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Ken und Barbie mit drei Töchtern.

© p-a/dpa

Geschlecht machen: Gender-Ideologie in Deutschland

"Ist es ein Junge oder ein Mädchen?" Die Gesellschaft stellt Geschlecht selbst her - das ist offensichtlich. Ihre Gender-Ideologie verlangt aber, dass alles ganz "natürlich" aussehen soll.

„Es ist nur allzu bekannt, dass der Vorwurf, man befinde sich in der Ideologie, immer nur den anderen gegenüber gemacht wird, nie sich selbst gegenüber“, schrieb der Philosoph Louis Altusser in seinem Essay Ideologie und ideologische Staatsapparate (1970, dt. 1971, online unter www.b-books.de/texteprojekte/althusser/index.html). Es „glauben sich (gerade) diejenigen, die sich in der Ideologie befinden, (…) außerhalb der Ideologie“. Erst ein wissenschaftlicher Zugang ermögliche es partiell, einen Blick von außen auf Ideologie zu gewinnen. Wobei auch dieser Blick beschränkt sein kann (und oft beschränkt sein wird), weil Ideologie auch Wissenschaften durchzieht.

Althusser wirft einen kritischen Blick auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereiche, in denen Ideologie – die er als unhinterfragtes Tun versteht – die primäre Form darstelle, die Menschen zu regieren, während repressive Formen sekundär blieben. So „‚dressieren‘ die Schule und die Kirchen (zwar repressiv) mit den entsprechenden Methoden der Strafe, des Ausschlusses, der Auswahl usw.“, werden die Kinder dort aber im Wesentlichen nicht-repressiv in die ideologische Struktur der Gesellschaft eingebunden. Sie werden in Schule, Kirchen etcetera zu Subjekten geformt und mittels Ideologie regierbar gemacht.

Ideologie ist die wichtigste Form der Ausübung von Herrschaft

Ideologie ist in einem solchen wissenschaftlich-analytischen Sinne - der den aktuellen Debatten oftmals abgeht - nichts, was ein Mensch einfach annimmt und aussagt, sondern Ideologie ist stets im Kontext der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse und Ordnungsstrukturen zu betrachten. Deshalb spricht Althusser auch von „ideologischen Staatsapparaten“, weil in den gesellschaftlichen Bereichen, die der italienische Marxist Antonio Gramsci als „Zivilgesellschaft“ bezeichnete, Ideologie die wichtigste Form der Ausübung von Herrschaft sei. Als solche Bereiche, in denen Ideologie primär wirke und die entsprechend als „ideologische Staatsapparate“ zu betrachten seien, führt Althusser das religiöse Leben, die Schule, die Familie, das Justizwesen, die Politik, die Gewerkschaften, die Medien und die Kultur in ihrer ganzen Breite, von der Literatur bis zum Sport, an.

Bürgerliche Ideologien funktionalisieren die Frau zur Hausfrau

Ein klares und weithin bekanntes Beispiel ist die Forderung, die aus der Frauenbewegung kam, auch das Private als politisch zu betrachten. Im Privaten, in der Familie zeigten sich die gesellschaftlichen Strukturen und die bürgerlichen Ideologien – wie zum Beispiel die Funktionalisierung der Frau zur Hausfrau und Kinderbetreuerin. Aktuelle feministische Kongresse thematisieren diese und weitere Fragestellungen, etwa die Doppelbelastung für Frauen mit Erwerbs- und Reproduktionsarbeit (Sorgearbeit), und die intersektionale Verschränkung der Geschlechterverhältnisse mit Rassismus und Klassenverhältnissen. Auch weiße Frauen profitieren etwa von den rassistischen Verhältnissen und der Überausbeutung des globalen Südens durch den Norden.

Es handelt sich – im wissenschaftlich-analytischen Verständnis nach Althusser – einmal um rassistische Ideologie, die die Räume von Menschen begrenzt, die in der deutschen Gesellschaft als „migrantisch“ markiert werden, und zum anderen um eine Gender-Ideologie, die den Raum sogar von weißen bürgerlichen Frauen einengt und festlegt – und selbst diesen Frauen ihre Lage manchmal als „gerecht“ und „sinnvoll gerechtfertigt“ erscheinen lässt. Diese Beispiele sind hinlänglich bekannt – erinnert sei nur an die Bücher Guten Morgen, du Schöne (Maxi Wander 1977) und den Auftaktband der Schwarzen deutschen Frauenbewegung Farbe bekennen: Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte (1986 herausgegeben von Katharina Oguntoye, May Ayim und Dagmar Schultz). - Schwarz wird definitionsgemäß hier auch in der adjektivischen Form groß geschrieben, da es um eine marginalisierte Position geht, nicht um irgend ein Merkmal, das essentialisiert werden könnte.

