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Serie "Berlin hat die Wahl" (4): Integration: Eine Willkommenskultur fehlt

Teil vier unserer Wahlserie beschäftigt sich mit der Integrationspolitik. Diese wurde Ende 2010 in ein Integrationsgesetz gegossen. Reicht das? Diskutieren Sie mit.

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Die Idee war nicht exklusiv: Mehrere Bundesländer planten 2010 ein Integrationsgesetz. Berlin hat es aber als erstes Bundesland im Dezember verabschiedet. Es soll die gleichberechtigte Teilhabe von Migranten in der Verwaltung fördern und die „interkulturelle Kompetenz“ der Landesbediensteten stärken. Der Landesbeirat für Integrations- und Migrationsfragen und bezirkliche Integrationsbeauftragte werden gesetzlich abgesichert. Erlaubt sind künftig Bestattungen nach muslimischem Ritual, und aus kirchlichen werden religiöse Feiertage. Umstritten ist das Gesetz bis heute. „Reine Symbolpolitik“ sagen Kritiker. Quoten für die Einstellung von Migranten bietet es aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht. Und ob die „interkulturelle Kompetenz“ mehr Migranten im öffentlichen Dienst berücksichtigt, wird sich erweisen. Das Land muss alle zwei Jahre über die Umsetzung des Gesetzes Bericht erstatten.

Migrantenverbände kritisieren, in Berlin gebe es keine Willkommenskultur. Die Ausländerbehörde ist und bleibt ein Moloch, der weit entfernt von einer „Servicebehörde“ ist, wie das Land sie in einer „Servicestadt“ gern bieten würde. Trotz landesweiter Kampagne stagniert die Zahl der Einbürgerungen seit Jahren bei jährlich 6000 Anträgen. Rechtliche Hürden und ausgrenzende Debatten wirken auf viele Migranten abschreckend. Einbürgerung ist jedoch wichtig: Wer staatsbürgerliche Rechte und Pflichten übernimmt, der integriert sich leichter. 2007 stellte der Senat das „Aktionsprogramm Zusammenhalt stärken – Vielfalt fördern“ vor. Eine Idee war, von Migranten getragenen Projekte mit laufenden Initiativen zu koppeln. Vor kurzem legte die Sozialverwaltung eine Evaluation vor. Das Ergebnis ist grundsätzlich positiv, doch sollten die mit bei der Förderung verbundenen Ziele geklärt werden.

Was kritisieren Wähler?

Ich lebe hier schon immer. Warum werden mir trotzdem Steine in den Weg gelegt?
Eigentlich wollte Fatih Gülec nach der Schule zur Polizei. „Aber ohne deutschen Pass geht da nichts“, sagt der 16-Jährige. Dabei ist er sogar in Deutschland geboren. „Das alles ist ziemlich unfair“, findet Gülec. Seine Eltern kommen aus der Türkei, auch sie sind schon seit Jahrzehnten in Berlin. Nun weigert sich das Amt auch noch, Gülec eine unbegrenzte Aufenthaltserlaubnis zu erteilen. Denn dafür bräuchte er eine Schulbescheinigung. Sein Mittlerer Schulabschluss, den er gerade bei einem freien Träger nachholt, soll aber nicht zählen. Fatih Gülec lässt sich aber nicht entmutigen. Wenn er im Juli mit seinen Prüfungen fertig ist, will er weiter versuchen, eine Ausbildung zu bekommen. „Am besten bei der Feuerwehr.“

Überfordern Kinder aus Migrantenfamilien die Schulen?

„Die Schulen brauchen Hilfe, und zwar sofort“, sagt Lenka Kesting. Die gebürtige Tschechin arbeitet als Lehrerin in Berlin. An immer mehr Schulen sei die Mischung aus normalen Kindern und sogenannten Problemschülern eine echte Herausforderung. Letztere kämen meist aus sozial schwachen Familien. „Der Migrationshintergrund an sich ist nicht das Problem, nur sind eben viele Zuwandererfamilien arm“, meint Kesting. „Mit einer guten Durchmischung könnte man die Leistungsunterschiede auffangen.“ Jetzt gerate der Unterricht aber zum Kampf. Sie kenne Kollegen, die eine Anstellung an einer Schule ausgeschlagen hätten, weil die Belastungen zu groß seien.

