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Elfriede Hengstenberg in den 30er Jahren

© Fotograf unbekannt, www.arbor-verlag.de

Zehlendorfer Heimatgeschichte, Teil 2 der Serie: Stille Heldin in der NS-Zeit: Elfriede Hengstenberg

Wer hat Verfolgten in der NS-Zeit geholfen? Auch in Zehlendorf gibt es diese "Stillen Helden", aber kaum jemand kennt sie. Unser Autor stellt sie in loser Reihenfolge im Zehlendorf Blog vor. Teil 2: Die Sportlehrerin Elfriede Hengstenberg.

Ältere Zehlendorferinnen und Zehlendorfer werden sich vielleicht noch an die von ihren Schülerinnen und Schülern liebevoll "Hengsti" genannte Elfriede Hengstenberg erinnern, insbesondere, wenn sie die Gerdes-Waldschule besucht haben. Sie hat für die Schule dreißig Jahre lang den Sportunterricht als Bewegungs- und Gymnastikunterricht in ihrer Art gegeben.

Einer ihrer Schüler schrieb mir: "Fräulein Hengstenberg hatte ihr Haus in der Bogotastrasse Nr.1, ihre Sportanlagen und den 'Trainingsraum' für die Schüler der Privaten Waldschule Gerdes zur Verfügung gestellt. Dorthin marschierten wir immer – ich denke 2mal in der Woche – und kletterten, und turnten und 'strechten' uns nach Herzenslust. Fräulein Hengstenberg war eine wunderbare und stets fröhliche Lehrerin, die ihre Schüler sehr schätzten."

Das war von 1942 bis 1946. Es waren also die Kriegsjahre, die Zeit des Zusammenbruchs, eine Zeit, die für uns Kinder damals – auch Dank Fräulein Hengstenberg und Fräulein Gerdes – eigentlich keine Traumata hinterlassen hat. Elfriede Hengstenberg (1892 – 1992) wurde in Meran geboren und genoss ihre Kindheit dort. Ihr Vater hatte den Auftrag die Gasversorgung der Stadt Meran zu organisieren. Das Leben in der freien Natur und der weite Blick von den Bergen hat sicher ihre Lebenseinstellung dauerhaft geprägt. 1898 zog die Familie nach Berlin um, und hier besuchte sie die Schule, über die sie später schrieb:

"Meine erste Schule war noch eine richtige Dorfschule in Zehlendorf, mit einem alten Berliner Kachelofen im Klassenzimmer, in dem wir uns im Winter in der Ofenröhre Bratäpfel schmoren durften. Frau Köppler, unsere Direktorin, war recht nett zu uns Kindern. Sie wohnte oben im Schulhaus, und ich weiß noch, daß sie öfter in Pantoffeln in die Klasse kam. Sie ist damit auch auf den Schulhof gegangen und hat sie ihrem kleinen Hund zugeworfen, der brachte ihr dann die Pantoffeln wieder.

In so einer Schule war ich also! Aber was mir gar nicht gefiel, waren die Turnstunden! Da hieß es als erstes: 'Stillgestanden!' Und dann: 'Rechtsum!' Und alle Kinder drehten sich rechtsum. Und dann hieß es wieder: 'Linksum!' Ich fand das furchtbar, so knallig. Und so dachte ich mir, als die Turnlehrerin wieder rief: Bei der mache ich das mal genau umgekehrt. Und das habe ich dann öfter gemacht. Die anderen lachten, sie wußten jetzt, daß man mit mir Spaß machen kann. Auf solche Weise habe ich gegen vieles revoltiert, was nicht lebendig war."

Das Zitat ist dem folgenden Buch entnommen: Elfriede Hengstenberg, Entfaltungen, hrg. von Ute Strub, Freiamt 1993 (Arbor Verlag).

