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Die katholische Kirche steht wegen der mangelhaften Aufarbeitung eines Missbrauchsfalls unter Druck.

© dpa

Aufarbeitung von Missbrauchsfall in Potsdam: Erzbistum Berlin gibt Fehler zu

Stefan Lüttke wurde als Kind von einem Kaplan sexuell missbraucht. Obwohl er den Fall der Kirche schon 2010 meldete, ist der Geistliche bis heute im Amt. Das Opfer spricht davon, ein Skandal werde vertuscht.

Stefan Lüttke traute seinen Augen nicht, als er im April 2013 die Mitteilung des Berliner Erzbistums las. Da stand tatsächlich, dass die „staatlichen und kirchlichen Untersuchungen“ gegen den Pfarrer der Gemeinde Herz-Jesu in Tegel „ergebnislos eingestellt“ wurden. „Der Wiederaufnahme seines priesterlichen Dienstes steht nichts mehr entgegen. Damit wäre auch seine Rückkehr in die Aufgaben des Pfarrers dieser Gemeinde möglich.“

Wie bitte? Die Untersuchungen haben nichts ergeben? „Für mich als Opfer war diese Meldung wie ein zweiter Missbrauch“, sagt Stefan Lüttke heute. Denn im April 2013 wusste das Erzbistum schon seit drei Jahren, dass sich der Gemeindepfarrer sehr wohl schuldig gemacht hatte. Es gab sogar ein Geständnis. Warum aber verlas der Generalvikar am 28. April 2013 in der Gemeinde Herz Jesu in Tegel eine Erklärung, die sich wie ein Freispruch anhörte?

Stefan Lüttke war 15 Jahre alt und Firmling in einer Potsdamer Gemeinde. An einem Sommertag 1997 traf sich die Firmgruppe beim Kaplan zuhause. Als das Treffen zu Ende war, fragte ihn der Kaplan, ob er ihn nach Hause begleiten könne. In einer abgeschiedenen Pappelallee sprach der Geistliche auf einmal davon, dass doch nichts dabei sei, wenn man sich nackt voreinander zeigt. Irgendwann hatte er den 15-Jährigen soweit, dass er ihn anfassen konnte. Es sei zur gegenseitigen Masturbation gekommen, sagt Lüttke. Auch später noch habe der Kaplan Annäherungsversuche gemacht, sagt Lüttke. Die habe er aber abgeblockt.

Die Kirche schien alles richtig zu machen

Der Jugendliche sprach mit niemandem darüber und versuchte zu vergessen, was geschehen war. 2010 kam alles wieder hoch. Stefan Lüttke wurde krank. Damals war bekannt geworden, dass Priester über Jahre Schüler im Canisius-Kolleg missbraucht hatten. Lüttke rief bei der Hotline der Deutschen Bischofskonferenz an und erzählte, was er erlebt hatte. Er nannte seinen Namen nicht, bat aber darum, dass man seine Schilderung an das Berliner Erzbistum weiterleitet. Das wurde auch gemacht.

Der damalige Berliner Kardinal Georg Sterzinsky suspendierte den Priester vom Dienst, informierte die Gemeinde Herz Jesu in Tegel über den Vorwurf gegen ihren Pfarrer. Er leitete eine kirchliche Untersuchung ein und informierte auch die Staatsanwaltschaft und die Presse. Die Kirche schien alles richtig zu machen. Doch dann lief einiges schief.

Der vermeintliche Täter wurde ins Ordinariat gebeten. Weihbischof Matthias Heinrich und Dompropst Stefan Dybowski sprachen mit ihm über den Vorwurf. Er gab alles zu. Er weigerte sich aber, das Gesprächsprotokoll zu unterschreiben. Er war davon ausgegangen, dass es sich um ein seelsorgerliches Gespräch handelt und nicht um eine Vernehmung, sagt Bistumssprecher Stefan Förner.

Das Erzbistum schickte ein Dossier mitsamt des nicht unterzeichneten Protokolls an die römische Glaubenskongregation. An die Staatsanwaltschaft Potsdam habe man das Protokoll aber nicht weitergeleitet, sagt Förner, da es nicht unterschrieben war. Die Berliner und Potsdamer Polizei nahm Kontakt zu Stefan Lüttke auf. Wegen seines Gesundheitszustandes konnte er damals aber keine Aussage machen.

Der Vatikan antwortete, dass der heute 45-jährige Priester wieder eingesetzt werden könne, vorausgesetzt, ein forensisches Gutachten ergebe, dass er keine Gefahr für Kinder und Jugendliche darstelle. Im Ordinariat habe man auf den Priester eingewirkt, damit er auf die Rückkehr in die Pfarrei von sich aus verzichtet. Das habe er dann auch getan, sagt Förner. Ende April 2013 machte der für Missbrauchsfälle im Bistum zuständige Generalvikar Tobias Przytarski der Gemeinde daraufhin jene missverständliche Mitteilung, wonach die Untersuchungen nichts ergeben hätten. Dass der Pfarrer dem Kardinal aber „unter Berufung auf seinen angegriffenen Gesundheitszustand seinen Verzicht auf die Pfarrei angeboten und der Kardinal den Verzicht angenommen hat“.

