zum Hauptinhalt
Sie kam aus Bayern, er aus Syrien: Toni und Ahmad wurden in Berlin ein Paar.

© privat

Ein Geflüchteter findet in Berlin das Glück: Die unwahrscheinliche Liebesgeschichte von Toni und Ahmad

Sie kam aus Bayern, er aus Syrien: Angela Merkels „Wir schaffen das“ fiel in ihren Sommer der Liebe. Dann kam der Fremdenhass, und Ahmad verzweifelte an Tonis Freiheitsdrang. Doch das war nicht das Ende.

Ahmad krächzt aufgebracht ins Telefon: „Bruder, ich glaube, wir haben ein fettes Problem. Hast du die Nachrichten gecheckt?“ Erwartungsvolle Pause, und als er merkt, dass ich echt gar nichts checke, redet er einfach weiter. „Glaube, da haben ein paar von meinen Kumpels in Köln ein bisschen über die Stränge geschlagen an Silvester.“ Kein Lachen, keine Pointe. Das ist Ahmads sarkastischer Ernst. Es ist der 5. Januar 2016.

Vier Tage zu spät, aber dafür mit voller Wucht schlagen die Meldungen aus der Kölner Silvesternacht in Deutschland ein: „Sexmob wütet in Köln“, titelt die „Bild“. „Sind wir tolerant oder schon blind?“, fragt der „Focus“. Die Kölner Bürgermeisterin Henriette Reker rät zur Armlänge Abstand, Alice Schwarzer schreibt über die „Folgen der falschen Toleranz“ und im Internet entlädt sich der Hass, die Hetze. Die deutsche Frau muss vor dem unerzogenen muslimischen Flüchtling beschützt werden, so der Kommentarspalten-Konsens. Ahmad hat Schiss, und ich bald auch. Um Ahmad, um Deutschland.

Dabei war Ahmad nicht in Köln, sondern in Berlin. Die Typen sind weder Ahmads Freunde noch Geistesbrüder oder sonst irgendwas, sie tragen nur blöderweise dieselben sozialen Label: Flüchtlinge, Muslime. Und die müssen seit Köln nun einmal kollektiv geradestehen. Dabei hätte Ahmad im Leben keine fremde Frau auch nur angefasst. Gott behüte. Schon allein wegen Toni nicht.

Toni ist Ahmads Freundin, seit einem halben Jahr sind die beiden jetzt, im Februar 2017, ganz offiziell ein Paar. Kurz vor besagtem Silvester hatten sie zum ersten Mal Sex.

„Ich hätte damals echt kotzen können!“ Toni ist maximal gereizt, als wir uns nach zu langer Zeit mal wieder treffen. „Was für rechte Chauvis da plötzlich aus den Rattenlöchern gekrochen kamen, um ihre Frauen zu verteidigen.“ „Katze, reg dich nicht so auf“, sagt Ahmad in seiner ganz eigenen Sprache, den Kosenamen auf Deutsch, den Rest auf Englisch. Dazu streicht er liebevoll durch Tonis violette Haare.

Wir sitzen zu dritt am wackeligen Holztisch in einer WG-Küche in Friedrichshain. Das Fenster ist gekippt, der Himmel grau, und in der Wohnung unter uns schimpft – ganz das Klischee – ein wütender Rio Reiser aus den Lautsprechern. Wir spielen UNO, rauchen Selbstgedrehte und reden von früher. Bisschen so wie 85-jährige Rentner beim Bridge, kurz bevor sie endgültig das Zepter abgeben.

„Ein-ein-halb Jaaahre?“, fragt Toni ungläubig. 18 Monate. Genau so lange ist es her, dass wir Ahmad kennenlernten. Toni und ich. Damals teilten wir uns noch ein WG-Zimmer in Kreuzberg. Erst zu zweit, später zu dritt, irgendwann zu viert. Ich schrieb darüber genau hier, in Mehr Berlin, in der Ausgabe vom 15. August 2015. Über Toni, Ahmad, Youssuf, mich. Youssuf zog aus, er hatte seinen Abschiebebescheid bekommen, zurück nach Italien. Anfangs gab er uns noch seine Standorte durch: Mailand, Turin, Bologna, dann plötzlich wieder München, dann war die Leitung tot, die Nummer nicht mehr available. Das war letzten Sommer. Da war Ahmad schon lange umgezogen. Mit Toni, von Kreuzberg nach Friedrichshain. Heute bin ich bei den beiden nur noch zu Besuch.

