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Berlin: Heiko Gliesche-Neumann (Geb. 1942)

Auch ein Lebenssinn: Tue das Gegenteil von dem, was dir gesagt wird

Ein bisschen Krull, ein wenig Schwejk, vor allem eine Menge Gliesche. Zwar hört er nicht das erlösende Wort: „ausgemustert“, zwar muss er nicht an die Front. Aber auch er gibt den Possenreißer, den Narren: ein kindlicher David, der den lächerlichen Goliath foppt, ein Komödiant, der die Welt als Komödie nimmt.

1961, am 23. August, fällt Heiko Gliesche während der Fernmelderausbildung in der Kompanie 427 in der Neuen Kaserne zu Frankenberg/Eder in Hessen zum ersten Mal auf. Ein Auszug aus der Zeitschrift „Pardon“, verfasst von Winfried Thomsen:

Er reißt der Kompanie gehörige Bilder von der Wand eines Korridors (Gliesche: „Sehr kitschig!“), verrammelt dann die Tür seiner Stube mit Spinden, beschimpft den Funker Gauler und fordert ihn auf: „Leg dich ins Bett!“ Er legt sich selbst hin. Weil er die Befehle seiner Verfolger, des Leutnants Heller, des Unteroffiziers Scheschelsky und des Gefreiten Schell, die Tür zu öffnen, nicht befolgt, öffnet Funker Gauler. Gliesche stellt sich schlafend, grinst jedoch, steht dann auf Befehl des Leutnants nur zögernd auf. Er zieht sich nicht an, so dass er angezogen werden muss, lacht alle Anwesenden aus und winkt bei der Abführung zum Arrest hämisch.

28. 8. : Der Chef der Ausbildungskompanie, Oberleutnant Allmann, bestraft Gliesche wegen der abgerissenen Bilder und der verrammelten Tür mit 30 DM Geldbuße. Gliesche beschließt, sich während des Dienstes möglichst wenig auszuzeichnen. Er folgt betont langsam Befehlen und versteht es, vor Märschen und anderen Anstrengungen rechtzeitig fußkrank zu sein.

8. 11. : Gliesche hat versucht, bei der Essensausgabe zwei Portionen zu ergattern, und bei der Waffenausgabe ein Gewehr nur angenommen, nachdem ihm mit einer Anzeige wegen Befehlsverweigerung gedroht worden ist.

16. 11. : Ungeachtet der Ausgangsbeschränkung, unternimmt Gliesche einen Stadtbummel.

13. 12. : Funker Gliesche erscheint in Turnschuhen zum Dienst und erregt den Unwillen des Kompaniefeldwebels, Oberfeldwebel Zuch, weil er „nur ungeputztes und ungepflegtes Schuhzeug“ im Spind hat. Auf Zuch-Order reinigt er seine sämtlichen Dienstschuhe auf dem Flur vor dessen Geschäftszimmer, und er ist so eifrig um Hochglanz bemüht, dass er nicht nur den Flur, sondern auch die Befehle am Schwarzen Brett mit Schuhcreme beschmiert.

7. 1. : Heiko Gliesche, vom Truppenarzt krankgeschrieben, bummelt dessen ungeachtet durch die Stadt und gefährdet auf dem Rückweg seine Gesundheit leichtfertig: Wegen einer Wette durchschwimmt er die Mosel.

13. 1. : Für das Durchschwimmen der Mosel (Der Bataillonskommandeur: „Vom militärischen Standpunkt eine Glanzleistung!“) wird Gliesche mit sieben Tagen Arrest bestraft.

23. 1. : Das Truppendienstgericht in Münster lehnt die Beschwerde Gliesches gegen die Geldbuße für Unrasur und unabgeholte Stiefel (sind beim Schuster) ab. Gliesche: Der Begriff „tadellose Rasur“ sei relativ. Das Gericht aber verweist auf die Zentrale Dienstvorschrift 49/20, Ziffer 447: „Rasiere dich regelmäßig.“ Das Nichtabholen der Schuhe (Gliesche: „Kein Geld“) habe die Disziplin bedroht, denn „die Bundeswehr ist nur unter Aufrechterhaltung von Manneszucht ein schlagkräftiges Instrument.“

Von den 548 Tagen bei der Bundeswehr verbringt Heiko 106 im Arrest. Seine Geldbußen betragen insgesamt 243 DM, der Monatssold 69 DM. Die Summe der Arreststrafen führt zu einer Verlängerung des Dienstes, weitere Vergehen und Geldstrafen folgen, insgesamt 979 DM. Ein Generalleutnant schreibt ihm am Ende eine Karte: „Es ist nicht Sinn Ihres Lebens, sich fortgesetzt mit den Anordnungen der Vorgesetzten in Konflikt zu bringen.“

Er irrt sich: Heikos Lebenssinn ist es, immer genau das Gegenteil von dem zu tun, was ihm gesagt wird. Vor allem dann, wenn es ein entlarvender Spaß zu werden verspricht.

