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Berlin: Hermann Kreutzer(Wo er studiert hatte? Im Zuchthaus. Vierzehn Semester. )

Groß war er, selbstbewusst und blond. Ein Prachtkerl von einem Soldaten, ein Deutscher, wie man ihn sich wünschte.

Groß war er, selbstbewusst und blond. Ein Prachtkerl von einem Soldaten, ein Deutscher, wie man ihn sich wünschte. Auf die Idee, dass es sich bei der Wunde auf Hermann Kreutzers Oberschenkel um das Ergebnis einer Selbstverstümmelung handeln könnte, kam keiner.

Sein Vater, ein Glasermeister und SPD-Mitglied seit der ersten Stunde, hatte ihm einen Topf voll kochenden Wassers auf das Bein gekippt, und anschließend geholfen, die Wunde gründlich zu verunreinigen.

Dass er es seinem Vater nachtun und den Nazis den Verstand und auch den Körper verweigern würde, wusste Hermann früh. Ganz sicher aber war er sich seit dem Tag, an dem die Gestapo daheim die Schubladen durchwühlt und sein liebstes Spielzeugauto zertreten hatte. Von da an verteilte er in seiner Heimatstadt Saalfeld Flugblätter der illegalen SPD.

Das Schicksal belohnte ihn mit der hübschen Dorle. Die lief von Zeit zu Zeit am Fenster des Lazaretts vorbei und ließ sich eines heißen Sommertages auf ein Gespräch mit ihm ein. Nach ihrem Vorbild befragt, nannte sie Marlene Dietrich. Das passte gut, denn Hermanns Vorbild war Friedrich der Große. Beide, die Schauspielerin und der König, so meinte Hermann, waren Träger dessen, das er das „Geistige Preußentum“ nannte.

Es kam der Tag, an dem sie den Wein leerten, den Hermanns Onkel 1933 im Keller versenkt hatte. Erst mit der Entmachtung Hitlers werde er ihn entkorken, hatte er damals geschworen. Alle waren sie noch am Leben, die Männer des Kreutzer-Clans und Dorle, die längst übergetreten war in ihre Glaubensgemeinschaft. Auch sie hatte Flugblätter geschmuggelt und arbeitete jetzt ganz offiziell als Sekretärin für die SPD. Bald würde Deutschland dem Land gleichen, das sie alle bewunderten: Amerika. Ein liberales Land, bevölkert von leistungsstarken Bürgern. So dachten sie und widmeten sich eifrig dem Aufbau ihrer Partei.

Inmitten dieser Euphorie räumten die amerikanischen Soldaten das Feld und übergaben Thüringen den Russen.

„Wir sollten fortgehen“, bat Dorle am 1. Mai 1946, als die SED auf dem Marktplatz von Saalfeld ihre erste Kundgebung hielt. Hermann aber wollte nicht fort. Zwar hatte er sich gegen die Nazis gewandt, doch definierte er sich eher als Kriegsheld denn als Pazifist. Sein Denken war von soldatischem Pathos und an Werte gebunden wie Ehre, Tapferkeit und Treue. Und die hatte er nun einmal der SPD geschworen. So zogen sie nachts durch die Straßen, klebten Protestplakate gegen die Vereinigung von SPD und KPD, leiteten Informationen über Betriebsenteignungen und Verhaftungen an die West-Berliner Presse weiter und stritten mit dem Kreisvorsitzenden der SPD, der sich der Vereinigung nicht widersetzte.

Über seine Verhaftung im Frühjahr 1949 war Hermann kaum überrascht. „Antisowjetische Propaganda“, „Konterrevolutionäre Tätigkeiten“ und „Sozialistischer Treuebruch“ lautete die Begründung des Sowjetischen Militärtribunals, das die Kreutzer-Männer und Dorle zu 25 Jahren Haft verurteilte.

„Sie haben uns unsere Jugend geraubt“, sagte Dorle, als sie sich gegenübersaßen in der West-Berliner Konditorei. Es war Juli 1956, hinter ihr lagen sieben Jahre in Sachsenhausen und Hoheneck. Jahre des Hungers, der Kälte, der Tuberkulose und der ständigen Strafandrohungen, Jahre ohne Besuchserlaubnis, und ohne Hermann schreiben zu dürfen, der in Bautzen saß.

„Ja“, antwortete Hermann an diesem ersten Tag ihres Wiedersehens, „und darum, Dorle, müssen wir den Rest unseres Lebens dem Kampf gegen die Kommunisten widmen.“

Während Hermann der Einstieg in die Parteiarbeit der West-Berliner SPD mühelos gelang, bekam Dorle an ihrem ersten Arbeitstag als Kreissekretärin Schwindelanfälle und Herzaussetzer, wurden ihr die Hände feucht vor Angst, Angst vor dem Chef, dem Machthaber, so menschenfreundlich er sich auch zeigen mochte.

Auch wenn die Angstattacken mit der Zeit verschwanden, so hatte die Haftzeit doch bei beiden unauslöschbare Spuren hinterlassen. Längst war die Politik zur Waffe für ihren persönlichen Rachefeldzug geworden. Das machte Hermann für die Parteiarbeit des konservativen Flügels nützlich, privat aber begegnete man ihm oft distanziert.