"Du hast so beschissen getanzt!"

Ich weiß nicht mehr genau, was ich in dieser Sommernacht 2015 gedacht habe, auf dieser Party am Ostkreuz, als Toni den Jungen mit dem Metal-Shirt und dem Ziegenbart fragte, ob er und sein Kumpel noch mitkommen, auf ein Bier zu uns, in die Butze am Görli. Ich weiß nur, dass es nicht war: Das ist dann wohl Tonis neuer Lover. Auch nicht: Das ist jetzt das erste Kapitel einer tragikomischen Liebesschnulze.

Aber damals hätte ich eine Menge Sachen nicht gedacht. Damals war ja erst 2015 und Sommer, Berlin schwitzte und der Bundestag machte Ferien. Sicher, es kamen jetzt ein paar mehr Flüchtlinge ins Land als normal, das Lageso war damals schon überfordert; sicher, die AfD hatte inzwischen ein paar mehr Stimmen, als meiner Meinung nach gesund war, und ließ sich nicht mehr ohne Weiteres ignorieren. Aber im Großen und Ganzen schien mir das alles noch ganz schön okay. Tanzen konnte ich damals noch relativ sorgenlos.

„Du hast so beschissen getanzt“, lacht Ahmad jetzt, während er sich noch eine Zigarette rollt. „Und Toni ist die ganze Zeit umhergesprungen wie eine Katze mit Tollwut.“

Ahmad lebte damals noch in einer Sammelunterkunft in Eisenhüttenstadt und war mit einem Kumpel nur für diese eine Nacht nach Berlin gekommen, sie hatten die letzte Bahn verpasst. Wir sind dann alle zu uns, haben Bier getrunken, einen Joint geraucht. Das erste Bier seines Lebens, Ahmads allererster Joint. Und aus den Boxen dröhnte das Album des Sommers, „Hurra, die Welt geht unter“ von K.I.Z., in Dauerschleife.

Erinnerst du dich noch,
als sie das große Feuer löschen wollten?
Dieses Gefühl,
als in den Flammen unsere Pässe schmolzen? (...)
Und wir singen im Atomschutzbunker,
hurra, diese Welt geht unter,
hurra, diese Welt geht unter!
Auf den Trümmern das Paradies!

Ahmads Pass lag irgendwo im Mittelmeer

Das hatte so was Apokalyptisches. Syrien ging unter, Ahmads Pass lag irgendwo im Mittelmeer. Aber das war jetzt alles egal. Alle Uhren auf null. Ahmad war jetzt hier. In Berlin, in unserer muffigen WG am Görlitzer Park. Und rauchte und trank. „Wenn das die Hölle ist, dann bin ich hier verdammt richtig“, sagte Ahmad. Und irgendwie so oder so ähnlich musste die ja aussehen, hatten sie ihn in Syrien gewarnt. Das war damals vielleicht das erste Mal, dass Ahmad überhaupt irgendwo richtig war. Nach zwei Jahren endlich raus aus der Türkei, nie wieder zurück in das ungeliebte Syrien. Er hatte da ja nie wirklich reingepasst, sich immer gefühlt wie falsch ausgesetzt. Er, das Emo-Kind, mit immer schwarzen Klamotten; einer, den die Leute für einen Satanisten hielten. Immer traurig, immer nachdenklich, immer nur vor dem Computer und mit Metal-Musik auf den Ohren. Wenn er schon nicht rauskonnte, wollte er wenigstens träumen dürfen. Von London, von New York City. Doch dann kam der Krieg, und aus London wurde Istanbul und aus Pragmatismus später Berlin. Auch nicht übel.

