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Bibliothekarinnen aus Leidenschaft. Susanne Dorén (2. von links) und Gaby Kühn-Mörsberger (rechts) haben vor zehn Jahren mit anderen Eltern die „Lesefisch“-Bücherei an der Halensee-Grundschule gegründet.

© Thilo Rückeis

Die Story vom Lesefisch: Schulbücherei des Ehrenamts

In Halensee betreiben engagierte Mütter seit mehr als zehn Jahren ehrenamtlich eine Bibliothek. Eigentlich müsste es an jeder Schule eine geben. Das ginge nur mit Freiwilligen – und etwas Geld.

Um Schlag halb zwölf erwachen die Bücher zum Leben. Gerade haben sie noch stumm in ihren Regalen gestanden, aber jetzt fangen sie an zu tanzen: Die Kinder sind da! Hände reißen die Bücher von den Brettern, Finger zeigen auf Bilder, Stimmen lesen laut vor, überall flüstert und kichert es. „Wo ist euer größtes Buch?“, fragt Kilian. „Habt ihr schon Gregs Tagebuch 7?“, will ein Viertklässler wissen, und Melissa, sechs Jahre alt, fragt: „Was steht da über den Tyrannosaurus Rex? Liest du mir vor?“ 20 Minuten später, als es zur fünften Stunde klingelt, ist alles vorbei, und Ruhe kehrt ein. Zeit, alles wieder einzusortieren und gerade zu rücken. Bis zum nächsten Ansturm.

Die Kinder der Halensee-Grundschule in Wilmersdorf nutzen ihre Schulbibliothek mit Begeisterung. Die gemütlichen Korb- und Stoffsessel sind, wenn es zur großen Pause geklingelt hat, in Windeseile belegt, und wer keinen Platz findet, nimmt sich einen Flickenteppich und verschwindet damit im Flur. Dem „Lesefisch“ mit seinen knallgelben Wänden sieht man an, dass er mit viel Liebe gepflegt wird. Jeder Schüler kann hier Bücher ausleihen, Lehrer kommen mit Klassen, die Bibliothek ist ein Aushängeschild der Schule. Dass es den Lesefisch gibt und er seit zehn Jahren täglich öffnet, ist ausschließlich dem Engagement Ehrenamtlicher zu verdanken.

Sie haben gemalert und Bettelbriefe geschickt

Alles fing an, als der Bezirk 2001 begann, Stadtteilbibliotheken im Umkreis der Schule zu schließen. „Unter den Eltern kam die Idee auf, eine eigene Bücherei in der Schule zu gründen“, erzählen Gaby Kühn-Mörsberger und Susanne Dorén, von Anfang an dabei. Ein Jahr Vorlauf war nötig, um einen Raum zu malern und herzurichten, Regale und andere Möbel zu besorgen, Buchspenden aufzutreiben, Bettelbriefe an Verlage zu schreiben und ein Bibliothekssystem zu entwickeln – dann konnte der Lesefisch 2002 eröffnen. „Es war uns wichtig, dass der Raum von Anfang an schön sein sollte und die Bücher neu und attraktiv“, sagt Mit-Gründerin Babette Dombrowski.

Inzwischen hat der „Lesefisch“ mehr als 4500 Medien, darunter viele brandneue Bücher, und ein anspruchsvolles Lesungsprogramm. Dank finanzieller Unterstützung durch den Berliner Autorenlesefonds gewann Susanne Dorén bekannte Kinderbuchautoren, allein dieses Schuljahr waren Karsten Teich, Salah Naoura, Eva Muszinsky und Sabine Ludwig da. Ein Team von rund 15 Müttern, etwa die Hälfte berufstätig, sorgt dafür, dass die Bücherei täglich von 11.30 bis 14 Uhr und donnerstags bis 17 Uhr geöffnet bleibt.

Auch an anderen Schulen wie der Fläming- oder der Nahariya-Grundschule gibt es Bibliotheken, die allein von Ehrenamtlichen betreut werden. Am Sinn dieses Engagements zweifelt niemand: „Wo lässt sich besser und nachhaltiger Leseförderung betreiben als an der Schule?“, fragt Dorén. Denn nicht jedes Kind wird von seinen Eltern in Stadtteilbibliotheken mitgenommen, und Klassenausflüge dorthin haben nur begrenzte Wirkung. In eine Schulbibliothek dagegen kann jeder zufällig hineinstolpern, und wenn sie schön gestaltet ist und Lesungen oder Bilderbuchkino bietet, lassen sich auch Kinder aus bildungsfernen Familien begeistern.