Nirgendwo war das Gefühl des Fremdseins so stark wie in Bonn, wohin sie Herbert Wehner 1967 gefolgt waren. Der hatte an Hermann Kreutzers kriegerischer Haltung Gefallen gefunden und ihn zum Direktor des Ministeriums für Gesamtdeutsche Angelegenheiten ernannt.

„Wo hat denn ihr Mann studiert?“, wurde Dorle während einer Weinprobe von einer Ministerialratsgattin gefragt. „In Bautzen“, antwortete Dorle. „Vierzehn Semester.“ – „Und was ist das für eine Universität?“ – „Ein Zuchthaus.“ Zwar rang die Gattin sich ein „interessant“ von der Zunge, aber von nun an wurde das Paar nur noch selten eingeladen. Man bevorzugte es, über sie und nicht mit ihnen zu sprechen. Zwei Jahre später wurde ein Posten frei in Berlin, und Hermann nahm sofort an.

Zurück bei Freunden und Verwandten, so hofften sie, würde das Leben an Leichtigkeit gewinnen. Doch Hermann Kreutzers Sturz in die Einsamkeit stand noch bevor.

Mit Willy Brandt und Egon Bahr wähnte er die Erzfeinde nun in der eigenen Partei. Die wandten sich gen Osten und „ließen zu, dass die SPD bevölkert wurde von bürgerlichen Ideologen, die mit ihrem linken, akademischen Gewäsch die einfachen Leute verdrängten“, so schrieb er später.

Hermann Kreutzer fühlte sich betrogen. Er sah sich als einen Ritter, der seine besten Jahre geopfert, sein Leben riskiert hatte für sein Königshaus, die SPD. Die aber, anstatt ihn zu rächen, flirtete jetzt mit seinen Feinden. Manch einer sprach gar vom Ende des Kalten Krieges, und das, obwohl der rote Stern ungetrübt glimmte! Wie konnte das sein? Da mussten Agenten am Werk sein.

In Bonn war er zuständig gewesen für den Freikauf politischer Gefangener, er hatte mit der CIA zusammengearbeitet. Ihm selbst und auch Dorle hatte die SED vor der Entlassung eine Zusammenarbeit nahe gelegt. Natürlich hatten sie abgelehnt, aber sicher waren nicht alle so gute Preußen wie sie.

Dass Hermann Kreutzer seine Vermutungen über die Zahl der „Einfluss-Agenten“ öffentlich machte, Egon Bahr und die Entspannungspolitik verfluchte, nahm man ihm übel. Zumal er Leiter des Bundeshauses in Berlin war, also so etwas wie ein Botschafter der Regierung.

Im Oktober 1980 wurde ihm per Bote die Entlassungs-Urkunde zugestellt. Das war ein Schock. Der Sohn sah seinen Vater, diesen Hünen, plötzlich mit dem Kinn auf der Brust im Sessel sitzen.

Seine Familie, dieser Veteranen-Verein, hielt zu ihm. Jetzt hieß es, die Jahre im Berliner Bundeshaus seien schwerer gewesen als die sieben Jahre Haft. Sein Vater, der Glasermeister, der den Sohn einst ermutigt hatte, zum Fahnenappell in der Schule im roten Hemd zu erscheinen, gab das Parteibuch ab. Ebenso Dorle.

Und langsam begann er den Kopf wieder zu heben, fand einen neuen Schauplatz, auf dem er seinen Krieg fortsetzen konnte: Die Führung des konservativen Kurt-Schumacher-Kreises, der die Interessen ehemaliger politischer Gefangener der DDR vertrat und bei jeder Gelegenheit gegen den Entspannungskurs der SPD publizierte.

Als die Mauer fiel, griff Hermann Kreutzer sich einen Knüppel aus Eichenholz und zog los, die zu suchen, die ihn damals beim Sowjetischen Militärtribunal denunziert hatten: „Hier gilt das Alte Testament: Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Er fand sie nicht.

Erst die Trauer um den Tod seiner Dorle, seiner Kriegskameradin, ließ ihn das Lebensthema wechseln, weg vom Kampf, hin zur verlorenen Liebe. Er schrieb ein Buch über ihr Idol Marlene Dietrich und zeichnete in monatelanger Arbeit den Kopf der Schauspielerin. Die Zeichnung lies er in eine Gedenktafel gravieren, die er selbst bezahlte und am Potsdamer Platz aufstellen ließ.

In den folgenden Jahren wurde er alt und krank. Oft sprach er von Selbstmord und von Sterbehilfe. Auf seinem Keyboard spielte er Lieder ohne Takt und ohne Melodie.

Als er von der Unheilbarkeit seiner Krebserkrankung erfuhr, verfügte er sofort die Einstellung aller lebensverlängernden Maßnahmen. Dann bat er seinen Sohn, den Fußpflegetermin abzusagen und daheim die Fenster zu reparieren. Der versprach’s. Auf diese Weise beruhigt glitt Hermann Kreutzer durch vier morphinumdämmerte Tage hinüber in den Tod. Anne Jelena Schulte

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