Er hatte ja jetzt diese zwei Menschen. Der eine, ich, der an diesem ersten gemeinsamen Abend irgendwann eingepennt war. Die andere, Toni, mit der er danach noch am Spreekanal spazieren ging, während sein syrischer Freund zwei Berliner Kindl in die Kloschüssel erbrach. „Ihr habt meine Stereotyp-Vorstellung von Deutschen in einer Nacht zerstört“, sagt Ahmad. „Kein abschätziger Blick, kein ängstliches Die-Straßenseite-Wechseln wie in Eisenhüttenstadt. Und“, das ist Ahmad am allerwichtigsten, „kein Mitleid. Bei euch musste ich nicht Flüchtling sein.

Das war der beste Sommer. Denke ich, als ich die Fotos betrachte, die Ahmad über sein Bett geklebt hat. Wir alle, tanzend am Spreekanal, Ahmad und Toni zusammen in der Badewanne, Ahmad und ich zusammen auf einem Rockfestival bei Leipzig. Arm in Arm, schwankend vor der Bühne. Endlich die Bands live, die in Damaskus niemals aufgetreten wären. Die Lippen blutig von den scharfen Kanten der geköpften Bierflaschen schwärmten wir beide für Toni. Feierten so albern ausgelassen wie Schulkinder in den großen Ferien und lachten noch, als wir zwischen Biertrichter und matschigen Dosenravioli einschliefen. Kein Gedanke an morgen, und das Gestern war zum Vergessen da. Der Sommer unseres Lebens, über Ahmads Bett bis heute die Fotos als Beweis, für alle, die das nicht glauben wollen.

Ich war in diesem Sommer zum ersten Mal in meinem Leben ein bisschen stolz darauf, Deutscher zu sein. Angela Merkel sagte „Wir schaffen das“, und wenn alle mitanpackten, dachte ich, dann konnten wir das auch schaffen. Easy. Kaum einer in unserem Berliner Freundeskreis, der sich nicht für Geflüchtete einsetzte. Zum ersten Mal seit dem Weltmeister-der-Herzen-Gedöns von 2006 schaute die Welt mit Bewunderung auf Deutschland. Und diesmal hatten wir ja wirklich was erreicht: Hatten wir nicht mal eben hunderttausende Menschen aufgenommen im schönen Willkommens-Deutschland, als wäre nichts dabei? Und das mit der Integration schien auch ganz leicht. War Ahmad nicht das perfekte Beispiel dafür? Von mir aus konnte das immer so weitergehen.

Andererseits: Jetzt konnte es eigentlich nur noch bergab gehen – aber das verstand ich viel zu spät. Da war ich längst umgezogen nach Wien. Und Ahmad blieb in Berlin.

Pink Floyd am Landwehrkanal

Newcomer Ahmad Al-Dali.
Newcomer Ahmad Al-Dali.

© Photo: Georg Moritz

Wann aus Freundschaft Liebe wurde, das können mir Toni und Ahmad nicht genau sagen. Dass sie seelenverwandt sind, hätten sie aber relativ schnell gemerkt. Zwei Außenseiter, die von daheim auszogen und auf der Suche nach Glück und nach sich selbst wie so viele vor ihnen in Berlin landeten. Die eine ganz bewusst, der andere eher aus Versehen. Sie, die die Schule schwänzte und Böll und Hesse las, während sich die anderen in ihrer Heimatstadt in Bayern auf Bauernpartys betranken und Stammtischparolen grölten. Er, der sich mit Metal-Musik im Zimmer verschanzte, während die Gleichaltrigen erst zum Fußball, später zu Anti-Assad-Demos rannten. „Zwei planlose Freaks in einer Coming-of-Age-Krise“, wie Toni das beschreibt. Zwei Freaks, die sich aneinander festhielten, um nicht von der Wucht der Stadt mit ihren unendlich vielen Möglichkeiten weggespült zu werden.