Anzeige bei Potsdamer Staatsanwaltschaft

Stefan Lüttke wollte sich mit dieser Mitteilung nicht abfinden. Im September 2013 schrieb er Kardinal Woelki einen Brief. Er wies noch einmal auf den Missbrauch hin, auf seine Aussage bei der Hotline und dass er nur deshalb bei der Polizei bislang keine Aussage gemacht habe, weil er krank gewesen sei. „Ihre öffentliche Darstellung ist eine Rehabilitation des Täters erster Klasse und bedeutet für mich als Opfer eine erneute Demütigung“.

Auf den Brief hin lud der Generalvikar Lüttke im Dezember 2013 zum Gespräch ein. Dort erfuhr er von dem Geständnis des Priesters, dem nicht unterschriebenen Protokoll und dass man die Staatsanwaltschaft nicht über das Geständnis informiert hatte. Als Lüttke nachfragte, wie es zu der missverständlichen Mitteilung an die Gemeinde kommen konnte, bat ihn der Generalvikar um Verständnis. Schließlich habe der Täter wissen wollen, wie es weitergehe mit ihm. Da platzte Lüttke der Kragen.

„Ich als Opfer soll Verständnis haben für den Täter?“, fragt er.

Er zeigte den Fall daraufhin selbst bei der Potsdamer Staatsanwaltschaft an und machte seine Aussage. Doch der Fall ist verjährt. Dem Erzbistum und besonders Kardinal Woelki als oberstem Dienstherrn wirft Lüttke vor, die Sache „vertuschen“ zu wollen. Weil das Tätergeständnis nicht an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet wurde, habe man deren Arbeit behindert. Das Verhalten des Erzbischofs sei ihm „völlig unbegreiflich“, schrieb Lüttke am 3. März an Papst Franziskus. „Die Aufklärung dieses Missbrauchs wird absichtlich behindert und der beschuldigte Pfarrer rehabilitiert. Erst ich als Opfer musste das Erzbistum dazu bringen, diesen Fall wirklich aufzuklären“.

Bistumssprecher Stefan Förner räumt Fehler ein. Es sei falsch gewesen, dass man dem beschuldigten Pfarrer vor dem Gespräch im Ordinariat 2010 nicht klar gesagt habe, dass es sich um eine Vernehmung und nicht um ein Seelsorge-Gespräch handelt. Was die Mitteilung an die Gemeinde angeht, sei das Gesagte zwar strafrechtlich richtig, justiziable Ermittlungsergebnisse gebe es nicht. Doch man habe nicht bedacht, wie diese Mitteilung auf das Opfer wirken würde. „Wir hatten im Ordinariat wohl zu sehr den Täter im Blick und nicht das Opfer“, sagt Förner. 

Verfahren kirchenrechtlich noch nicht beendet

„Wir vertuschen nichts“, sagt Kardinal Woelki. Für ihn ist klar: „Dieser Priester wird nie mehr in der Seelsorge eingesetzt.“ Er hat sich mittlerweile in einem Brief direkt an Stefan Lüttke gewandt, das Leid bedauert, das ihm durch den Priester angetan wurde, und Hilfe bei der Verarbeitung des Leids versprochen. Es sei „nachvollziehbar“, dass der Wortlaut der Mitteilung an die Gemeinde ihn „verärgert und verletzt“ habe, schreibt Woelki und dankt ihm für seine Bereitschaft, an der Aufklärung mitzuarbeiten.

Generalvikar Przytarski hat den Fall in Rom erneut vorgelegt mit der Anfrage, ob ein kirchliches Strafverfahren durchgeführt werden könne. „Das Verfahren ist noch nicht beendet“, schreibt Woelki. Die Höchststrafe für den Priester wäre die Laisierung. Papst Benedikt hat bereits 400 Priester wegen sexuellen Missbrauchs aus dem Priesteramt entfernt. .

Er habe sich über Woelkis Brief gefreut, sagt Lüttke, der Brief lasse aber Fragen offen. Das ungute Gefühl ist geblieben: „Wenn ich  nicht noch einmal etwas unternommen hätte, wäre der Fall zu den Akten gelegt worden.“ Andere Betroffene fordert er deshalb auf: „Die Situation der Opfer wird sich wenig ändern, wenn sie zurecht, aber auch tragisch, in Deckung bleiben, während die Täter offen agieren können.“ 

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