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Kolumne "Meine Heimat": Warten auf die Bildungsrevolution

Politiker aller Parteien reden unentwegt über Bildung und das Wohl des Kindes. Lehrer versuchen, den Ansprüchen gerecht zu werden. Und doch treffen unsere Kinder auf ein System, das sich nur in Zeitlupe verbessert.

Seit Samstag gehöre ich einer weiteren Minderheit dieser Stadt an: Ich bin Mutter eines schulpflichtigen Kindes. Schlägt man die Zeitungen auf, könnte man den Eindruck gewinnen, ich wäre mit meinem Nachwuchs in den Fokus der gebündelten Anstrengungen des Politikbetriebes geraten. Vertreter aller Parteien werden nicht müde zu betonen, wie wichtig es sei, jedem Kind die bestmögliche aller Möglichkeiten angedeihen zu lassen.

In Berlins Verfassung, Art. 13, Abs. 1, steht: „Jedes Kind hat ein Recht auf Entwicklung und Entfaltung seiner Persönlichkeit, auf gewaltfreie Erziehung und auf den besonderen Schutz der Gemeinschaft vor Gewalt, Vernachlässigung und Ausbeutung.“ Da kann eigentlich nichts mehr schiefgehen, oder? Nun ja, Papier ist geduldig. Bildungspolitik macht aber immer noch der Finanzsenator und nicht die Bildungssenatorin. Geld ist nicht alles, aber fast alles ist ohne Geld nichts. Das macht sich schon daran bemerkbar, dass Privatschulen regen Zulauf haben.

Ist Ihnen aufgefallen, welche ökonomische Rhetorik die Politik bemüht, um Bildungsziele zu formulieren? Da geht es um wertvolle Ressourcen, Potenziale, Humankapital, die Anforderungen der Wirtschaft. Die marktkonforme Demokratie ist jetzt auch bei den i-Dötzchen angekommen. Mit Verlaub, meine Tochter ist kein durchnummeriertes Werkstück, sondern ein eigener kleiner Mensch, dessen Einzigartigkeit sich als soziales Wesen zusammen mit anderen Kindern entwickeln soll. Die Politik redet in einer Endlosschleife über Bildung, die Eltern kämpfen ausschließlich für ihr Kind, und die Lehrer müssen versuchen, alle Ansprüche umzusetzen. Wir lassen unsere Kinder los auf ein suboptimales System, das sich nur in Zeitlupe verbessert. Meine Hoffnung ist, dass die Kinder Lehrer finden, die für sie Vorbild werden, den kleinen Menschen und ihren Besonderheiten Wertschätzung entgegenbringen, damit sie sich entwickeln können.

Bei der Einschulung stellte ich mir auch die Frage, ob Wohlstandsverwahrlosung die große Schwester von Armutsvernachlässigung sein könnte. Während sich gefühlte 5000 Familienmitglieder, die gerade mal 70 Schüler umzingelten, Nahkämpfe um die besten Plätze und Motive lieferten und ein Blitzlichtgewitter wie bei der Berlinale stattfand, saßen die Kleinen bedröppelt in der ersten Reihe, klammerten sich an ihre prall gefüllten Schultüten und überstanden den Hype um den ersten Schultag mit ungläubigem Erstaunen. Schon komisch, nirgendwo klaffen Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander wie in unserem Bildungssystem. Oder wie mein Vater sagen würde: „Armut agaci elma vermez.“ Von einem Birnenbaum fallen keine Äpfel.

Hatice Akyün ist in Anatolien geboren, in Duisburg aufgewachsen und in Berlin zu Hause. An dieser Stelle schreibt sie immer montags über ihre Heimat.

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