Tiergarten war von 1912 bis 1928 Kollwitz Arbeitsstätte, wo sie ihre Skulpturen-Projekte umsetzte.

© Archiv Bienert/Buchholz

Sie bat eine jüngere Kollegin, ihr bei der Suche zu helfen. Keine leichte Sache. Schon in der Kaiserzeit herrschte in Berlin Ateliernotstand. Bezahlbarer Raum für Künstler war knapp, zumal Frauen vom akademischen Kunstbetrieb ausgeschlossen waren und nicht auf eine Akademieprofessur samt Werkstatt hoffen konnten.

Mit seinen großen Fenstern und auffallend hohen Geschossen glich das wuchtige, mehrstöckige Atelierhaus in Siegmunds Hof einem schmucklosen, nüchternen Manufaktur- oder Fabrikgebäude. Zur ersten Nutzergeneration gehörte nach der Fertigstellung 1887 der arrivierte Bildhauer Reinhold Begas, Schöpfer des Neptunbrunnens, der sich gleich drei große Räume im Erdgeschoss sicherte. Die idealen Lichtverhältnisse – Fenster nach Norden für indirekte Helligkeit – waren gerade für Bildhauer wichtig. Innen hatte das Haus etwas von einem summenden Bienenstock. Dutzende Maler, Bildhauer und andere Kreative werkelten auf mehreren Etage. Die Fluktuation war hoch, manche blieben nur für kurze Zeit, andere für Jahre.

„Es macht doch furchtbar viel aus, dass man gutes Licht hat“, freute sich Kollwitz nach ihrem Einzug 1912. „Mein Arbeiten im Atelier ist fein, vorläufig geht es ordentlich unheimlich gut alles vonstatten dort.“

Sie war Mitte 40 und fühlte sich am Beginn einer neuen Lebensphase: „Ich rücke allmählich in die Periode meines Lebens herein, wo Arbeit an erster Stelle steht.“ Ihre Söhne Hans und Peter waren selbstständig und nahezu erwachsen, das Problem, künstlerische Arbeit und Familie unter einen Hut zu bekommen, schien endlich erledigt. So lag Siegmunds Hof nicht gerade um die Ecke, war aber trotz der Distanz zu Prenzlauer Berg gut mit Straßenbahn und Stadtbahn erreichbar.

Heißt Liebe fest umschlingend?

Täglich, meist vormittags, machte sich Kollwitz auf den Weg. Unter den im Jahr ihres Einzugs 1912 im Adressbuch verzeichneten 34 Künstlern befanden sich acht Frauen. Die jüngeren pflegten einen Lebensstil, wie ihn Kollwitz selbst vor ihrer Heirat genossen hatte: „Ging zur Wittekind hinauf“, schrieb sie einmal, „und fand sie Strümpfe stopfend neben ihrem Mittag, das auf Gas kochte. Zeigte mir ihre Arbeiten (...). Vielleicht gehört sie zu den wenigen jungen Frauen, die wirklich allein für sich leben können. Ich meine nicht ohne Männer, aber so, daß sie nicht ihr Zentrum in den Männern haben. (...) Hedwig Wittekind bringt es vielleicht fertig frei zu bleiben, Künstlerin, niemand brauchend, Bohèmienne durch Anlage.“

Was war sie selbst? Was ihr wichtig? Wollte sie gebraucht werden?

Thematisch erkundete Kollwitz in dieser Zeit neues Terrain. Eine jugendlich filigrane „Liebesgruppe“ war eines ihrer frühen Skulpturenprojekte, das sie 1912–13 mit nach Siegmunds Hof nahm, dort weiter bearbeitete und vor dem Atelierbrand 1916 als erste plastische Arbeit ausstellen kann: Ein Mann mit zarter Frau auf dem Schoß, sie fest umschlingend. Wobei die Figuren merkwürdig ambivalent gegenüber ihrem Geschlecht bleiben und das für Kollwitz charakteristische Element des in sich Versinkens zeigen. Im Werkverzeichnis werden sie später auch als „Mutter mit Kind“ und „Sitzende Mutter mit totem Sohn auf dem Schoß“ bezeichnet.

Das Familienleben war Käthe Kollwitz stets wichtig. Hier hält sie ihren Enkel Arne auf dem Schoß, der später Arzt werden sollte.
Das Familienleben war Käthe Kollwitz stets wichtig. Hier hält sie ihren Enkel Arne auf dem Schoß, der später Arzt werden sollte.