Zurück aus Festival-Leipzig in Berlin lief Ahmad heiß: Feiern war toll, Sommer auch, aber eben auch nicht Realität. Jetzt musste er mal sein Leben geregelt kriegen. Und wer in Berlin mithalten will, muss rennen. Unendlich viele Möglichkeiten heißt unendlich viele Pflichten. Ahmads Interpretation. Er begann, als schlecht bezahlter Langzeitpraktikant in einem 3-D-Design-Unternehmen zu arbeiten und sich wöchentlich in einer Interview-Kolumne für den Tagesspiegel Gedanken über sein Leben und die Welt zu machen (siehe nächste Seite). Er half Toni als Übersetzer bei der Schlafplatzorga am Oranienplatz, die obdachlosen Geflüchteten eine Bleibe vermittelt. In einer Zeit, in der er selbst nicht wusste, auf welcher Couch er am Abend pennen würde. Er gründete mit Toni und zwei anderen Freunden ein Start-up, das Flüchtlinge in Zeitarbeit vermittelt, und zu allem Überfluss holte ihn genau in dieser Phase, im Herbst 2015, seine Vergangenheit ein. Syrien lässt sich nicht mal eben abstellen: Im Minutentakt klingelte sein Telefon. Freunde, Bekannte, über zehn Ecken Verwandte, die seine Hilfe brauchten. Als Übersetzer am Amt, als Rechtsberater, als Fahrkartenautomat-Erklärer. Plötzlich war er für sie nicht mehr der komische Typ mit der Satansmucke, sondern der syrische Kosmopolit, der fließend Englisch spricht und Arbeit hat. Gut als Orientierungshilfe im fremden Land, aber als Mensch verdorbener denn je. Das warfen sie ihm vor, während er mit ihnen Formulare ausfüllte. Dass er jetzt einen Ring im Ohr trug und einen in der Nase: na ja, nicht gut. Aber dass er jetzt ab und an bei fremden Frauen übernachtete: haram! Dass er jetzt Alkohol trank: ultra-haram, der Teufel solle ihn holen!

Alles lief ein bisschen zu schnell

Das alles ereignete sich, noch bevor er überhaupt einen Aufenthaltsstatus hatte. Und dem einen oder anderen Störgeräusch zum Trotz konnte man durchaus sagen: Läuft bei Ahmad. So sah das Toni, so sah ich das, so sahen es sogar die schimpfenden Bekannten. Aber es lief ein bisschen zu schnell. Irgendwann im Herbst hatte ich das Gefühl, Ahmad wüsste gar nicht mehr, wohin er da gerade eigentlich rennt, wünschte mir gar, er wäre besser in irgendeinem Brandenburger Provinzkaff gelandet, dann würde er sich jetzt nicht beinahe krankhaft in diesem Berliner Möglichkeiten-Pflichten-Potpourri abstrampeln. Aber er wollte es ja allen beweisen. Der Familie daheim in Syrien, den Menschen, die ihn abschätzig Flüchtling nannten, ihn für seine Kolumne im Tagesspiegel beschimpften, und vor allem sich selbst. Vor allem machte er sich dabei selbst kaputt.

Es gab nur noch einen Menschen damals, der es schaffte, die Mensch-Maschine Ahmad zu entschleunigen. Auf die Bremsen zu steigen. Toni. Und nur Toni. Weil die das nicht so ernst nahm alles, das Leben als Streben. Sie machte mal ein Praktikum hier, fing zu studieren an, hörte wieder auf, malte und zeichnete, arbeitete nachts oft in einer Obdachlosenunterkunft. Und abends saß sie mit Ahmad am Kanal. Dann redeten sie, hielten sich fest in den Armen und hörten eigentlich immer, wenn sie zusammen waren, diesen alten Pink-Floyd-Song. Noch heute, weil er so gut passt:

We’re just two lost souls

Swimming in a fish bowl,

Year after year,

Running over the same old ground.

What have we found?

The same old fears.

Wish you were here.

Zwei junge Menschen, verloren im riesigen Berlin. Ahmad weinte viel in diesen Kanalnächten. Vermisste die Familie daheim, die er seit über drei Jahren nicht gesehen hatte. Die Russen fegten inzwischen mit ihren Kampfjets über Land, halfen den Assad-Leuten dabei, Ahmads verhasste Heimat in Grund und Boden zu stampfen. Aus „Hurra, die Welt geht unter“ wurde die dumpfe Erkenntnis: Verdammt, sie tut es ja wirklich. Und die alten Freunde, die Familie gleich mit, während Ahmad in Berlin mit Toni eine Wohnung suchte.

