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Herr der Spulen. Tonmeister Rainer Maillard, Mitinhaber der Emil-Berliner-Studios, umgeben von seinem Handwerkszeug.

© Doris Spiekermann-Klaas

Zum Record Store Day: David Bowie im Kreuzberger Vinyl-Mekka

Die Emil-Berliner-Studios in Kreuzberg sind die älteste Einrichtung ihrer Art in Deutschland, wenn nicht sogar weltweit. Hier wird noch immer „direct-to-disc“ produziert: live eingespielt, in eine Matrize geritzt und in Vinyl gepresst.

Berlins Abbey Road liegt in Kreuzberg, in der Köthener Straße, an der Grenze zu Mitte. „Meistersaal“ steht in goldenen Lettern an dem Gebäude mit der Hausnummer 38. Die Bezeichnung passt: Die Musiker, die dort, in den Hansa-Tonstudios, aufgenommen haben, heißen David Bowie, U2, Depeche Mode oder Lou Reed – um nur einige zu nennen. Im Jahr 2012 zog in das Gebäude ein weiteres Stück Musikgeschichte ein: Auch die Emil-Berliner-Studios, bis 2008 noch hauseigenes Studio der Deutschen Grammophon und über Jahrzehnte legendäre Produktionsstätte in Hannover, residieren seither in der Köthener Straße 38. Bis 1934, noch zu Zeiten der Schellackplatte, hatten sie bereits eine Niederlassung in der Markgrafenstraße in Mitte.

Tonmeister Rainer Maillard, heute Mitinhaber des inzwischen eigenständigen Studios, sagt: „Es ist eines der ältesten Studios der Welt – das älteste Deutschlands auf jeden Fall.“ Dabei ist es nicht nur der Klang in den Studios, sondern bereits der Klang des Studionamens, der es so besonders macht: Emil Berliner. Er erfand die Schallplatte, und er war nicht nur Wegbereiter für die Studios in der Londoner Abbey Road, sondern gründete bereits 1898 die nach ihm benannten Studios – und die Deutsche Grammophon.

Schallplattenpionier Emil Berliner war übrigens nur dem Namen nach Berlin

„Den Namen des Studios durften wir nach der Trennung von der Grammophon zum Glück behalten“, sagt Maillard. Schallplattenpionier Emil Berliner war übrigens nur dem Namen nach Berlin - der 1929 verstorbene Erfinder kam aus Hannover. Maillard will die Studios jetzt in Berlin noch mal neu erfinden. Er ist ein Produzent von Weltrang, der bereits Leonard Bernstein und Anna Netrebko gemixt und geschnitten hat. „Was können wir mit diesem Ort machen?“, fragten er und seine fünf Mitstreiter sich, als sie vor knapp zwei Jahren die Räumlichkeiten bezogen, die einst direkt an der Mauer lagen.

Die Antwort gab eine alte Lackfolienschneidemaschine aus den achtziger Jahren, die bis heute im Besitz der Emil Berliner Studios ist und von der es nur noch eine Handvoll in Deutschland gibt. Mit ihr kann man „Direct-to-disc“ aufnehmen, also eins zu eins. Musiker kommen ins Studio und spielen live die Songs ein, die direkt auf eine Lackfolienmatrize übertragen werden – aus diesem Original werden später die Schallplatten gepresst. Eine Technik, die bis in die fünfziger Jahre hinein, bis zum Einzug der Tonbänder und der Mehrspurrekorder in die Studios Standard war.

Die undatierte zeitgenössische Aufnahme zeigt Emil Berliner. Vor 125 Jahren meldete er in Washington das Patent für Platte und Grammophon an.
Die undatierte zeitgenössische Aufnahme zeigt Emil Berliner. Vor 125 Jahren meldete er in Washington das Patent für Platte und Grammophon an.

© dpa

Das Label als Liebhaberei

Maillard hat also ein Vinyl-Label gegründet, das nur „Direct-to-disc“-Aufnahmen veröffentlicht. Berliner Meister Schallplatten heißt es – es ging ebenfalls 2012 an den Start. „Man muss aber trennen zwischen dem Label und dem Studio“, betont Maillard. 95 Prozent der Aufträge des Studios sind für externe Musiker und Musikverlage – sein eigenes Label ist eher eine Liebhaberei.