© ullstein bild

In ihrem Tagebuch notierte Kollwitz zu der Zeit nur matte Liebesgefühle „ohne Ekstasen“ zu ihrem Karl. Die Ehe der beiden war in die Jahre gekommen, man hielt aneinander fest und erprobte Spielräume. Die Hinwendung zur Bildhauerei stellte die Künstlerin vor völlig neue Herausforderungen. Kollwitz modellierte in Ton, gab dann den Gipsabguss in Auftrag, erwog eine kostspielige Umsetzung in Bronze oder Stein. Selbst den Hammer und Meißel zu schwingen, frei in Stein zu arbeiten, traute sich Kollwitz nach erfolglosen ersten Versuchen nicht zu.

Doch all das, der Austausch mit Kollegen über technische Fragen der Bildhauerei, der künstlerische Alltag mit seinen euphorischen und frustrierenden Phasen, all das verliert für sie 1914 an Bedeutung, als eine furchtbare Nachricht eintrifft: Ihr jüngerer Sohn Peter ist kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs an der Front gefallen. Schock, Schmerz und Trauer legen Kollwitz lahm – und ein furchtbares, nagendes Schuldgefühl. Denn seiner Mutter selbst hatte Peter die Erlaubnis abgerungen, freiwillig in den Krieg zu ziehen, während ihr Mann als überzeugter Sozialdemokrat sich dagegen gesträubt hatte. Der Verlust lähmt Kollwitz, macht sie arbeitsunfähig.

Aber dann fasst sie einen Plan: Sie will ein überlebensgroßes Denkmal für den Verstorbenen und alle Kriegsfreiwilligen auf der Schildhornhöhe am Wannsee errichten: „Habe ich die Zusicherung, daß ich das Denkmal aufstellen darf, nehme ich mir ein größeres Atelier (...) und gehe an die Arbeit“, sagt sie. Kaum ist die Erlaubnis der Berliner Verwaltung erteilt, zieht sie 1915 in einen größeren Atelierraum in Siegmunds Hof um. „Morgen früh kommen die Zimmerleute ins Atelier und schlagen mir das Gerüst auf. Wieder ein Schritt voran.“

Was so energisch beginnt, soll sich, durch Krisen und Neuanfänge immer wieder verzögert, zu einem Langzeitprojekt auswachsen. Nicht in Berlin, sondern schließlich 1932 in Flandern werden die aus Granit gehauenen Figuren des trauernden Elternpaares aufgestellt. Auf dem Soldatenfriedhof im belgischen Roggevelde. Die beiden Eltern allein halten dort Wacht. Ihre Züge gleichen dem Ehepaar Kollwitz. Der verstorbene Sohn, in den ersten Denkmalsentwürfen noch als liegende Figur einbezogen, fehlt. Die Leerstelle bleibt.

„Jetzt kann Karl die Kasse aufgeben."

Das Mutterthema ließ Kollwitz nie wieder wirklich los. Schon vor dem Krieg hatte sie eine „Muttergruppe“ begonnen, die sie von nun an von Atelier zu Atelier mitschleppen und sukzessive weiterentwickeln wird. Eine massige Frau beugt sich schützend über ihren Nachwuchs. Ihr schwerer Körper strahlt Stärke aus. Aber in seiner archaischen Nacktheit ist er selber schutzlos.

Kollwitz’ Karrierestart war mit der Berliner Secession verknüpft gewesen, einer Selbsthilfeinitiative von Künstlern jenseits des wilhelminischen Kunstbetriebs. Seit 1912 gehört sie selbst dem Vorstand an. Als sich nach dem Ersten Weltkrieg und der Revolution auch die konservative Akademie wandelt, die in der Kaiserzeit Inbegriff staatstragender Kunst gewesen war, nimmt man Kollwitz in die Reihen der Mitglieder auf. 1919 wird sie zur Professorin ohne Lehrauftrag ernannt.