Entwickelt sich Berlin irgendwann zur Stadt der Ausländerghettos?

„Ich befürchte, dass sich bestimmte räumliche, soziale Milieus verfestigen könnten“, sagt Carla Weinhardt. Von Ausländerghettos könne man noch nicht sprechen. Sie könne aber verstehen, wenn Migranten sich in bestimmten Wohngegenden konzentrieren, weil sie sich ihrem Kulturkreis dadurch noch sehr verbunden fühlen. „Die tägliche Diskriminierung, mit der gerade Migranten in Berlin konfrontiert werden, muss enden“, meint die 21-Jährige. Sonst sei es möglich, dass Perspektivlosigkeit mit Gewalt kompensiert werde. „Wir brauchen eine bessere Durchmischung“, fordert Weinhardt deshalb. Sie sehe Handlungsbedarf für eine soziale Wohnpolitik. Migranten müssten sich Wohnungen in anderen Gegenden eben auch leisten können.

Was sagen Experten?

"Wir brauchen ausgebildetet Lehrer?"

"Mein erster Gedanke ist: Die Schulen sind nicht prinzipiell überfordert. Es macht uns aber Sorge, dass viele Migrantenkinder überdurchschnittlich unter Armut leiden. Viele Familien in den sozialen Brennpunkten schaffen es heute nicht mehr, die Kinder ausreichend auf das Lernen in der Schule vorzubereiten. Die Schule hat eine Verpflichtung, Defizite auszugleichen. Das Zauberwort heißt immer: individuell fördern. Das betrifft nicht nur den Spracherwerb. Die Lehrer müssen sehen, ob ein Kind mehr Zeit braucht, ob ein Kind mehr Zuwendung als andere braucht. Was das Lernen und Arbeiten mit Kindern angeht, können sich die Lehrer sehr gut auf die individuellen Bedürfnisse einstellen. Man sollte den Erfahrungsschatz der Lehrer nicht unterschätzen. Wir brauchen aber Ressourcen. Die Schulen benötigen gut ausgebildete Lehrkräfte und Lehrer, die Freude an ihrem Beruf haben. Inzwischen gibt es zu viele Vertretungskräfte, die nicht voll ausgebildet sind. Und außerdem sind die Grundschulen im Vergleich zu den Sekundarschulen unterfinanziert. Das muss sich ändern." Inge Hirschmann leitet in Kreuzberg die Heinrich-Zille-Grundschule mit 365 Kindern, 30 Lehrern und 24 Erziehern. Sie ist Vorsitzende des Grundschulverbandes im Land Berlin

"Die Gefahr heißt Ghettobildung"

"Eines vorweg: Die Jugendgewalt hat nicht zugenommen, Gewaltvorfälle im öffentlichen Nahverkehr sind aber durch die Videoüberwachung in Bildern sichtbarer geworden. Man sollte deshalb nicht unnötig Ängste in der Bevölkerung schüren. Wenn in einzelnen Bezirken mehr Migranten wohnen, gibt es prozentual gesehen dort auch mehr Straftaten von Migranten wie zum Beispiel in Nordneukölln. In Rudow dagegen leben mehr Deutsche, deshalb werden dort auch mehr Straftaten von Deutschen registriert. Mir fällt auch auf, dass seit den achtziger Jahren im innerstädtischen Berlin mehr Stadtquartiere überwiegend mit Migranten bewohnt werden. Es besteht die Gefahr einer Ghettobildung. Diese Tendenz könnte durch eine vernünftige Wohnungs- und Sozialpolitik abgeschwächt werden, indem man eine gute soziale Mischung in diesen Stadtteilen erreicht. Diese Problematik muss politisch gelöst werden. Es gibt in Berlin überwiegend integrationswillige Migranten. Nur haben sie in den genannten Quartieren häufig Schwierigkeiten, sich zu integrieren, weil sie kaum Kontakte in die bürgerliche Mehrheitsgesellschaft haben und keine tauglichen Vorbilder, die einen positiven „german way of life“ vorleben." Dietlind Biesterfeld ist Jugendrichterin im Amtsgericht Tiergarten und eine von vier Jugendrichtern in Neukölln. Sie ist für die Bereiche Nordneukölln, Britz und Rudow zuständig.