Was nicht heißt, dass Heikos Leben ein durch und durch heiteres ist. Mit knapp drei ist der Frohsinn vorbei. Alle sprechen nur noch von den Russen, die kommen, sie müssen raus aus Kolberg, sein Vater, seine Mutter, er, sie besteigen das letzte Schiff, verwundete Soldaten überall. Er starrt aufs Meer, die ganze Zeit, er will das Blut nicht sehen. Seither hasst er Blau. Die blaue Strickjacke, die er Jahrzehnte später geschenkt bekommt, probiert er nicht mal an.

Sie kommen irgendwann in Wiesbaden an. Und eines Tages, er ist neun und sein Bruder zwei, steht seine Mutter auf einer Verkehrsinsel und wird von einem Laster überfahren.

Er erhält nach der Schule ein Stipendium und studiert Grafik an der Werkkunstschule. Heiratet mit 21, bekommt zwei Töchter, lässt sich scheiden, lebt in Hamburg, arbeitet als Grafiker in der Comic-Abteilung des Koralle-Verlages. Während einer Weihnachtsfeier fällt ihm eine Frau auf. Sie sprechen, sie lachen, sie verstehen sofort, dass es mehr als ein Plausch zwischen Kollegen ist, treffen sich außerhalb der Redaktion, und da es nicht aufhört zu schneien, kommen sie nicht mehr aus dem Haus, drei Tage lang.

Er und Christine ziehen nach Berlin, bleiben aber im Verlag. Heiko entwickelt eine Schriftart für den Bildschirmtext – eine Art Vorläufer des Internets – und bekommt einen Preis dafür, da seine Buchstaben nicht eckig und sperrig aussehen, sondern harmonisch rund. Die Redaktionen reißen sich um ihn, er verdient gut. Doch dann brechen die Verlage diesen Versuch ab. Und Heiko ein Leben, das als das typisch männliche gilt: Er verabschiedet sich vom kompletten Karrierebrimborium und wird Hausmann.

„Das war sein größtes Werk“, sagt Christine: sich um die gemeinsame Tochter, den Sohn zu kümmern, sich ihnen ganz und gar zuzuwenden. Inzwischen hängt am Gliesche das Neumann, Christines Name, beide finden weder den einen noch den anderen besonders bemerkenswert, also würfeln sie. Er baut zwei Kinderläden mit auf. Und er fängt an zu trinken.

Heiko ist ein Spiegeltrinker, dass heißt, dass er seinen Blutalkoholspiegel andauernd aufrechterhalten muss. Viele Trinker laufen unter Alkoholeinfluss, zumindest zeitweise, zu Höchstform auf. Heiko hingegen wird dumpf und dröge, verliert seine Eloquenz, seinen Humor, seine Feinsinnigkeit. Die Familie leidet – aber nie vertuschen sie die Krankheit oder tun so, als sei das Offensichtliche nicht offensichtlich. Keine Ausflüchte, Heiko säuft, so ist es. Bis er die Kraft für den Entzug aufbringt.

Es beginnt ein neues Leben, ohne einen Tropfen, ohne Schönrederei. „Ich war in der Trinkerheilanstalt“, sagt er, wenn es jemand wissen will. Und zeichnet im Verlag „Trokkenpresse“ Karikaturen zum Thema. Zum Beispiel eine Art Sigmund Freud, am Kopfende eines Sofas, auf dem ein Mann mit stattlicher Säufernase liegt und vor sich hinsinniert: „Ich trinke nur bei geringen Anlässen, oder wenn gar nichts passiert.“ Er arbeitet mit an einem Buch über die „Lebenswege berühmter und weniger berühmter Alkoholiker“.

Auf Gehorsam pfeift er nach wie vor, abgenutzte Redeweisen ermüden und belustigen ihn. Da er herzkrank ist, hat er Anspruch auf einen Parkplatz, aber er bekommt ihn nicht. Er schreibt an die Behörde: „Moin, moin, nach zehn Wochen Urlaub zurückgekehrt, musste ich konsterniert feststellen, dass mein Behindertenparkplatz noch nicht eingerichtet worden ist: Erholungseffekt völlig im Eimer und ich total am Boden zerstört.“ Die Ein-Stück-weit- und Am-Ende-des-Tages-Sager fallen ihm besonders auf die Nerven, aber er kann sie hervorragend nachäffen. Was er oft und gerne tut, auch wenn es ihm schlechter geht. Seine Nieren sind schwach, ihm wird ein Katheter eingesetzt, der verrutscht, was die Ärzte zu spät bemerken. Mehrmals muss er operiert werden, ein Krankenhauskeim schwächt ihn. Er wird sterben, alle wissen das.

Drei Wochen sitzen Christine, die Kinder, die Freunde an seinem Bett. Sie lachen, sie essen, sie erzählen Geschichten, sie spielen Karten. Sie sind lebendig, wie er es immer war. Eines Abends sagt der Arzt: „Es wird noch dauern.“ Am nächsten Morgen ist Heiko einen Moment allein im Krankenzimmer – und stirbt. Noch einmal hat er sich geweigert zu tun, was erwartet wird.

Der Generalleutnant hatte damals geschrieben: „Gehen Sie in sich und werden Sie ein besserer Mensch und Soldat.“ Ein besserer Soldat? Sicher nicht.

Ein besserer Mensch? „Am Ende des Tages vielleicht ein Stück weit schon“, hätte Heiko wohl geantwortet.

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