Gegen diese Art von Sportunterricht arbeitete sie ihr ganzes Leben lang und hat Generationen von Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen geprägt. Nach dem Krieg war sie für die Senatschulverwaltung jahrelang in der Lehrerfortbildung tätig. Einen Anstoß dazu gab ihr auch Gertrud Kaulitz, über die ich zum Auftakt dieser Serie im Tagesspiegel berichtet habe, mit der sie Zeit ihres Lebens befreundet war. In einem Gespräch beschreibt die 90jährige Elfriede Hengstenberg die frühe Begegnung mit Gertrud Kaulitz so: "Während mein Bruder neben der Schule viel zeichnete und malte und dann auch Maler geworden ist, begann ich zu musizieren. Ich war froh, als ich in meiner zweiten Klavierlehrerin, Gertrud Kaulitz, einen vielseitig interessierten Menschen fand. Auf ihren Rat hin besuchte ich Kurse in Rhythmischer Gymnastik nach Dalcroze. Diese Stunden gefielen mir so gut, daß ich nach meiner Schulzeit zu Jacques Dalcroze selbst ging. Er unterrichtete damals in Hellerau bei Dresden."

In ihrem Garten. Gertrud Kaulitz mit ihrer Pflegetochter Anna Wanda und Schwester Margarethe (v.l.n.r.). Die zweite Frau von rechts ist unbekannt. Den Text von Dirk Jordan für den Zehlendorf Blog können Sie hier lesen.
In ihrem Garten. Gertrud Kaulitz mit ihrer Pflegetochter Anna Wanda und Schwester Margarethe (v.l.n.r.). Die zweite Frau von rechts ist unbekannt. Den Text von Dirk Jordan für den Zehlendorf Blog können Sie hier lesen.

© Renate Breckenridge

Ausdruck dieser lebenslange Freundschaft war es auch, dass Elfriede Hengstenberg den entscheidenden Brief an die Senatsverwaltung am 31.12 1963 schrieb, durch den die Ehrung der Schwestern Kaulitz als "Unbesungenen Helden" eingeleitet wurde. Sie schrieb damals:

"Sehr geehrter Herr Senator! Hierdurch bitte ich Sie, die 83 Jahre alte Frau Gertrud Kaulitz  in Berlin—Schlachtensee, Eiderstaedter Weg 33 in die Berliner Ehrungsaktion einzubeziehen. Frau Kaulitz hat in ihrem Hause während der Nazizeit laufend jüdische Verfolgte versteckt, beköstigt und betreut. Außerdem hat sie den wegen Hochverrats zum Tode verurteilten Dr. Bobeck, den ich ihr zugeführt hatte, nachdem er aus der Gestapohaft geflüchtet war, bei sich aufgenommen und für seine Unterbringung auf dem Lande gesorgt. Hochachtungsvoll Elfriede Hengstenberg"

Beide Frauen hatten gemeinsame Interessen. Sie verkehrten in linksintellektuellen Kreisen, besuchten Kurse in der Lessing-Hochschule und Elfriede Hengstenberg schloss sich dem Kreis um Elsa Gindler an, die auch eine bekannte Gymnastiklehrerin in Berlin war. Elsa Gindler wurde als "Gerechter unter den Völkern" in der Gedenkstätte Yad Yashem ausgezeichnet. Ob Gertrud Kaulitz auch Elsa Gindler persönlich kannte, ist nicht belegt. Belegt ist aber, dass Dr. Bobek, dem Gertrud Kaulitz –wie im ersten Artikel beschrieben- auf seiner Flucht half, mit seiner Frau an dem Gymnastikunterricht bei Elsa Gindler teilgenommen hatte. Dort wird er vermutlich Elfriede Hengstenberg kennengelernt haben.

Einfache Gebrauchsgegenstände wie Hocker dienten als Übungsgeräte.
Einfache Gebrauchsgegenstände wie Hocker dienten als Übungsgeräte.

© Hengstenberg-Archiv, www.arbor-verlag.de

Dr. Bobek hat bei der Vernehmung vor dem Volksgerichtshof über seine Fluchtzeit in Berlin angegeben: "Ich habe dann mit völlig unpolitischen Bekannten hier Verbindung aufgenommen, sie besucht und mich einige Tage in Berlin aufgehalten. Die Namen dieser Bekannten will ich nicht nennen."