Sie fanden dann auch eine. In Friedrichshain. Zusammen mit Nora, einer guten Freundin. Teilten sich erst eine Wohnung, dann ein Zimmer, bald ein Bett. Auch, weil bis heute immer irgendwelche Leute da sind, die keines für die Nacht haben. Geflüchtete, Freunde, arbeitslose Bekannte. Mal bleiben sie für wenige Tage, mal für Monate, halbe Jahre.

Mal sehen, wo die Nacht mich hintreibt

Dann wurde es Winter, und kurz vor Neujahr schliefen sie das erste Mal miteinander. „Wir waren uns emotional so unglaublich nah, so verloren, und haben uns einfach auch nach der körperlichen Nähe gesehnt.“ So sah Toni das damals.

Was Toni nicht sah: dass Ahmad und sie, die two lost souls, nach komplett unterschiedlichen Dingen suchten. Ahmad wollte nach drei Jahren zwischen Damaskus, Istanbul, Berlin endlich irgendwo ankommen, endlich Sicherheit und Stabilität, und zwar jetzt und mit Toni, die er abgöttisch liebt. Nicht platonisch, nicht so für eine Nacht, sondern voll und ganz und nur sie. Liebe seines Lebens, da war und ist er sich sicher.

Und Toni wollte damals alles, nur das nicht. Nicht Sicherheit, nicht Stabilität, nicht jetzt. Toni wollte nach der Flucht aus der konservativen bayerischen Kleinstadt, in der sich die Biografien irgendwann zwischen Spießbürgertum und Crystal-Meth-Absturz entscheiden, den totalen Abriss. Endlich jung sein, endlich frei sein, endlich politisch aktiv sein, endlich unendlich viele Möglichkeiten. So viele Endlichs, so viele erste Male. Am besten wäre doch, das hört nicht auf, nie. Hedonismus am Limit. Mal sehen, wo die Nacht mich hintreibt, und zur Not wartet zu Hause ja Ahmad.

„Sie ist die Nachtkatze, die mal für mehrere Tage verschwindet, bevor sie plötzlich wieder auftaucht; ich bin das Hündchen, das tagelang sehnsüchtig am Fenster steht“, so hat mir das Ahmad damals mal beschrieben.

Ob sie Ahmad zu dieser Zeit auch geliebt habe? „Über alles“, sagt Toni. „Aber nicht mehr als meine Freiheit.“ Man musste kein großer Visionär sein, um zu prophezeien, dass die Erwartungen auf 18 Quadratmeter Wohnraum irgendwann krachend kollidieren würden. Ein Standard-Boxring ist mehr als doppelt so groß. Und die Stimmung zwischen Ahmad und Toni war irgendwann mindestens so angespannt wie die Stimmung zwischen zwei Boxern vor dem Kampf.

Ein schwieriges Telefonat mit den Eltern

Szenen einer Ankunft: Ahmad al-Dali auf Schnappschüssen seiner Berliner Freunde.
Szenen einer Ankunft: Ahmad al-Dali auf Schnappschüssen seiner Berliner Freunde.

© privat

Es war ein warmer Freitagabend im Mai, als der große Kampf begann. Ich war mit Freunden in Wien an der Donau gewesen, wir hatten ziemlich viel getrunken. Als ich nachts im Bett lag, klingelte das Handy. „Ahmad …“

Es war schon Herbst, als Ahmad endlich seine Eltern anrief. Er hatte inzwischen eine Psychotherapie begonnen, seit Mai keinen Alkohol mehr getrunken. Im Sommer hatten Ahmad und Toni mich in Wien besucht, später waren sie noch zusammen auf Usedom. Pärchenurlaub. Ein bisschen war er nun aufgeregt, ein bisschen hatte er auch Angst, wie seine Eltern reagieren würden. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig: Seine große Schwester, die er und Toni gerade in Innsbruck besuchten, hatte ihn vor die Wahl gestellt. Entweder du sagst Mama Bescheid oder ihr pennt in getrennten Räumen! Das Gespräch paraphrasiert Ahmad so:

