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© dpa

Pater Mertes im Interview: "Der Mythos Canisius-Kolleg hat etwas so Lächerliches"

Pater Klaus Mertes hat selbst erlebt, wie es ist, wenn Vertrauen missbraucht wird. Auch deshalb wollte der Rektor die Mauer des Schweigens durchbrechen: „Es gibt kein ,Wir‘ zwischen mir und den Opfern. Ich vertrete die Täter-Institution.“

Haben Sie geahnt, dass das Bekanntwerden der Missbrauchsfälle am Canisius-Kolleg eine solche Dimension annehmen wird?



Nein. Ich glaube, dass das erst die Spitze des Eisbergs ist. Denn das, was bei uns sichtbar geworden ist, passiert auch an anderen Schulen, nicht nur an katholischen.

Warum haben Sie den Brief an die Eltern jetzt geschrieben?


Gerüchte habe ich schon vor 15 Jahren gehört. Seitdem versuche ich herauszufinden, was da dran ist. In den Schulakten habe ich nichts gefunden. Ich habe den ehemaligen Schülern immer wieder bei Jahrgangstreffen gesagt, dass ich für das Thema offen bin. Aber erst vor vier Jahren hat sich ein ehemaliger Schüler offenbart. Und erst bei dem, was mir andere jetzt im Dezember und Januar erzählt haben, ist mir klar geworden, dass da einer gezielt vorgegangen ist, Schüler belohnt hat, wenn sie auf seine Forderungen eingegangen sind. Die Übergriffe hatten den Charakter von Initiationsriten, da sind wir auf der Ebene des Systems. Da musste ich an die Öffentlichkeit.

Wie war das Schulklima, als Sie vor 15 Jahren als Lehrer am CK begonnen haben?

Damals gab es auch schon diesen Mythos „CK“ – eine merkwürdige Mischung aus Überidentifikation mit der Schule bei gleichzeitigem Misstrauen. Ich erinnere mich an ein Fest, zu dem die Lehrer, die nicht im Orden waren, ins Jesuitenkolleg eingeladen wurden. Als sie über die Schwelle getreten sind, war das fast so, als würden sie etwas Heiliges betreten. Diese Ehrfurcht! Gepaart mit dem Misstrauen: Was machen die da Geheimnisvolles? Ich selbst spüre immer ein Unbehagen gegenüber Mythen, ich werde fast zornig, wenn ich Aussprüche höre wie „Wir sind wie ein Familie“, „Das macht man bei uns nicht“. Schule ist eine Institution mit einem wichtigen, aber begrenzten Auftrag. Mehr nicht. Der Mythos CK hat etwas so Lächerliches. Wir sind doch im Grunde ganz normal. Warum wollen die Leute immer etwas Besonderes sein?

Wie haben Sie von den Gerüchten etwas mitbekommen? Frühere Rektoren der Schule haben gesagt, dass sie nie etwas gehört hätten.

Es kann sein, dass mir Schüler mehr erzählt haben als anderen, ich hatte ein bisschen das Image eines Rebellen.

Warum verfolgen Sie das Thema Missbrauch seit damals so energisch?


Ich habe selbst erlebt, wie es ist, wenn Vertrauen missbraucht wird. Seitdem bin ich hellhörig. Ich weiß, wie alleine man sich fühlt, wenn alle im Umfeld wegschauen. Das ist ja Teil des Missbrauchs. Das Schweigen ist sozusagen das Benzin für den Motor des Täters. Das können sie nur stoppen, wenn sie das öffentlich machen. Dieses Thema hat für mich auch persönlich oberste Priorität. Deshalb habe ich auch jetzt bis Juni alle anderen Termine abgesagt.

Welchen Stellenwert haben die Missbrauchsfälle für das CK?


Jeder Mensch und jede Institution hat Schlüsselerlebnisse. Die Aufdeckung des Missbrauchs ist ein solches Schlüsselerlebnis für das CK. Es steht in einer Reihe mit der Schulgründung, mit der Schließung durch die Nazis, der Wiedereröffnung nach dem Krieg und der Aufnahme der ersten Mädchen. Es ist auch ein Schlüsselerlebnis für den Jesuitenorden. Denn gerade für Jesuiten ist der Missbrauch von Schülern durch Lehrer eine absolute Katastrophe.

Warum?