Elfriede Hengstenberg hat sich an das Zusammentreffen mit Dr. Bobek später so erinnert: "...stand er plötzlich vor meiner Haustür in Zehlendorf, Bogotastrasse 1. Trotz mehrfacher Bewachung war es ihm gelungen, während einer Zahnbehandlung zu entkommen, Arzt und Wächter in der Wohnung einzuschliessen, dem Gewehrfeuer aus dem Fenster auszuweichen und im Aussenbezirk Zehlendorf mein Haus zu erreichen. Von hieraus, neu eingekleidet, suchte er auf unseren Rat Gertrud Kaulitz auf, die mit weiteren Freunden seine Flucht nach Markendorf i. d. Mark auf die Hühnerfarm ihrer Schwester Margret Kaulitz ermöglichte. 4 Wochen fand er dort Unterkunft und Verpflegung, bis die Häscher der Gestapo die Farm umstellten, ihn zum 2.Mal verhafteten."

In Gesprächen mit ihren Schülerinnen hat später Elfriede Hengstenberg immer wieder von den Träumen gesprochen, in denen nachts an ihre Tür geklopft wurde und ein Mann (Dr. Bobek) davor stand. Elfriede Hengstenberg war sich ihrer bedrohlichen Situation sehr bewusst. Sie hat sich in dieser wie anderen Situationen anständig und widerständig gezeigt. Umso mehr wird es sie geschmerzt haben, dass sich ihr Bruder, der Maler Rudolf Hengstenberg schon 1931 der NSDAP angeschlossen hatte. Er lebte in Potsdam und später in Bremen.

Entsprechend ihrer inneren "aufrechten" Haltung gehörte es zu ihren Bewegungs- und Gymnastikstunden, die Kinder ein aufrechtes Gehen und Laufen entdecken zu lassen. Zum Wiederfinden des "aufrechten Gangs" lies sie Kinder Teller oder Schalen auf dem Kopf balancieren und die Treppen zu ihrem Haus hochsteigen. Überhaupt waren ihr Garten und Haus mit seinen Einrichtungsgegenständen wie Hocker und Leitern bevorzugte Übungsbereiche.

Elfriede Hengstenberg wollte den Kindern eine freie Entfaltung ihrer Kräfte ermöglichen. Sie hat in Aufnahme verschiedener Konzepte ein eigenes ganzheitliches Bewegungskonzept für Kinder entwickelt, das vor allem auf die "Achtung vor der Eigeninitiative des Kindes" setzte. Sie hat ihnen den Freiraum dazu verteidigt, auch gegen missliebige Nachbarn. Und selbstverständlich hat sie auch Kinder jüdischer Familien in ihren Gruppen betreut. Das Schicksal eines solchen Jungen hat sie selber so beschrieben:

"Michael war bei mir in einem Kurs der Zehn- bis Zwölfjährigen. ...Michael war als Schlüsselkind aufgewachsen. Anfangs war er in meinen Stunden scheu und verschlossen. Erst nach und nach fing er an, sich für unsere Unternehmungen zu öffnen, er wurde zugänglicher und freundete sich mit den anderen Kindern an. 'Komm bald wieder und schreib' uns mal aus England', riefen sie ihm beim Abschied nach, als Michael  mit seinen Eltern, ihrer jüdischen Herkunft wegen, Berlin verlassen mußte. Michaels Leben war also in den anderthalb Jahren... durch die immer bedrohlicher werdende Situation für Juden im nationalsozialistischen Deutschland keineswegs leichter geworden. Aber sein inzwischen gewonnenes Selbstvertrauen gab ihm die Sicherheit, schwierigen Umständen anders als bisher zu begegnen."

Der Autor Dirk Jordan (69) war lange Jahre Volksbildungsstadtrat in Kreuzberg und lebt in Schlachtensee. Sie erreichen ihn über seine Homepage oder den Zehlendorf Blog, dem Online-Magazin des Tagesspiegels.

Dirk Jordan

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