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Landflucht: Aufbruch Ost

Die Jugend kehrt dem Land den Rücken, vor allem Frauen ziehen fort. Ein Besuch in Herzberg, das seine Zukunft verliert.

Hier müssten sie irgendwo sein, die Jungs und Mädchen von Herzberg. Auf den Treppen vor den Plattenbauten müssten sie sitzen und sich unterhalten. Oder auf der Wiese vor dem Wohnblock liegen. Es gibt doch sogar ein Schild, das junge Menschen verheißt: „Straße der Jugend“. Aber die Jugend lässt sich weit und breit nicht blicken. Stattdessen sieht man Rentner auf den Balkonen, ältere Menschen mit Einkaufstüten, gleich nebenan ist ein Seniorenheim und hinter dem Wohnblock stehen Leute, für die das Jungsein nur noch eine Erinnerung ist, vor einem grauen Flachbau um Lebensmittel an, die an diesem Nachmittag kostenlos verteilt werden. Wo sind die Jungs, die Mädchen?

14 Prozent seiner Einwohner seit der Wende verloren

Die Jugend von Herzberg, einer Kreisstadt mit knapp 11.000 Einwohnern im Landkreis Elbe-Elster, hat sich nicht versteckt oder einen Kollektivausflug unternommen. Sie ist der Stadt abhanden gekommen, vor allem junge Frauen in der Altersgruppe zwischen 18 und 29 Jahren. Ihnen fehlt es hier an Arbeitsplätzen, an Perspektiven, und bevor sie wie einige ihrer männlichen Altersgenossen ihr Leben mit Bier an der "Germania“ auf dem Marktplatz verplempern, suchen sie ihre Zukunft woanders. Vor allem im Westen. Allein 2006 haben 506 Einwohner die Stadt verlassen, mehr als die Hälfte davon Frauen. "Sie sind ehrgeiziger und reagieren auf die veränderten wirtschaftlichen Bedingungen flexibler“, sagt Bürgermeister Michael Oecknigk (CDU). 14 Prozent seiner Einwohner hat der Landkreis seit der Wende verloren.

Einer, der auch bald die Stadt verlassen wird, ist Christian Mai, 23. Nach dem Realschulabschluss hat der blonde junge Mann mit den Ringen im Ohr und den schweren Goldketten um den Hals eine Ausbildung zum Schornsteinfeger gemacht. Als er danach keinen Job fand, ist er erst mal zur Bundeswehr gegangen. Nun ist Christian arbeitslos, seit etwas mehr als einem halben Jahr. Seine Zeit vertreibt er sich im Eiscafé auf dem Marktplatz oder daheim vor dem Fernseher. Und weil seine Chancen schlecht stehen, hier überhaupt Arbeit zu finden, wird er in zwei Monaten nach Westdeutschland ziehen, um in Frankfurt am Main in einem Callcenter anzufangen. Den Vertrag hat er bereits in der Tasche. „Was soll ich hier noch?“, fragt er. „Viele meiner Freunde sind schon weg, und Mädchen gibt es hier auch kaum noch.“ Eine Freundin hat er seit längerem nicht mehr, ebenso wenig wie die meisten seiner Kumpel, mit denen er am Wochenende manchmal ins 150 Kilometer entfernte Berlin zum Feiern fährt.

"Not am Mann“

In einer Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung wird Herzberg als typischer Ort mit den typischen Problemen in den Randregionen der neuen Bundesländer genannt. Die Stadt sei geprägt durch Arbeitslosigkeit und Überalterung, heißt es in der Untersuchung, es entstünde eine neue Unterschicht, weil vor allem hoch qualifizierte weibliche Fachkräfte in den Westen ziehen. Der Mangel an Frauen im Alter zwischen 18 und 29 Jahren beträgt in Herzberg laut Studie 13 Prozent. "Not am Mann“ haben die Autoren Steffen Kröhnert und Reiner Klingholz ihre Untersuchung genant.

Dass die Not groß ist, das weiß Bürgermeister Michael Oecknigk, 47, nicht erst durch die Studie. Seit 1990 sitzt er im Rathaus von Herzberg, in seinem Büro mit den vertäfelten Wänden stehen Dutzende Ordner, in denen die Entwicklung der Stadt in Zahlen festgehalten ist. Die Arbeitslosigkeit beträgt mittlerweile mehr als 18 Prozent. Besonders schlimm ist es noch einmal vor zwei Jahren geworden, als der größte Arbeitgeber, der Armaturenhersteller Grohe, sein Werk schloss, weil er die Produktion nach China verlagerte. 300 Herzberger wurden arbeitslos, Steuereinnahmen in Höhe von mehreren hunderttausend Euro fehlen seither jedes Jahr im Gemeindehaushalt.