„Große Ehre, aber ein bißchen peinlich für mich“, meint Kollwitz. „Die Akademie gehört doch zu den etwas verzopften Instituten, die beiseite gebracht werden sollten.“

1928, mit 61, erfährt Kollwitz, dass sie zur „Vorsteherin eines Meisterateliers für Grafik“ ernannt worden ist. Was für sie bedeutet: „Gutes, großes Atelier, schönes Gehalt, aber freilich Lehrverpflichtung. Jetzt kann Karl die Kassen aufgeben.“

Als Kassenarzt und Mediziner aus Leidenschaft hatte der Ehemann oft bis zur Erschöpfung gearbeitet, um das Familieneinkommen sicherzustellen. Nun sieht die zur preußischen Beamtin aufgerückte Künstlerin endlich die Chance, ihn entlasten zu können. Zuvor gestalteten sich ihre Einkünfte als Freiberuflerin schwankend, je nach Verkäufen und Kunstmarktlage. Karl unterstützte die künstlerischen Projekte seiner Frau stets rückhaltlos, über alle Spannungen und Ermüdungserscheinungen der langen Ehe hinweg. Das hatte ihr den Rücken freigehalten.

Als Vertreterin einer alternativen Kunstrichtung fand Käthe Kollwitz, dass die Akademie "beiseite gebracht werden sollte". 1919 wurde sie trotzdem zu deren Mitglied ernannt, was ihr später auch eigene Ateliers in dem Gebäude an der Hardenbergstraße bescheren sollte.
Als Vertreterin einer alternativen Kunstrichtung fand Käthe Kollwitz, dass die Akademie "beiseite gebracht werden sollte". 1919 wurde sie trotzdem zu deren Mitglied ernannt, was ihr später auch eigene Ateliers in dem Gebäude an der Hardenbergstraße bescheren sollte.

© ZLB / FB Berlin-Studien

Zum neuen Arbeitsplatz der Künstlerin wird das 1902 von dem Architekturbüro Kayser & von Groszheim errichtete Hochschulgebäude der heutigen Universität der Künste an der Hardenbergstraße. „Schüler hab ich nun drei, das muß schließlich zu leisten sein“, notiert Kollwitz und gibt sich wehmütigen Gedanken an verlorene Privilegien hin. „Nicht gut ist, daß die Akademie noch weiter von meiner Wohnung entfernt ist als mein bisheriges Atelier. Dann ist noch ein unbestimmtes etwas beklemmendes Gefühl da, daß es mit der absoluten Freiheit des ganz privaten Künstlertums nun aus sei. Gut ist dies, daß ich jetzt 2 nebeneinanderliegende Ateliers habe, von welchen ich das größere zum plastischen arbeiten benutzen will.“

Allerdings währt die Phase als gut dotierte Lehrbeauftragte nur kurz. Kaum fünf Jahre nach dem Umzug aus Siegmunds Hof an die Hardenbergstraße setzt man Kollwitz vor die Tür. Schon im Juni 1932 hatte sie die Altersgrenze von 65 Jahren für Beamte erreicht und durfte nur auf Absprache mit Akademiepräsident Liebermann kommissarisch ihr Amt weiter ausüben. Zunächst für ein Jahr, bis August 1933.

Da sie den Rechtsruck bei den anstehenden Reichstagswahlen kommen sieht, unterzeichnet sie den „Dringenden Appell“ zur Vereinigung der Kräfte von SPD und KPD, um der erstarkenden NSDAP entgegenzutreten. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wird Kollwitz daher gedrängt, ihre Akademiemitgliedschaft niederzulegen. „Aber sie belassen mich bis zum 1. Oktober in meinem Amt bei dem vollen mir zustehenden Gehalt und den Räumen. Darüber bin ich heilfroh, denn ich habe eine größere Gruppe in Ton stehen und hätte nirgends mit ihr hinkönnen, hätten sie mich Knall auf Fall rausgesetzt.“

Die „größere Gruppe in Ton“ ist die Mutterfigur, die sich schützend über ihre Kinder beugt. Mit einer Geste, als wolle Kollwitz dem Urteil ihres Mannes begegnen, der ihr nach Peters Tod vorgehalten hatte, sie habe „nur Kraft zum Opfern und Loslassen, aber nicht die geringste zum Halten“. Nun muss Kollwitz sehen, wie sie die Plastik und sich in Sicherheit bringt. „Jeder Tag bringt etwas Neues, und alles ist brutal und verlogen. Widerwärtig.“

Kollwitz lässt die großformatige „Mutter mit zwei Kindern“ in Gips abnehmen, um später letzte Korrekturen an ihr vornehmen zu können. Am 12. Januar 1934 teilt sie der Akademie mit, dass sie das Atelier Hardenbergstraße verlassen habe.