Warum man zu der anachronistisch wirkenden Aufnahmetechnik zurückgekehrt ist? „Studios werden immer überflüssiger, weil die meisten Musiker ihre Alben an diesen Geräten produzieren“, sagt Maillard und zeigt auf den Laptop seines Mitarbeiters Nico Glänzel. „Heute werden 70 Prozent am Computer produziert. Aber digitale Schneidetechnik muss man sich vorstellen wie Photoshop. Da versuchst du hier noch was zu machen und da was zu optimieren. Du kannst immer noch weiter an einer Aufnahme feilen.“ Also habe man sich gesagt: Back to the Roots. Volle Konzentration auf die Aufnahme. „Usain Bolt läuft auch nicht zehnmal am Tag die 100-Meter-Strecke mit voller Power wie im Finale“, erklärt Maillard. „Viele Musiker sagen, so konzentriert wie bei uns hätten sie noch nie in ihrem Leben gespielt.“

Die Nische, Vinyl, wächst wieder

Mit seinem Label hat Maillard bereits acht Direktschnittaufnahmen veröffentlicht. Kommt es auch vor, dass sie scheitern? „Ja, leider. Oft klappen die Aufnahmen erst im zweiten oder dritten Versuch", sagt er.
Mit seinem Label hat Maillard bereits acht Direktschnittaufnahmen veröffentlicht. Kommt es auch vor, dass sie scheitern? „Ja, leider. Oft klappen die Aufnahmen erst im zweiten oder dritten Versuch", sagt er.

© dpa

In einer Ecke im offenen Küchenbereich hängt eine goldene Schallplatte aus Grammophon-Zeiten. „Karajan, 500 000 verkaufte Platten“, sagt Maillard. Und schon vor 20 Jahren hat der Mann mit dem grauen Anzug und den grauen Haaren einen Grammy für Aufnahmen mit dem Chicago Symphony Orchestra gewonnen. Lebhaft, unruhig, getrieben wirkt der 53-Jährige. Er hat in den Achtzigern ein Tonmeisterstudium an der Detmolder Hochschule für Musik absolviert, wo er heute eine Professur innehat. Was Folkwang oder die Berliner „Ernst Busch“ für Schauspieler ist, das ist die Detmolder Schule für Musikproduzenten.

In den achtziger und neunziger Jahren flog Maillard für die Deutsche Grammophon um die Welt. Peking, Caracas, Rom. „Ich sollte auch mal Tonmeister von Bernstein werden“, sagt Maillard. „Einen Monat später ist er gestorben.“ Er erwähnt solche Dinge beiläufig, erzählt dann im nächsten Satz etwas von Vinylpressverfahren. Und wie nimmt man nun eigentlich so direkt eine Schallplatte auf? Maillard führt durch den Hausflur ins Produktionsstudio. Hier stehen große Bandmaschinen, riesige Mischpulte. „Mit dem hier wurde ,West Side Story’ gemischt“, erzählt Maillard, „jedenfalls war es dieses Modell, es könnte sogar genau dieses Mischpult gewesen sein.“ Und dort steht auch die Lackfolienschneideanlage. Das Gerät ähnelt auf den ersten Blick einem herkömmlichen Plattenspieler auf der Intensivstation: Messgeräte und Monitore sind an die Apparatur mit dem Plattenteller angeschlossen. Eine spitze silberne Nadel ritzt die Rillen in eine Matrize, dem Muster für die spätere Vinylscheibe.

Die Nische, Vinyl, wächst wieder

Mit seinem Label hat Maillard bereits acht Direktschnittaufnahmen veröffentlicht. Kommt es auch vor, dass sie scheitern? „Ja, leider. Oft klappen die Aufnahmen erst im zweiten oder dritten Versuch", sagt er. Das Label ist nun eine neue Herausforderung für ihn. „Natürlich ist das eine Nische in einer Nische“, sagt er. Immerhin: Die eine Nische, Vinyl, wächst wieder. Die Umsätze in Deutschland stiegen in einem Jahr um fast 50 Prozent.

Stilistisch will sich der aus der Klassik kommende Maillard – „klar, als gelernter Tonmeister ging man in den Klassikbereich“ – mit dem Label nicht festlegen. Kürzlich hat das Frauentrio Elaiza, das Deutschland beim Eurovision Song Contest vertrat, für sein junges Label ein Album aufgenommen.

Maillard betritt nun den Aufnahmeraum, in dem viel Holz an den Wänden ist und den eine dicke Glasscheibe vom Raum mit dem Mischpult trennt. Totale Stille, eine fast drückende Atmosphäre. Jeder Zentimeter ist schallisoliert, von der Extradichtung der Fenster bis zu den Schiebetüren der Schränke.

Und im Meistersaal mit der imposant vertäfelten Decke, in dem die kurze Führung endet, herrscht eher majestätische Stille. Bowie und Bono spielten hier Alben ein, und für Maillard geht bald unter den Kronleuchtern der Arbeitsalltag weiter. Er nimmt mit einer französischen Pianistin ein Album auf. Und wartet erst einmal auf einen Konzertflügel, der geliefert werden soll. Hierhin, wo Kreuzberg ein bisschen was von der Abbey Road hat.

Dieser Artikel erscheint im Kreuzberg Blog, dem hyperlokalen Online-Magazin des Tagesspiegels.

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