Ahmad: „Hi Mama, ich muss dir was sagen. Ich bin mit Toni zusammen.“

Mama: „Oh, mein lieber Ahmad, das sind ja schöne Neuigkeiten. Werdet ihr bald heiraten?“

Ahmad: „Äh, Mama. Das hier ist nicht in Syrien. Wir sind zusammen, wir lieben uns, schlafen miteinander.“

Kurze Stille, dann Sprecherwechsel, Ahmads Vater dröhnte jetzt aus der Leitung.

Papa: „Junge, bist du eigentlich komplett durchgedreht jetzt? Hat dich dieses Land so verdorben? Zu was für einem Menschen habe ich dich erzogen!“

Es sind Papas Worte, die Ahmad rasend machen.

Ahmad: „Habt ihr bei euch im Osten eigentlich die Wahrheit gepachtet? Denkst du, das ist besser, wie sie das in Syrien machen? Sex nur in den Arsch, damit es der liebe Gott nicht sieht? Oh, wie froh ich bin, aus diesem Land geflüchtet zu sein.“

Legt auf, donnert das Telefon in irgendeine Ecke. Es ist der Moment, in dem Ahmad abschließt. Nicht mit seiner Familie, das gibt sich wieder, zumindest auf die Entfernung. Aber mit Syrien.

„Das Einzige, was mich an Ahmad stört“, hat Toni mir mal gesagt, „ist, dass er so ein deutscher Klischee-Spießer geworden ist, der zwar ’nen Ring in der Nase trägt, aber eigentlich von Acht-Stunden-Job, Reihenhaus und Kinderkriegen träumt.“ Dann hat sie kurz überlegt: „Eigentlich ist er der feuchte Traum von Frauke Petry.“ Wir haben uns beide krummgelacht, die Vorstellung war zu witzig. Witziger als die Realität auf jeden Fall in diesem Winter des Jahres 2016, das die Chronisten da schon wahlweise als Krisenjahr oder Horrorjahr oder „Hitler unter den Jahren“ (John Oliver) abschrieben.

Der Spontan-Patriotismus ist verflogen

Hätte ja auch anders laufen können. Gleich neben der Eingangstür bei Toni und Ahmad hängt ein abgerissenes Litfaßsäulen-Plakat, das eine Silvesterfete im Kater Blau bewirbt: „2015 – lass ma drauf pfeifen. Auf ein friedliches 2016!“ Schön wär’s gewesen! Aber stattdessen: sexuelle Übergriffe durch Flüchtlinge, ein afghanischer Flüchtling, der mit Axt Amok lief, ein anderer Flüchtling, der eine junge Frau vergewaltigte, noch einer, der einen Lkw in einen Berliner Weihnachtsmarkt steuerte und dabei zwölf Menschen ermordete. Wenn ich heute solche Eilmeldungen sehe, nehme ich schon mal das Handy zur Hand, weil ich weiß, dass Ahmad gleich anruft. Betrifft ihn ja immer irgendwie. Mich auch. Zeitrechnung geht bei Ahmad und mir so: vor Köln und nach Köln. Vorher: als Flüchtlinge noch Mitleid erregten und man unbedingt was für sie tun musste, am besten integrieren. Nachher: als man überall nur noch Grapscher und Gefährder sieht. Man unbedingt was gegen die tun muss. Obergrenzen, abschieben, Familiennachzug stoppen. Willkommens-Deutschland und Wir-schaffen-das waren einmal. Mein Spontan-Patriotismus aus dem Sommer 2015 ist verflogen. Immerhin: Toni und Ahmad gibt es noch.

Die beiden geben schon ein verdammt komisches Paar ab, denke ich, als wir an diesem Abend im Februar 2017 die Wohnung verlassen. Wie sie da halb schlurfend (Ahmad), halb hüpfend (Toni) durch die Straßen ziehen. Er: schwarzer Bart, schwarze Mütze, Jacke, Jeans, alles schwarz. Sie: lila Haare, türkise Strickmütze, rote Pluderhose.