Besuch im Atelier von der Gestapo

Und sie landet wieder dort, wo sie angefangen hat, in der Weißenburger Straße. Am 17. Januar schreibt sie: „Das war eine schwierige Aufgabe, in eine Stube alles hineinzubringen, was sich über zwei Ateliers, davon ein riesengroßes ausgedehnt hatte. Plastiken, Grafiken, Zeichnungen mit allem dazu gehörigen Material. In der Mitte steht nun der große Drehbock. Die darauf gehörige Gruppe, eine Mutter mit 2 Kindern, überlebensgroß, steht in Gips gegossen beim Gießer. Noch getraue ich mich nicht, sie herzunehmen. Ich muß mich erst langsam wieder in den Rückschraubungsprozeß hineingewöhnen.“

Nach über 20 Jahren wieder die eigene Wohnung als Arbeitsplatz nutzen zu müssen, ist bitter und hemmt sie. An plastisches Arbeiten im großen Format ist nicht zu denken. Die MutterKinder-Gruppe wird auf den Dachboden verfrachtet.

Da tut sich ein halbes Jahr später eine Alternative auf. Kollwitz bewirbt sich um ein Atelier in der Klosterstraße, vor allem um ihre noch immer unvollendete Mutter mit den beiden Kindern fertigstellen zu können. Sie verdiene „hundemäßig wenig“, klagt sie. Ihrem Mann ist die Kassenarztpraxis von den Nazis aus politischen Gründen entzogen und erst nach Protesten wiedergegeben worden, viele Käufer ihrer Arbeiten sind von den Nazis verjagt, drangsaliert, enteignet. „Die Ateliermiete ist eine Ausgabe, die nur dadurch zu rechtfertigen ist, daß man hofft, die fertiggestellte Arbeit einmal zu verkaufen“, sagt sie sich. Sie hofft auf Abnehmer in Amerika und arbeitet nun fast nur noch plastisch, oft in handlichem Format.

Bis 1940 bleibt die Ateliergemeinschaft Klosterstraße ihr neues Arbeitsdomizil. Rund 40 meist jüngere Künstler haben sich in dem Gebäude der ehemaligen Königlichen Kunstschule in der Klosterstraße 75 einquartiert, das zuvor leer stand. Das 1880 von Martin Gropius erbaute Haus ähnelt in seiner äußeren Gestalt dem Kunstgewerbemuseum – dem heutigen Martin-Gropius-Bau – und steht unweit der Klosterkirche, mitten auf der Trasse der heutigen Grunerstraße. Zur „Ateliergemeinschaft Klosterstraße“ war das leer stehende Schulhaus 1933 durch eine Selbsthilfeinitiative von Künstlern geworden, nachdem sie die ehemalige Kunstgewerbeschule in der Prinz-Albrecht-Straße auf Anweisung Görings hatten räumen müssen, wo sich wiederum die Gestapo-Zentrale breitmachen sollte.

In der NS-Zeit fand Käthe Kollwitz Unterschlupf in der Ateliergemeinschaft Klosterstraße. Bei einer Weihnachtsfeier steht sie neben dem Grafiker Herbert Tucholski (links).
In der NS-Zeit fand Käthe Kollwitz Unterschlupf in der Ateliergemeinschaft Klosterstraße. Bei einer Weihnachtsfeier steht sie neben dem Grafiker Herbert Tucholski (links).

© bpk / Arthur Grimm

Mit Erlaubnis des Kultusministeriums zogen die Künstler ein. Das Haus untersteht staatlicher Aufsicht, wird aber von den Künstlern weitgehend in eigener Regie unter Leitung von Obmann Günther Martin geführt. Eine Gratwanderung zwischen Anpassung und Freiraum.

Einmal im Jahr öffnet es seine Türen, Flure und Treppenhäuser werden als Ausstellungsflächen bespielt, Besucher strömen durch die Werkstätten. Die Liste der teilnehmenden Künstler muss von der Reichskammer der bildenden Künste genehmigt werden. Die Ateliergemeinschaft ist kein Widerstandsnest, eher ein Ort, an dem sich Individualisten eine Restfreiheit zu bewahren versuchen, darunter Nazigegner und viele Unpolitische, aber auch Parteigänger des Regimes. Manche wohnen dort, obwohl das verboten ist. Es wird musiziert und gefeiert. Die nun schon betagte Kollwitz mit ihren schlohweißen Haaren mittendrin.