Das Herzstück unseres Glaubens dreht sich um das Lehrer-Schüler-Verhältnis und um die Frage, wie man in solchen asymmetrischen Machtverhältnissen handelt. Der Heilige Ignatius sagte, der Lehrer muss in der Mitte der Waage stehen, er muss seine Balance finden und seine eigenen Interessen zurückstellen. Er muss die Grenzen des Schülers anerkennen. Nur so können Jugendliche lernen, freie Menschen zu werden. Was sich zugetragen hat, ist der schlimmste Verrat an unserer Spiritualität.

Sind Sie wütend auf die beiden Lehrer, die das getan haben?

Nicht so sehr auf sie. Die sind mir viel zu fremd. Aber das Schweigen, das Wegsehen macht mich zornig.

Haben Sie frühere Rektoren oder Ordensobere zur Rede gestellt?

Das habe ich mir versagt. Das ist nicht meine Aufgabe. Wer wann geschwiegen hat, das soll die Anwältin Ursula Raue herausfinden. Sie ist unabhängig.

Wie fühlen sich die Opfer angesichts des großen öffentlichen Interesses?

Ich weiß es nicht. Es gibt kein „Wir“ zwischen mir und den Opfern. Ich vertrete die Täter-Institution. Es wäre unangemessen, wenn sich die Täter-Institution zum Opfer erklären würde. Dadurch würden die Opfer das Gegenüber verlieren, an dem sie sich abarbeiten. Dieser Prozess des Abarbeitens ist sehr wichtig, um mit dem Geschehenen umgehen zu können.

Woher wissen Sie das alles?


Ich habe viel gelernt durch die ignatianische Spiritualität. Zum Beispiel auch, dass Mitleid nicht weiterhilft. Ich begegne dem Willen Jesu nicht in den Opfern, sondern in der Begegnung mit den Opfern. Das ist ein Unterschied. Es geht um mehr als um Zuwendung für die Opfer. Als Mitglied in der Berliner Härtefallkommission habe ich zudem begriffen, dass man am Anfang jeder Begegnung mit Schwächeren entscheiden muss: Glaube ich jemandem oder nicht? Auch im Lehrer-Schüler-Verhältnis geht es letztlich um diese Frage. Als Lehrer Verantwortung zu übernehmen, heißt: Ich entscheide mich, dass ich dir glaube. Wenn du das missbrauchst, habe ich Pech.

Im Moment ist die Öffentlichkeit sehr alarmiert. Was wird daraus folgen?


Da schwingt im Moment auch viel Voyeurismus mit. Ich fürchte, so richtig ernst wird das Problem sexuellen Missbrauchs immer noch nicht genommen.

Was können Schulen tun, um das Thema ernst zu nehmen?


Es bräuchte an jeder Schule eine unabhängige Beschwerdestelle. Aber auch ein Schulklima, das nicht nur auf Leistung setzt. Dass sich das Buch „Lob der Disziplin“ millionenfach verkauft, macht mir Sorge. Da wird ein autoritärer Führungsstil gepriesen, Schüler werden aufgefordert, andere zu verpetzen. Durch so etwas wird wieder ein Klima geschaffen, das die Schweiger befördert. Außerdem brauchen Sie Zeit, wenn Sie offen für das Thema Missbrauch sein wollen. Diese Zeit haben Lehrer heute selten. Wenn sich heute ein Kind offenbaren wollte, würden wohl viele Lehrer sagen: Ja, aber jetzt habe ich keine Zeit. Ich leiste mir im CK den Luxus, Zeit zu haben. Ich werde vom Orden bezahlt, ich bin arm, aber frei.

Fühlen Sie sich bei Ihrer Aufklärungsarbeit unterstützt durch die Kirche?

Durch das Berliner Erzbistum ja. Aber durch die katholische Kirche als Ganze? Da wünsche ich mir, dass man ohne Angst über alles miteinander sprechen könnte. Auch über die eigene Sexualität. Ich hoffe, dass sich die Kirche mit der Moderne und der Freiheit versöhnt. Dass man offen ist für das, was Gott mit der Kirche heute vorhat. Ob das zur theologischen Neubewertung von Homosexualität führt oder zur Ordination von Frauen, ist offen. Aber man sollte sich auf die Gegenwart einlassen und nicht auf alles mit Abwehr reagieren.

Das Gespräch führte Claudia Keller.

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