zum Hauptinhalt
Schon seit einem Jahr protestieren Anwohner am Kottbusser Tor gegen zu hohe Mieten.

© dpa

Mietenproteste in Berlin: Die Wütbürgür

Türken kümmern sich nur um Türkenthemen? Migranten nur um Migrantenbelange? Falsch! Und zwar nicht erst seit sie in Berlin-Kreuzberg gemeinsam mit Deutschen gegen explodierende Mieten protestieren.

Sie wurde auf den Platz getrieben von einer Mischung aus persönlicher Betroffenheit und allgemeiner Empörung. Diese Mischung provozierte sie, dort eine Bretterbude aufzustellen, die inzwischen „Protestcamp“ heißt, und hielt sie an, weiterzumachen: immer wieder Mahnwachen zu übernehmen, Plakate zu malen, bei jeder Demo mit Kochlöffel und Topf in der Hand in einer der ersten Reihen mitzulaufen, in eine Tröte zu blasen, Demosprüche zu skandieren und ihre Mitbewohner zu motivieren, bei dem Protest mitzuziehen.

Fatma Cakmak, klein und dunkelhaarig, beugt die Knie, brüllt erst „Runter mit den Mieten!“, dann „Rauf mit den Löhnen!“, wozu sie hochschnellt und die Arme in die Luft reißt. Vor ihr stehen fünf junge Frauen mit Kopftüchern und schauen zu. Als Fatma Cakmak wieder in die Knie geht, machen sie mit. Zu sechst brüllen sie nun „Runter mit den Mieten!“ und „Rauf mit den Löhnen!“. Das macht gleich mehr her. Passanten drehen die Köpfe nach dem Geschrei.

Am Kottbusser Tor demonstrieren sie seit einem Jahr gegen zu hohe Mieten

„Kotti & Co.“ heißt das Protestcamp, seit fast genau einem Jahr steht es jetzt am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg, einst Problemviertel, heute beliebte Gegend. Es wurde aufgebaut von Anwohnern, um damit gegen eine Berliner Wohnungspolitik zu protestieren, die nichts tut gegen explodierende Mieten.

Cakmak und die anderen prangern vor allem die Tatsache an, dass die Quadratmeterpreise am Kottbusser Tor inzwischen so hoch liegen, dass die Jobcenter sie nicht mehr übernehmen. Dass also Hartz-IV-Empfänger dort nicht mehr bleiben können. Dass deshalb viele Menschen, die ihr ganzes bisheriges Leben in der Gegend verbracht haben, die oft türkischen Migrationshintergrund haben und keinen Job, wegziehen müssen.

Das Jobcenter übernimmt die Mieten am Kotti nicht mehr - zu hoch

Auch Cakmak ist betroffen. Seit mehr als einem Jahr droht ihr, ihrem Mann und den zwei Töchtern der Rauswurf aus der 72 Quadratmeter großen Drei-Zimmer-Wohnung im Süden vom Kottbusser Tor. Die 40-Jährige ist Bauingenieurin, doch sie findet seit Jahren nur Minijobs, ihr Mann ist selbstständiger Fliesenleger, das Geschäft könnte besser laufen. Die Familie stockt das Einkommen mit Hartz IV auf, die Wohnung bezahlt das Jobcenter. Am Kottbusser Tor durchaus eine übliche Daseinsform: Die Wohnungen im Süden vom Kottbusser Tor sind Sozialwohnungen. Seit 2003 aber baut die Stadt die Subventionen für den sozialen Wohnungsbau in dieser Gegend ab, woraufhin die Mieten anstiegen. In Cakmaks Fall liegt die Miete nun knapp über dem Preis, den das Arbeitsamt angemessen findet für einen vierköpfigen Haushalt. Familie Cakmak soll jetzt raus der Wohnung, in der sie seit 15 Jahren lebt. Verdrängt, einfach so, damit andere einziehen können, die mehr Geld haben als sie. Sie sieht das nicht ein.