In ihrem Atelierraum steht als Blickfang über all die Jahre massig in Hüfthöhe aufgebockt die große Gipsfassung der „Mutter mit zwei Kindern“. Im weißen Bildhauerkittel, lässig an ihre „Gruppe“ gelehnt, lässt sich die leiderfahrene Dame fotografieren. Zäh und langsam geht die Plastik der Fertigstellung entgegen. Was macht es der Künstlerin so schwer, die Arbeit abzuschließen?

Mal fehlt das Geld, mal der Elan. Der befreundete Maler Leo von König legt einmal 1 500 Mark aus, um die Gruppe in Stein hauen zu lassen. Als Zwischenstufe lässt die Künstlerin einen Abguss in Zement herstellen, bevor endlich ein Steinmetz anrückt und der Muschelkalkblock behauen werden kann. Doch Chancen, diese letzte große Skulptur öffentlich zeigen zu können, schwinden. Von Galeristen geplante Kollwitz-Ausstellungen wie die große Geburtstagsschau zum 70. bei Nierendorf werden ohne Angabe von Gründen abgesagt. Stattdessen ungebetener Besuch im Atelier: Zwei Gestapo-Männer verhören Kollwitz, ziehen aber zum Glück unverrichteter Dinge ab.

1940 gibt Käthe Kollwitz das Atelier in der Klosterstraße auf. Sie ist 74 Jahre alt, ihr Mann Karl zuvor gestorben. „Ich ziehe im nächsten Monat mit dem Atelier zu mir herüber. Vorläufig immer nur räumen, räumen, räumen, (...) und so immer weiter“, klagt sie.

"Erinnerungen füllten alle Räume."

Im ehemaligen Familienwohnzimmer in der Weißenburger Straße richtet sie ihren letzten Arbeitsraum ein. Sie fühlt sich zu schwach, noch lange Wege durch die Stadt zurückzulegen: „Ich lebe so am Rande des Lebens. Hier zu Hause aber, wo der Arbeitsraum zugleich Schlafraum ist, (...) kann ich jede halbe Stunde, die ich mich frisch genug dazu fühle, noch arbeiten. Es ist immer noch vieles, was fertigzustellen ist.“

Die großen plastischen Arbeiten werden wieder mal auf dem Dachboden verstaut. Als die Bombenangriffe auf Berlin sich häufen, verlangt die Polizei „von einem Tag zum anderen Wegschaffung der Sachen. Da griff ebenfalls Herr R. ein. Auf ein Kommandowort von ihm erschienen gestern zwei Männer, die alles fortschafften. Die Gruppe der Mutter mit den Kindern ist noch bei mir. Sie ist aber nicht schwerer als ein Klavier, das ja noch in jeder Etage stehn darf. Mein Sohn hat Mitteilung, wo die Sachen alle sind, und so habe ich das Meinige getan. Ich muß sagen, daß wenn nun ein Lufttorpedo oder wie die Biester heißen, mich selbst verpulverte, bin ich es zufrieden.“

Bei Fliegeralarm ist es der alten Künstlerin meist zu mühsam, die drei Treppen zwischen Wohnung und Keller zu überwinden, sie bleibt oben in ihrem Atelier, wenn ringsum Bomben einschlagen. Im August 1943 wird Käthe Kollwitz von Freunden in Nordhausen in Sicherheit gebracht. Dort erreicht sie die Nachricht, dass ihr Berliner Wohnhaus am 23. November von einer Brandbombe getroffen worden ist. Die Hausbewohner, aus dem Luftschutzkeller gerettet, sehen von einer Eckkneipe aus, wie das Haus bis auf die Grundmauern ausbrennt.

„Ja“, schreibt Kollwitz an ihren Sohn Hans, „es hat mich zuerst hart getroffen. Es war ja meine Heimat seit über 50 Jahren. (...) Erinnerungen füllten alle Räume.“

Am 22. April 1945 stirbt sie in Moritzburg.

Die Gipsversion ihrer „Mutter mit Kindern“ übersteht den Krieg in „Sicherheitsverwahrung“ der Nationalgalerie. Als Replik in Stein gehauen kehrt die Gruppe im Sommer 1950 auf den Platz zurück, der nun Kollwitz’ Namen trägt und wo die Künstlerin ihre Kinder hatte aufwachsen sehen. Schließlich wurde sie ersetzt durch das Kollwitzdenkmal von Gustav Seitz, das dort seit 1961 steht. Oft klettern Kinder auf der Kollwitz herum. Das hätte ihr vermutlich gefallen.

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