"Bildung ist der Schlüssel"

Aus Sicht der Wirtschaft waren die letzten Jahrzehnte immer wieder geprägt von schwierigen Zeiten für Arbeitnehmer. Vor der Wende gab es im Westteil der Stadt kaum Industrie und nur wenig Hochtechnologie. Die Staatsunternehmen im Ostteil konnten dagegen mit dem Weltniveau kaum standhalten. Regelmäßig kamen auch weltweite Krisen dazu. Aber jetzt kommen gute Zeiten auf die Wirtschaft zu mit positiven Effekten für den Arbeitsmarkt. Die Unternehmen wollen wieder einstellen. Diese Chancen haben auch ältere Arbeitnehmer. Außerdem müssen wir den Fachkräftemangel bekämpfen, der in einigen Bereichen deutlich sichtbar wird. Probleme sehe ich jedoch noch bei der Bildung. Es ist gut, dass wir künftig mehr betriebliche Anteile im Schulunterricht haben. Sinnvoll ist auch die Abschaffung der Hauptschule, denn statistisch gesehen hatte ein Hauptschüler nur die Chance, einen von zehn Ausbildungsplätzen zu bekommen. Für zukünftige Schulabgänger ergeben sich demografisch gute Möglichkeiten, einen Ausbildungsplatz zu finden. Eines muss aber klar sein: Jeder trägt für seine Zukunft individuelle Verantwortung. Gute Bildung ist unerlässlich, um etwas aus seinem Leben machen zu können. Jan Eder ist Jurist und seit 1992 bei der Industrie- und Handelskammer Berlin. Seit 2003 ist er Hauptgeschäftsführer und für 260 000 Mitgliedsunternehmen verantwortlich.

Was sagen Parteien?

Mehr Kooperation

Um bereits erworbene Abschlüsse oder Qualifikationen anzuerkennen, wollen die Grünen eine zentrale Anlaufstelle. Die Verbundausbildung soll ausgebaut werden, der Migrantenanteil von Azubis soll im öffentlichen Dienst steigen. Das will auch die SPD. Berufsausbildungen von Migranten sollen durch Patenschaften zwischen Schulen und Betrieben gezielt erweitert werden. Die Linke setzt ebenfalls auf Kooperationen. Wer nicht ausbildet, zahlt in einen Fonds ein. Die CDU will die Integration zur Chefsache machen und sie in der Senatskanzlei ansiedeln. Selbstständige Migranten sollen mehr ausbilden. Auf duale Ausbildung in Betrieb und Berufsschule setzt die FDP. Sie will auch ein maximal drei Monate dauerndes Verfahren zur Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse.

Deutsch lernen

SPD und Linke wollen die Sprachförderung für Eltern und Kinder ausbauen. Die SPD will bei der Einstellung von Lehrern stärker um Migranten werben. Die Linke möchte mehr Sprachförderung in den Kitas umsetzen. Nach Meinung der CDU sollen Schulen in Kiezen mit hohem Migrantenanteil Klassen für Kinder mit guten Deutschkenntnissen einrichten. Die FDP will mit Migranten Integrationsvereinbarungen zum Deutschlernen abschließen. In Kitas wird der Sprachstand bei Dreijährigen gemessen, bei Bedarf erhalten sie Sprachunterricht in Startklassen. Die Grünen wollen Schulen bei der Förderung von Migrantenkindern unterstützen. Schulen sollen offene Bildungszentren für den ganzen Stadtteil sein, am besten ganztägig.

Den Kiez stärken

Das Programm soziale Stadt der SPD soll Integrations-, Bildungs-, Sozial- und Jugendpolitik vernetzen und den Zusammenhalt fördern. Damit sollen Kieze und Nachbarschaften gestärkt werden. Wie die SPD setzen die Grünen zwar auch auf Quartiersmanagement, aber sie wollen eine Gesamtstrategie mit einer Sozialplanung und einer Finanzierungsstruktur für die Kieze. Auf einen Mix aus wohnungs-, sozialpolitischen und städtebaurechtlichen Instrumenten gegen Verdrängung setzt die Linke. Städtische Wohnungsbaugesellschaften spielen dabei eine große Rolle. Die FDP will eine integrierte Stadtentwicklung, die eine Willkommenskultur für Zu- und Umziehende anbietet. Gegen Verdrängung setzt auch die CDU auf eine stärkere Steuerung der Wohnungsbaugesellschaften.

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