Eine halbe Stunde später sitzen wir in irgendeiner Hinterhofkneipe in irgendeinem besetzten Haus. Wo das Sternburg einen Euro kostet, es aus allen Ecken schimmelt und an der Theke Sticker kleben, auf denen steht „Nazis über den Nuckel ziehen“ und „Freiheit stirbt mit Sicherheit“. Für eine freiwillige Spende spielen druffe dänische Musiker ein DJ-Set, das sich in etwa so anhört, wie ich mir einen Bombenhagel auf Aleppo vorstelle. Ahmad und Toni liegen sich in den Armen, und ich denke, es ist so ziemlich der unpassendste Augenblick, um jetzt diese Frage zu stellen. Aber andererseits muss ich ja diese Geschichte aufschreiben, und das ist ja schon ein Thema, also: Ääh, Toni, hat das für dich eigentlich nie eine Rolle gespielt, dass Ahmad ein Flüchtling ist? Toni guckt ein bisschen verwirrt, so als hätte ich ihr ein Blitzgerät direkt vor die Pupille gehalten. „Ich check die Frage nicht.“ Toni meint das ernst, checkt es wirklich nicht. „Klar ist die Flucht ein Teil von ihm, von seiner Persönlichkeit; so wie meine Kindheit in Bayern halt Teil von mir ist. Mit der Zeit lernt man, damit umzugehen.“

Erst mal klein anfangen: die Eskalation verhindern

Und wenn doch wieder jemand kommt und fragt? Und Toni kennt viele Menschen, die fragen und sich Sorgen machen. Dann sagt Toni denen immer, dass das ja bei Beate und Serge Klarsfeld früher auch niemand geglaubt hätte, dass das eine gute Idee sei. Sie, die Deutsche, die Anfang der 60er Jahre als Au-pair nach Paris zog und sich in ihn, den jüdisch-französischen Historiker verliebte, dessen Vater im Holocaust umgekommen war. Die Freunde von Serge hätten damals ja wahrscheinlich auch nicht gesagt: Mensch, klasse, dass du jetzt ’ne deutsche Freundin hast, wo die Nazis doch deinen Vater ermordet haben. Und auch wenn damals wahrscheinlich kaum einer an die beiden geglaubt hätte, hätten sie doch immerhin ein gutes Stück zur Aussöhnung beigetragen zwischen den Deutschen und den Franzosen und den Deutschen und den Juden, indem sie zusammen Nazis gejagt haben. Da haben sie’s allen gezeigt: Liebe ist stärker als Hass! Und letztendlich hätten die beiden 2015 ja immerhin das Bundesverdienstkreuz bekommen. Da hätten sie sich aber auch schon 55 Jahre gekannt. Bei ihr und Ahmad seien es jetzt 18 Monate, und da könne man ja erst mal klein anfangen: die Eskalation verhindern, damit es später gar keine Aussöhnung braucht. Oder? Oder, Ahmad?

„Erzählst du schon wieder die Geschichte von dem deutschen Mädchen und dem französischen Judenjungen?“, fragt Ahmad auf Englisch, weil er nur so halb hingehört hat. „Weißt du was?“, fragt er Toni, streicht ihr eine lila Strähne aus dem Gesicht, während die dänischen DJs immer schrillere Sets spielen. „I fucking love you, Katze.“

Und ich sitze daneben und muss wieder an die erste Nacht denken, an die Party am Ostkreuz, den Rausch in der alten WG. Und daran, dass man mir damals viel hätte erzählen können, aber das hätte ich nicht geglaubt: dass der Junge aus Damaskus und das Mädchen aus Bayern mal ein Paar würden und ich kurz vor dem Valentinstag 2017 – oberkitschig – diese unwahrscheinliche Liebesgeschichte erzählen könnte. Bis zum Happy End.

Der Text erschien am 11. Februar 2017 im Tagesspiegel-Samstagsmagazin Mehr Berlin sowie im Online-Kiosk Blendle.

Zur Startseite