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Berlin: „Ihr seid nicht allein“

Junge Deutschtürkinnen helfen anonym Opfern von Gewalt und Zwangsehen

Die Lust auf Leben wird mancher Frau schnell ausgetrieben. Wie der Jugendlichen, die auf der Schultoilette heimlich das Kopftuch abnahm und sich schminkte. Der Bruder bekam das mit. „Er hat meine Bekannte zusammengeschlagen, die Eltern haben ihr zur Strafe die Haare abgeschnitten und sie durfte nicht mehr in die Schule“, erzählt die 28-jährige Bürokauffrau Melek Umut (Namen vollständig, Personenangaben leicht geändert). Melek kannte auch die Deutschtürkin Hatun Sürücü, sie hatten kurz vor deren Ermordung noch Silvester zusammen gefeiert. Melek zeigt ihr Fotohandy – das Bild von Hatuns Grab trägt sie bei sich.

Immer noch werden junge Berlinerinnen nichtdeutscher Herkunft geschlagen, eingesperrt oder zwangsverheiratet. Um sie vor dem Schicksal Hatun Sürücüs zu bewahren, hat sich jetzt eine neuartige Frauenhilfsorganisation begründet. „Hatun und Can“ heißt der Selbsthilfeverein, in dem sich vornehmlich junge Frauen türkischer Herkunft aus ganz Berlin ehrenamtlich engagieren. Mutig, anonym, entschlossen. „Rettung aus Lebensgefahr“, lautet eines der Vereinsziele laut Satzung.

Ein Vereinsbüro wird es aus nahe liegenden Gründen nicht geben. Zur Verabredung in einem Café sind vier moderne, schick aussehende Frauen gekommen. Jede hier am Tisch weiß von krassen Fällen von Unterdrückung in der Familie, von Tränen auf den traditionellen Hennafesten vor der (Zwangs-)Heirat. Alle Frauen, die sich für ihre Landsleute engagieren wollen, haben türkische Eltern, sind in Berlin aufgewachsen, fühlen und definieren sich als Deutsche.

Um Vereinsvorsitz und Formalitäten kümmert sich Andreas Becker, er hat als Experte in rechtlichen Angelegenheiten schon Hatun Sürücü beraten; damals entwickelte sich eine Freundschaft zu ihr und ihrem Sohn Can. „Als Hatun plötzlich alleine wegwollte aus Berlin, hätten meine Alarmglocken schrillen sollen. Ich hatte über einen Bekannten, der Ehrenmitglied im Verein ist, schon eine Arbeitsstelle für sie in Süddeutschland besorgt.“ Doch dann streckte ihr jüngster Bruder die 23-Jährige am 7. Februar 2005 mit drei Schüssen nieder.

Damit es nicht zu solchen Taten kommt, müsse man in akuter Krise viel schneller, viel unbürokratischer tätig werden, sagt Becker: Etwa einer Frau raushelfen aus Berlin, bis sich die Wogen in der Familie hoffentlich wieder glätten. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Bevor Ämter etwa einen Umzug bezahlen, seien bürokratische Hürden zu nehmen – und es vergingen oft Wochen und Monate. Becker: „Die Zeit haben wir nicht.“ In Berlin würden viele Frauen nicht bleiben wollen, weil Männer Zufluchtswohnungen teils ausspionieren, sagen die Frauen am Tisch. Deswegen will der Verein Fahrkarten, Hotel, Kaution oder was auch immer benötigt wird, sofort bezahlen. „Dieses Geld ist für die Frauen einfach lebensnotwenig“, sagt Becker. Angst, ausgenutzt zu werden, gibt es nicht. Aber erste Kontakte zu großen Sportvereinen, Firmen und Politikern, die signalisiert haben, dafür zu spenden (s. Kasten). Eine türkische Steuerberaterin übernimmt die Buchhaltung – gratis.

Wenn Frauen nicht erwachsen genug seien für ein selbstständiges Leben, werde man sie an andere Organisationen wie BIG, Papatya oder Miles verweisen. Becker hofft auf eine Kooperation mit der Polizei; sie könne den Vereinskontakt an Betroffene weitergeben. Beim Polizeipräsidenten hieß es gestern, generell sei man gern gesprächsbereit; die Präventionsbeauftragte müsse das aber fachlich prüfen.

„Wir sind auch für die Mädels da, wenn sie reden und sich mit ihrer Familie aussöhnen wollen“, sagt Krankenschwester Ebru Yilmaz, 23. All die Probleme kennen sie nur zu gut. „Viele Mädels lassen sich vor der Hochzeitsnacht ihr Jungfernhäutchen wieder festnähen, damit es keine Schande für die Familie gibt.“ So was sei in Berlin üblich, sagt Ebru, Frauenärzte verlangten 200 bis 300 Euro für die ambulante OP. Aylin Eren, 26-jährige Angestellte in einem Nagelstudio, sagt, sie wolle dazu beitragen, dass „Hatuns Tod und die Probleme vieler Frauen nicht in Vergessenheit geraten. Wir wollen den Frauen zeigen: Ihr seid nicht allein.“ Die 33-jährige Ärztin Lara Özdemir fügt mit leiser Stimme hinzu, sie mache mit, „damit das Thema, welchem Druck diese Frauen ausgesetzt sind, Platz findet im Alltag“. Mulmig ist allen zumute, doch wegsehen wollen sie deswegen noch lange nicht. „Wir müssen einfach was machen.“

„Ich verneige mich vor diesen jungen Frauen“, sagt Frauenrechtlerin und Anwältin Seyran Ates auf Anfrage. „Was sie tun, ist fantastisch. Sie legen den Finger in die Wunde. Diese Zivilcourage und Hilfe ist genau das, was gebraucht wird, und was ich mir von türkischen Verbänden gewünscht hätte.“ Becker lässt derzeit sogar seinen Job ruhen. Er hofft, dass Behörden künftig ihre Hilfen ausbauen. „Wenn unser Verein nur ein Leben rettet, haben wir unser Ziel erreicht.“

Annette Kögel

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