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Berlin: Harald Lieb (Geb. 1934)

Spasski nahm ihn wohl nicht ernst genug und patzte

Die Schachfeten bei Harald Lieb waren legendär. Gegen drei trafen die Spieler ein, alle in Hemd und Krawatte. Dann hörte man nur noch den Atem der Spieler und das Ticken der Schachuhren. Ab Mitternacht, wenn sich mit den hochprozentigen Getränken auch die Konzentration verflüchtigt hatte, verlegten sie sich auf Skat, und die Stimmung wurde ausgelassen. Nach ein paar Stunden Schlaf, dem gemeinsamen Frühstück und einem Gang um den Schlachtensee setzten sie ihr Turnier fort.

Dass die Begeisterung für Schach sein Leben lang anhielt, war nicht selbstverständlich, denn sein Vater hatte mit großer Strenge den Söhnen das Spiel beigebracht. Wer unkonzentriert war, bekam eine Kopfnuss. Ebenso wer den Vater besiegte. Harald spielte immer weiter, auch nachdem der Vater in Ostpreußen gefallen war.

Mit zehn übernahm er die Verantwortung für die restliche Familie, er setzte Kartoffeln im Garten des Hauses in Kleinmachnow, versorgte die Hühner und fuhr auf der Suche nach Essbarem mit dem Fahrrad aufs Land. Nebenbei war er ein guter Schüler, und fürs Schachspiel und das Leichtathletiktraining fand er außerdem noch Zeit. Er wurde Berliner Jugend- und Juniorenmeister im Weitsprung, später Berliner Meister im Dreisprung und im Zehnkampf. Die Leistung zählt, so viel war klar, und wenn man es drauf anlegt, kann man sehr viel schaffen. Er wurde Lehrer.

Am Morgen wickelte und fütterte er seine Tochter, bevor er ins Schöneberger Rückert-Gymnasium fuhr, an dem er Chemie und Sport unterrichtete. Er war gerne Lehrer und bereitete sich gewissenhaft auf den Unterricht vor. Nachmittags fuhr er oft noch mal in die Schule, um eine Sport-AG zu leiten. Die Referendare, die er als Studiendirektor ausbildete, bewirtete er im Haus der Familie, dann spielten sie Skat oder Schach. Als seine Frau wegen einer Lehrerstelle in Karlsruhe lebte, war er es, der frische Blumen auf die Schreibtische der Töchter stellte und sie mittags bekochte. Oft lud er Freunde ein, denn davon gab es viele. Er interessierte sich für die Themen der anderen – ein Zug, den auch seine vier Töchter, später die elf Enkel sehr schätzten.

Mindestens zweimal in der Woche spielte er im Schachclub Zehlendorf, oft bis in die Morgenstunden, regelmäßig trat er bei Wettkämpfen an, sieben Mal wurde er West-Berliner Meister. „Er ist ein Zauberer am Brett gewesen“, sagt ein Vereinskamerad. „Seine Gegner überraschte er immer wieder mit ungewöhnlichen Zügen.“ Auch in scheinbar aussichtslosen Situationen blieb er konzentriert bei der Sache. Die besten Berliner Schachspieler können verkünden: „Ich hab’ mal fast gegen Harald Lieb gewonnen.“

Spektakulär war sein Sieg gegen den Exweltmeister Boris Spasski bei der Internationalen Deutschen Meisterschaft 1979: Spasski nahm ihn wohl nicht ernst genug und patzte. Später fand Harald den zerknirschten Verlierer mit fast leerer Cog- nacflasche auf einem Treppenabsatz vor. Das Turnier gewann Spasski trotzdem.

Zu seinem 80. Geburtstag wünschte Harald sich ein letztes Schachturnier. Die Töchter halfen, die elf Spieler zu empfangen, und bereiteten das Buffet. Anfangs spielte er so geschickt wie immer. Dann verließen den Schwerkranken zusehends die Kräfte. Zwischen den Partien legte er sich ins Bett. Er dämmerte kurz weg, wachte wieder auf, ließ sich die Tabellen mit den Spielständen reichen. Und spielte weiter, bis zum Schluss.

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