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Berlin: Roland Kühnhold (Geb. 1989)

Es gab so vieles, was glücklich machte

Wer hat mir auf den Kopf gekackt?“ Die Geschichte vom kleinen Maulwurf, der unbedingt wissen wollte, warum ihm gerade so ein Mist passiert, war Rolands Lieblingsbuch in der Kindheit. Jeden Abend hat die Mutter ihm und seiner Schwester vorgelesen. Stapel von Büchern haben sie gemeinsam aus der Bibliothek geholt – und dann erst mal schön sauber gemacht.

Roland war ein sehr empfindliches Kind. Ein Wunder, dass er das erste Jahr überhaupt überlebt hat. Der seltene Immundefekt, an dem er litt, führt meist in den ersten Lebensjahren zum Tod. Er überstand eine Enzephalitis, eine Meningitis, eine Hepatitis, lag wochenlang im Koma, quittengelb. Die Mutter ließ ihn nottaufen und bot dem lieben Gott einen Handel an: „Wenn du ihn überleben lässt, lasse ich ihn konfirmieren“, sofern er einwilligt.

Es dauerte seine Zeit, bis die richtige Medizin gefunden wurde, es dauerte seine Zeit, bis er sich herangekämpft hatte. Er war klein, zart, und furchtbar ängstlich. Er hatte Angst vor Hunden, er hatte Angst vor Fremden, kotzte sofort, wenn ihm jemand zu nahe kam, Therapeuten ließ er erst gar nicht an sich heran. Im Kindergarten war er der Kleinste, lutschte am längsten am Daumen.

Bei einer Trommelveranstaltung erlitt er einen epileptischen Anfall, wieder gab es Untersuchungsreihen, wieder eine neue Krankheit. Gegen seine Immunschwäche musste er sich regelmäßig im Krankenhaus Injektionen geben lassen. Als er größer wurde, konnte er sich die Medizin selbst verabreichen. Jeden Sonntagmorgen setzte er sich zwei Stunden lang geduldig seine Infusion.

Roland wurde ein großer, kräftiger, hübscher Kerl, stand gelassen auf riesigen Füßen und eroberte sich langsam die Welt. In den ersten Jahren hatte er in den Comics nur die Bilder angeschaut, dann las er die Texte, und irgendwann griff er sich das erste Buch. Er wollte leben. Es gab so vieles, was glücklich machte: die gemeinsamen Abendessen, die Spieleabende mit Mutter und Schwester, Oma Erika besuchen, die Simpsons sehen, mit Chris durch Berlin ziehen, bei Mario abhängen und zocken. Er liebte die Sylvesterfeiern, wenn er akkurat den Karpfen filetierte und dann noch ein Feuerwerk auf dem Dach zünden durfte.

Die Lehrer mochten ihn, die Schüler mochten ihn, da waren sie sich einig: Roland, der netteste Mensch überhaupt. Der schlimmste Jungenstreich: ein paar abgeknickte Mercedessterne.

Wo blieb die Wut? Er war nie böse zu anderen, konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Was er an Aggressionen hatte, durchlebte er, wenn er über schwarzen Humor lachte oder Horrorfilme ansah, da musste Blut in Strömen fließen.

Ansonsten blieb er ruhig und gelassen. Er ließ alles auf sich zukommen. Über die Furcht vor dem Ende sprach er nicht. Er hatte sich einen Merkspruch notiert, an den hielt er sich eisern: „Mut ist nicht immer laut, manchmal ist Mut die kleine Stimme am Ende des Tages, die sagt: Ich versuch’s morgen wieder.“

Er wollte eine Freundin irgendwann, aber die Fragen, ob er denn schon, und mit wem er denn schon, und wann er denn mal, die nervten ihn entsetzlich. „Ich brauch’ halt noch Zeit.“ „Ich brauch’ eben ein bisschen mehr Zeit.“

Das ganz normale Leben wünschte er sich, aber er würde es nie wirklich leben können. Das wussten alle, die ihm nahestanden. Seine Lebenserwartung lag bei Mitte zwanzig, der Tod würde vermutlich durch Leukämie eintreten. Die Ärzte empfahlen notfalls eine Knochenmarkstransplantation, die Schwester stand als Spenderin bereit. Aber noch war es ja nicht so weit. Er hatte sein Leben im Griff. Das vergangene war sein bestes Jahr bisher.

Die Ausbildung als Fahrradmonteur hatte er abgeschlossen und einen guten Job mit tollen Kollegen in einem Betrieb für Rehatechnik gefunden. Er bezog eine eigene Wohnung nicht weit von der Mutter, fuhr sein eigenes Auto. Abends um sieben hatte er noch bei ihr angerufen: Pellkartoffeln oder Kartoffeln geschält? Er wollte ein Rezept aus dem Fernsehen nachkochen: Jagdwurst paniert in der Pfanne gebraten.

Vermutlich ein epileptischer Anfall. Die Mutter fand ihn am nächsten Tag in der Badewanne. Er hatte nach dem Essen noch kurz duschen wollen. Gregor Eisenhauer

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