"Ich kann niemandem empfehlen, hierherzukommen"

Oecknigk glaubt, dass die Probleme vor allem an der schlechten Infrastruktur liegen. Aus Berlin dauert die Fahrt fast zwei Stunden, weil nur eine Landstraße nach Herzberg führt. Welcher große Unternehmer möchte sich da schon gerne ansiedeln? Trotzdem ist Oecknigk Pessimismus fern. Ihm liege viel daran, Jugendliche und junge Familien in seiner Stadt zu halten. Mit Stolz verweist er auf die 70 ansässigen Vereine, die Schwimmhalle, den botanischen Garten und den Tierpark, in dem vor kurzem wieder das jährliche Tierparkfest stattfand, zu dem immerhin mehrere Hundert Menschen gekommen seien.

Svenja, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte, war bei dem Fest nicht dabei. „Ist doch langweilig“, sagt sie. Die 21-Jährige mit den langen rotgefärbten Haaren schiebt ihr Fahrrad in einen Hauseingang der Plattenbausiedlung in Herzberg-Nord. Svenja macht eine Ausbildung zur Gestaltungstechnikerin am Oberstufenzentrum. Später wollen noch ein paar Freunde bei ihr vorbeikommen. Vielleicht gehen sie Billard spielen. Am Wochenende treffen sie sich auf der Straße, hängen gemeinsam rum, trinken Bier. „Ich kann niemandem empfehlen, hierherzukommen, sagt Svenja, „hier ist nichts los.“ Sobald sie ihre Ausbildung beendet hat, will sie so schnell wie möglich weg. „Einen Job finde ich hier sowieso nicht.“ Hamburg, München, Düsseldorf, da will sie sich bewerben. Schon allein, weil man dort auch mehr Geld verdienen kann als im Osten.

Endet die Welt in Hertzberg?

Einen Job hat Anne Spiegel, 19, in Herzberg zwar auch nicht gefunden, dafür kann sie hier aber ihre Fachhochschulreife nachholen. Ursprünglich kommt sie aus Torgau, das ist 30 Kilometer von Herzberg entfernt. Nach der 10. Klasse hat sie in Dresden eine Ausbildung zur gestaltungstechnischen Assistentin gemacht, sich danach erfolglos beworben. Um nicht tatenlos zu bleiben, will sie sich nun weiterqualifizieren. Vom Bafög kann sie sich eine kleine Wohnung leisten. Die Selbstständigkeit sei ein gutes Gefühl, besser noch als die Sicherheit, die sie bei den Eltern hätte haben können. Die Mutter hat einen kleinen Friseurladen, da hätte Anne einsteigen können. „Ich wollte aber nicht daheim hocken, sondern auf eigenen Füßen stehen und in die Welt hinaus ziehen.“ Dass die Welt schon wieder in Herzberg enden soll, damit will sich Anne nicht abfinden. Derzeit schreibt sie Prüfungen und nebenbei schon Bewerbungen. Einige Absagen hat sie bereits bekommen, und wenn es wieder nicht klappen sollte, dann überlegt sie, noch ein Studium dranzuhängen. „Aber eigentlich will ich zeigen, was ich gelernt habe und endlich mein eigenes Geld verdienen“, sagt Anne. „Diese Perspektivlosigkeit regt einen auf.“

Bürgermeister Oecknigk kennt das Problem nur zu gut. Auch seine eigenen Töchter, 23 und 27 Jahre alt, haben Herzberg längst verlassen. Katja, die Ältere, hat in Dresden Politikwissenschaften studiert, nun arbeitet sie in Heilbronn. Britta, die Jüngere, will Hebamme werden, bekam aber keinen Ausbildungsplatz in der Nähe. Deshalb ist sie ebenfalls nach Heilbronn gegangen, dort gab es eine Stelle. „Natürlich habe ich ihr dazu geraten“, sagt Michael Oecknigk, „was hätte ich auch anderes tun sollen?“ Als es um die Zukunft seiner beiden Töchter ging, war die Privatperson Oecknigk ebenso machtlos wie der Bürgermeister Oecknigk.

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