Die Berliner Wohnungspolitik regt sie auf, vorher waren es ausländerpolitische Fragen

Deshalb sitzt sie fast jeden Tag im Protestcamp „Kotti & Co.“. Sie sagt, ein Politiker habe ihr gegenüber die Situation zu rechtfertigen versucht. Die Mieten würden steigen, damit die Gegend besser durchmischt wird, habe der gesagt. Fatma Cakmak stößt laut Luft aus, „pfffffff“. So ein Unsinn. Die Gegend sei doch bereits stark durchmischt.

Die Berliner Wohnungspolitik, die Mieter von ehemals günstigen Sozialwohnungen offenbar bedenkenlos dem Markt zum Fraß vorwirft, regt sie auf. Das will sie ändern, weil Berlin ihre Heimat ist, in der sie ein Wörtchen mitreden kann.

Dass Einwanderer aus der Türkei oder andere Migranten in Deutschland protestieren, ist nicht neu. Motivation für den Protest der Zuwanderer waren aber bisher – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – fast immer deren spezifische Probleme: Gastarbeiterfragen, Familiennachzugsfragen, ausländerpolitische Fragen, 2004 der erbitterte Streit ums Kopftuch oder Konflikte im Herkunftsland.

Türkischstämmige protestieren jetzt zu einem typisch deutschen Thema

Nach Demonstrationen von Kurden und Türken gegen die türkische Kurden- und Nordirakpolitik im November 2007 erklärte ein türkischstämmiger CDU-Politiker aus Nordrhein-Westfalen in der Zeitung „Kölner Express“, der Protest gebe Aufschluss über die mangelnde Integration beider Volksgruppen in Deutschland. „Man kann daran sehen, wo das Hauptaugenmerk und die Identifikation der Leute ist. Das ist eine Türkei-Identität.“

Özcan Mutlu, Grünen-Abgeordneter in Kreuzberg und Deutscher mit türkischen Eltern, ist überzeugt, dass die Proteste am Kottbusser Tor der Beweis sind, dass sich das mittlerweile geändert hat, dass die türkischstämmigen Bürger in Deutschland angekommen sind. „Neu an den Protesten am Kotti ist, dass es um ein typisch deutsches Thema geht“, sagt er. „Dass sich türkischstämmige Mitmenschen an solche Themen wagen, hat damit zu tun, dass sie mittlerweile wirklich in Deutschland angekommen sind.“ Sie trauen sich jetzt zu, die deutsche Gesellschaft mitzugestalten. So wie Fatma Cakmak.

Mutlu sitzt in einem Dönerladen am Kottbusser Tor. Es ist sein Kiez, hier kennt ihn fast jeder, immer wieder unterbricht er das Gespräch, um mit dem Besitzer oder mit Gästen ein paar Worte auf Türkisch oder auf Deutsch zu wechseln. „Früher dachten die Deutschen und die Türken und alle anderen Migranten, dass die Einwanderer irgendwann in die Heimat zurückkehren. Da lebten wir aneinander vorbei.“

Migranten haben schon immer Einfluss auf deutsche Politik gehabt

Auch Fatma Cakmak ist so aufgewachsen. Ihre Eltern kamen vor gut vier Jahrzehnten aus der Türkei nach Deutschland, ihr Ziel damals: arbeiten, Geld verdienen und in die Türkei zurückkehren. Noch heute sagen sie oft, dass sie irgendwann nach Hause wollen. Ihre Tochter dagegen ist längst in Deutschland zu Hause – und will dieses Zuhause selbstbewusst mitgestalten.