Nur ein gutes Drittel der Berliner Schulen hat eine Bibliothek

Dennoch hat Expertenschätzungen zufolge nur ein gutes Drittel der Berliner Schulen eine Bibliothek – und manche sind nur selten geöffnet oder wenig einladend gestaltet, bieten kaum aktuelle Bücher oder kein Programm. „Das Problem sind meist nicht die Räume oder Sachmittel, die lassen sich finden“, sagt Viktor Wolter, Lehrer am Victor-Klemperer-Kolleg und Ansprechpartner der 2010 gegründeten Arbeitsgemeinschaft Schulbibliotheken Berlin-Brandenburg. „Das Problem ist das Personal.“ Schulbibliotheken sind in Deutschland dem öffentlichen Bibliothekswesen zugeordnet, nicht dem Schulressort. Weder die Bildungsverwaltung noch die Bezirke fühlen sich zuständig, und es gibt meist keinen Etat, aus dem dauerhaft Personal bezahlt werden kann.

Das aber wäre nötig, denn: „Wenn sich ausschließlich Ehrenamtliche engagieren, ist es schwer, Kontinuität hereinzubringen“, sagt Lydia Bruhns, die als Lesepatin die Bibliothek der Kreuzberger Lenau-Grundschule mit aufgebaut hat. „Bei uns hat das nur mit Ehrenamtlern nicht geklappt. Da verreist mal einer, die andere wird krank oder hört auf, weil ihre Kinder die Schule verlassen.“

Lenau-Schule - mit der Schulbücherei des Jahres

Die Lenau-Schule mit ihrem hohen Migrantenanteil und dem Schwerpunkt Leseförderung hat nach einer Anschubspende der Bürgerstiftung Berlin einen Weg gefunden, ihre Bibliothek zu institutionalisieren: Bruhns und zwei Mitstreiterinnen erhalten Honorare aus dem Personalkostenbudgetierungstopf (PKB-Topf) der Bildungsverwaltung. Aus dem können Schulen Honorarkräfte, die mit Kindern arbeiten, und Vertretungslehrer finanzieren. Mit dem Geld bestreiten die drei Aktionen wie Bilderbuchkino, Märchenstunden, ein Müttercafé und mehr. Das meiste läuft aber ehrenamtlich. Mit Erfolg: Im Mai 2011 wurde die Bücherei zur „Schulbibliothek des Jahres“ gekürt.

Auf andere Schulen ist dieses Modell nur begrenzt übertragbar, denn viele Schulleiter reservieren ihren PKB-Topf für Vertretungslehrer. Und Aushilfskräfte, die das Jobcenter schickt, können höchstens ein halbes Jahr bleiben. Es braucht also Politiker, Stiftungen oder Förderer mit der Kraft, den gordischen Knoten zu durchschlagen: Sehr wenig Geld könnte ausreichen, um zusammen mit begeisterten Ehrenamtlern einzelne Schulen, ja die Schullandschaft zu verändern.

Allein 2000 Lesepaten engagieren sich im Bürgernetzwerk Bildung des Vereins Berliner Kaufleute und Industrieller (VBKI), weitere 300 bei der Bürgerstiftung Berlin. Viele von ihnen hätten Kraft und Lust, um beim Aufbau und der Belebung einer Schulbibliothek mitzuwirken. „Die Ehrenamtler bringen frische Ideen mit und denken lösungsorientiert, nicht bürokratisch“, sagt Helena Stadler von der Bürgerstiftung. „Anders als Lehrer müssen sie die Kinder nicht bewerten, sondern können sich darauf konzentrieren, ihnen den Spaß am Lesen zu vermitteln.“

Dabeibleiben, auch wenn die Kinder groß sind

Welcher Lohn die Ehrenamtler erwartet, wenn sie in einer Schulbibliothek mitarbeiten, formuliert Lydia Bruhns von der Lenau-Grundschule so: „Es ist wunderschön, mit Kindern zu arbeiten, sie zum Lesen zu bringen und mit ihnen über Bücher zu sprechen. Ich bleibe am Ball, was die Kinder gerne lesen, und fühle mich meinen Enkeln näher, die nicht in Berlin leben.“ Die Arbeit im Halenseer „Lesefisch“ macht den Müttern so viel Spaß, dass viele auch dabei bleiben, wenn ihre Kinder längst die Schule verlassen haben.

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