Es steht von vornherein fest, dass das Kind den Namen des Vaters tragen wird

Und dennoch ist selbst hier vieles im Argen und entwickelt sich gerade die deutsche Gesellschaft massiv rassistisch und gender-ideologisch. Hingegen wird die über die patriarchale Unterdrückung von Frauen hinausgehende Gender-Ideologie selten als solche erkannt und als solche gelesen. Dabei schrieb auch hierzu Louis Althusser bereits 1970/1971 ausführlicher. Er führte die Gender-Ideologie, also das Herausbilden von Kindern zu weiblichen und männlichen Subjekten, prägnant für die Geburt eines Kindes aus: „Es steht von vornherein fest, dass (das Kind) den Namen des Vaters tragen wird und damit eine Identität besitzt und durch niemand anderen zu ersetzen sein wird. Bevor das Kind also überhaupt geboren ist, ist es immer-schon Subjekt, dazu bestimmt in und durch die spezifische familiäre ideologische Konfiguration, in der es nach der Zeugung ‚erwartet‘ wird. (…Das) ehemalige zukünftige Subjekt (…muss) ‚seinen‘ Platz ‚finden‘ (…), d. h. zu dem geschlechtlichen Subjekt (Junge oder Mädchen) werden (…), das es bereits von vornherein gewesen ist.“

Die ideologischen Erwartungshaltungen von Religion, Schule, Familie sind offenkundig

Die Gender-Ideologie führt also dazu, dass jedes Kind bereits als „Mädchen“ oder „Junge“ erwartet wird. Das Kinderzimmer wird in vielen Fällen entsprechend vorbereitet, und oft ist die erste Frage nach der Geburt: „Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“ Dieser Frage können Eltern vorbeugen, indem sie das Kind in Rosa oder Hellblau kleiden – diese Farben werden in der Gesellschaft in Bezug auf Kinder als klar weiblich oder männlich geschlechtlich „gewusst“. Aber selbst wenn die Eltern ein Kind möglichst geschlechtsneutral aufziehen wollen, sind sie und das Kind tagein, tagaus mit Erwartungshaltungen des Staatsapparates (Personenstand) und der religiösen, schulischen, familiären, kulturellen etcetera ideologischen Staatsapparate konfrontiert.

Wie Geschlecht hergestellt wird, kann kaum gefragt werden

Obgleich der gesellschaftliche Herstellungscharakter von Geschlecht offensichtlich ist, sind die ideologischen Strukturen – sowohl in der Familie als auch insgesamt in der Gesellschaft – mittlerweile so fest, dass der Herstellungsprozess aus dem Blick gerät. Gender-Ideologie ist so wirksam, dass kaum noch die Frage nach den gesellschaftlichen Herstellungsbedingungen und der Bedeutung von Geschlecht in der modernen bürgerlichen Gesellschaft gestellt werden kann – wissenschaftliche Erkenntnis scheitert hier an ideologischen Staatsapparaten. Ein häufig in diesem Zusammenhang gebrauchtes Stichwort ist „Natürlichkeit“. Ob auf einen „Gott“ oder auf eine „Natur“ zurückgeführt, ist es gesellschaftlich herrschende Ideologie, dass der Säugling, das neu geborene Kind, doch ganz klar und ersichtlich ein Geschlecht einfach habe. Weder die Erwartungshaltung noch die Abstraktionen, die mit Chromosomen-Perspektiven verbunden sind, noch die den Ultraschallbildern und ihrer Interpretation zu Grunde liegenden mathematischen Algorithmen und Erzählungen medizinischer Fachleute etcetera werden ernsthaft gesellschaftlich diskutiert.

Einige Menschen lieben das Vorgegebene und sollten so auch leben können, andere möchten sich selbst ausleben und austesten, sich selbst finden. Beides finde ich okay, beides sollte erlaubt sein. […] Rollen annehmen und uns den damit verbundenen Erwartungen stellen, müssen wir aber letztendlich alle. 

schreibt NutzerIn zelia

Judith Butler schlug Ablehnung entgegen - dabei sagt sie im Kern das Gleiche wie Althusser

Bestehende wissenschaftliche Einsichten in diesem Feld – Althusser beschrieb sie durch gründliche Auseinandersetzung als möglich – gehen historisch auf feministische Akteur*innen in ihren jeweiligen Fachdisziplinen und aktuell institutionell auf die in Deutschland noch sehr randständigen Gender Studies zurück (wogegen es in Deutschland institutionalisierte Gay Studies oder Queer Studies noch überhaupt nicht gibt – im Gegensatz etwa zu den USA).

So war die Feministin und Queer-Theoretikern Judith Butler mit ihren Büchern Das Unbehagen der Geschlechter (1990, dt. 1991) und Körper von Gewicht (1993, dt. 1997) gerade in der Bundesrepublik Deutschland mit vehementer Abwehr konfrontiert, obwohl sie im Kern das Gleiche aussagt, wie Louis Althusser 1970. Sie wendet sich in ihren Arbeiten sehr grundlegend Fragen danach zu, wie Geschlecht gesellschaftlich produziert wird. Anders als andere feministische Autor_innen bezog und bezieht sie in ihre Analyse – auch hierin Althusser folgend – vermeintlich nicht hintergehbare, feste biologische Bestimmtheit ein. Butler legt dar, dass auch die physischen und physiologischen Merkmale erst in der Gesellschaft gelesen und mit Bedeutungen aufgeladen werden. Damit geht Butler an eine der Grundfesten der herrschenden Ideologie.

Heinz-Jürgen Voß, diplomierter Biologe und promovierter Sozialwissenschaftler, ist Professor für Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg

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