Für den Historiker Simon Goeke ist sie damit in einer typischen Rolle, die lediglich nie wirklich zur Kenntnis genommen wurde. „Migranten haben immer schon Einfluss auf die Politik und Gesellschaft in Deutschland genommen“, sagt er am Telefon. Goeke schreibt an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität gerade seine Doktorarbeit über die Protestkultur von Migranten in der Bundesrepublik Deutschland. Er ist einer der ersten Geschichtswissenschaftler, der die Proteste von Gastarbeitern und anderen Einwanderern untersucht. „Dass Migranten immer schon politisch waren, ist kaum bekannt.“ Das liege daran, dass sich in der Öffentlichkeit die Meinung durchgesetzt habe, Migranten seien in Deutschland nur am Geldverdienen interessiert gewesen. Politisches Interesse fiel immer nur im Zusammenhang mit der Situation in den Herkunftsstaaten auf, zum Beispiel während des Kurdenkonflikts in der Türkei, der Ende der 70er Jahre eskalierte. Auch in den 1980er und 90er Jahren protestierten die Kurden in Deutschland gegen die Politik der Türkei. 1994, als der türkisch-kurdische Bürgerkrieg ausbrach, blockierten Kurden die deutschen Autobahnen, um ihre Wut auf die türkische Politik zu äußern.

Wegen der Konflikte in ihrer Heimat waren Migranten schon immer stark politisiert

Bei seinen Recherchen hat Goeke herausgefunden, dass das nicht immer so war. Bestimmte Gruppen in Deutschland erkannten schon früh das politische Potenzial der Gastarbeiter. Radikale Studentenvereinigungen versuchten in den 60er Jahren gezielt, die Ausländer für ihre Proteste zu gewinnen – weil sie sie politischer als die Deutschen einschätzten. Als 1968 in München die Müllarbeiter streikten, verteilten Studenten Flugblätter in türkischer Sprache. Die Studenten hielten in einem internen Bericht fest, dass die Türken interessierter als deutsche Arbeiter seien, dass sie die Flugblätter genauer durchlesen, in Gruppen darüber diskutieren würden und sich beschwerten, als es keine Flugblätter auf Türkisch mehr gab. Sie hielten fest: „Organisierung der Türken scheint möglich.“

Simon Goeke geht davon aus, dass die Gastarbeiter und Einwanderer aufgrund der oft konfliktbehafteten Situationen in ihren Heimatstaaten von Anfang an stark politisiert und protestbereit waren. „Sie setzten sich deshalb auch schnell gegen schlechte Arbeitsbedingungen zur Wehr“, sagt Goeke. An Arbeitskämpfen in deutschen Werkshallen nahmen die Gastarbeiter von Anfang an teil – und überhaupt spielten die Gewerkschaften bei den Protesten von Migranten eine wichtige Rolle. Ein Grund dafür war die „Ausländerpolizeiverordnung“, die ab 1965 zum „Ausländergesetz“ wurde. Durch sie wurden die Möglichkeiten der Migranten, sich politisch zu betätigen stark eingeschränkt. Die Verordnung und später das Gesetz schrieben fest, dass ein Einwanderer aus Deutschland ausgewiesen werden konnte, wenn die Behörden durch seine politische Tätigkeit „die Belange der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt“ sähen. „Der Protest im Bund mit der Gewerkschaft bot den Migranten in dieser Situation Schutz“, sagt Historiker Goeke.

In den Siebzigern wurden die ersten Ausländerbeiräte gegründet

Während der Ölpreiskrisen in den Jahren 1974 und 1979 schlossen sich Migranten deshalb verstärkt den Gewerkschaften an und beteiligten sich noch aktiver am Arbeitskampf, weil sie Angst um ihren Job hatten. Ebenfalls in den 70er Jahren begannen Einwanderer, gegen die zunehmend als feindselig empfundene Ausländerpolitik der Bundesrepublik zu protestieren. Als die Bundesregierung 1974 ankündigte, Migranten, deren Kinder im Ausland lebten, künftig kein oder ein geringeres Kindergeld zu zahlen, bildeten sich in vielen Städten sogenannte „Kindergeldkomitees“. Auf Demonstrationen skandierten die Migranten „Gleiches Kindergeld für alle“. In einem Artikel der „Süddeutschen Zeitung“ aus jener Zeit wird ein türkisches Mitglied des Münchner Kindergeldkomitees zitiert: „Wir nehmen unsere Sache jetzt selbst in die Hand. Wir wollen uns nicht mehr diskriminieren und wegschmeißen lassen.“

Simon Goeke sagt, dass damals zum ersten Mal bundesweit Einwanderer zusammen mit deutschen Unterstützern auf die Straße gegangen seien. Zeitgleich mit den Kindergeldkomitees wurden in vielen Städten Ausländerbeiräte gegründet. Die sollten den zunehmenden Protesten von Gastarbeitern entgegenwirken und Kooperationswillen bekunden. Da sie aber kein tatsächliches politisches Mandat hatten, nennt Goeke sie einen „eher faulen Kompromiss“.

„Wir nehmen unsere Sache jetzt selbst in die Hand“, diese Losung könnte auch am Protestcamp von Fatma Cakmak stehen. Allein das, was „unsere Sache“ ist, hat sich geändert. Es ist auch die der Deutschen. So gesehen ist „Kotti & Co.“ die logische Fortsetzung der bisherigen Protestgeschichte von Migranten in Deutschland. Das bestätigt in ihrem Büro an der Berliner Humboldt-Universität auch die Sozialwissenschaftlerin Manuela Bojadzijev, die ebenfalls zur Protestkultur von Migranten forscht. „Seit den 1970er Jahren haben sich Türken in Deutschland immer wieder so zusammengeschlossen, wie sie es jetzt am Kottbusser Tor tun“, sagt sie und auch: „Neu beim Protest am Kottbusser Tor ist vielleicht, dass er viel mehr als die bisherigen Migrantenproteste wahrgenommen wird.“ Das liege allerdings auch am Thema, sagt Bojadzijev: „Weil eben sehr viele Menschen von Wohnungsnot betroffen sind. Auf jeder Party wird doch über die steigenden Mieten gesprochen und damit auch über die Frage, in welcher Stadt wir eigentlich leben wollen.“ In diesem Kontext treibe der „Kotti & Co.“-Protest die aktuelle Wohnraumdebatte in der Stadt mit voran.

Die Migranten vom Kotti sind streng genommen gar keine mehr

Trotzdem ist es auch Manuela Bojadzijev wichtig festzuhalten, dass der Protest von Einwanderern an sich nichts Neues ist. Und dann will sie noch festgehalten wissen, dass die Migranten vom Kottbusser Tor „genau genommen gar keine mehr“ seien: „Sie sind Deutsche mit türkischen Wurzeln, die viel Erfahrung mit Migration und Integration mitbringen und die einen wichtigen Beitrag zu der Debatte leisten können, wie die deutsche Gesellschaft in Zukunft aussehen soll.“

In diesem Punkt stimmt sie mit Grünen-Politiker Özcan Mutlu überein. Er sagt: „Heute ist klar, dass Menschen mit türkischem Hintergrund wie ich zu Deutschland gehören. Das ändert vieles und zwingt uns alle – Türken und Deutsche – dazu, uns miteinander auseinanderzusetzen.“ Mutlu selbst sah sich schon früh als Deutscher. Er wurde 1968 in der Türkei geboren, kam als Kind mit seinen Eltern nach Deutschland. Und während auch seine Eltern davon sprachen, dass sie irgendwann wieder in die Türkei zurückkehren würden, engagierte er sich in der Politik. Fatma Cakmak, die Protestlerin von „Kotti & Co.“, kennt er seit Jahren. „Es gibt viele starke Frauen wie sie unter uns, sie können viel bewegen. Der Protest gegen die steigenden Mieten ist nur der Anfang.“

Im vergangenen Herbst etwa demonstrierte eine Reihe türkischer Eltern in einer Kreuzberger Schule. Ihre Kinder waren in eine Klasse gesteckt worden, in der drei Viertel der Schüler einen Migrationshintergrund hatten. In einer Parallelklasse hingegen saßen fast nur Deutsche. Bei der Demonstration fragte eine Mutter mit türkischen Wurzeln eine Journalistin erbost: „Wie soll meine Tochter denn in einer solchen Klasse gut Deutsch lernen?“ Auch dieser Protest fand Gehör. Die Politik forderte die Schuldirektorin auf, die Klassen zu durchmischen.

Durchmischen. Fatma Cakmak würde sagen, in diesem Zusammenhang passt das Wort.

Zur Startseite