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Jung, kreativ, multikulturell - das ist das neue Neukölln.

© Thilo Rückeis

Berlins Wahlkreis Neukölln im Blick: Jung und studentisch im Norden, alt und familiär im Süden

Neukölln ist längst nicht nur ein Arbeiterbezirk mit einer hohen Migrantenquote. Zwei Kandidaten kandidieren für den Bundestag: Für die CDU wirbt Christina Schwarzer mit christlichen Werten für Neukölln für sich, für die SPD will der Rechtspolitiker Fritz Felgentreu überzeugen.

Sonnenallee am frühen Nachmittag. Neuköllns Zukunft vergnügt sich auf dem Trottoir, Frauen mit Kopftuch und junge Männer mit tätowierten Oberarmen. Lautes Hupen unterbricht die Gespräche, dunkle Wolken ziehen sich zum Gewitter zusammen, ein Krankenwagen rast mit Sirenengeheul Richtung S-Bahnhof.

Neukölln der Arbeiter und Angestellten

Das ruft Heimatgefühle wach. Christina Schwarzer, 36 Jahre jung, ist hier aufgewachsen. Nebenan in der Weserstraße, in der Martin-Luther-Gemeinde, Fuldastraße, hat sie Jugendarbeit gemacht, auf dem Albert-Schweitzer-Gymnasium, Karl-Marx-Straße, ihr Abitur abgelegt. Nord-Neukölln und Christina Schwarzer – rotblonde Haare, heller Teint – passen eigentlich nicht zusammen. Aber es gibt auch ein Neukölln jenseits der Klischees, eines der Arbeiter und Angestellten mit deutschem Migrationshintergrund, die früher hier die Mehrheit stellten.

Seit 2001 stellt die SPD den Bürgermeister

Christina Schwarzer kandidiert für die CDU im Wahlkreis 82, Neukölln, rund 205 000 Wahlberechtigte. Früher, als Eberhard Diepgen hier seine politische Heimat hatte, galt Neukölln als sichere Bank der CDU, in den nuller Jahren machte die SPD wieder Boden gut, sie stellt mit Heinz Buschkowsky seit 2001 den Bürgermeister. Doch vor allem im Norden des Bezirks verändert sich das Wählerklientel zugunsten von Grünen und Linken, beide Parteien legten bei der Bundestagswahl 2009 deutlich zu.

„Beim Ausbau des Mieterschutzes bin ich gerne dabei“, sagt die 36-jährige CDU-Politikerin Christina Schwarzer.
„Beim Ausbau des Mieterschutzes bin ich gerne dabei“, sagt die 36-jährige CDU-Politikerin Christina Schwarzer.

© promo

Studenten im Norden, Familien im Süden

Für die großen Parteien ist Neukölln schwer kalkulierbar, weil der Bezirk im Norden ganz anders tickt als im Süden. In Rudow fürchten Eigenheimer Opfer von Diebesbanden zu werden, am Hermannplatz sind steigende Mieten das Tagesthema. In Nord-Neukölln ist die Umzugsrate relativ hoch, Studenten und Kreative ziehen zu und senken den Altersschnitt, im Süden dominieren Ältere und Familien, die vor engen Straßen, Lärm und hohen Migrantenquoten an Schulen flüchten. Die Probleme im Norden – hohe Arbeitslosigkeit, viele bildungsferne Familien, kriminelle Jugendliche, Roma-Familien in abrissreifen Häusern – prägen die Wahlprogramme der Kandidaten.

Christina Schwarzer arbeitet bei einer Immobilienfirma und lebt mit einem Partner zusammen, der seine Freizeit auch mit Politik verbringt. So gibt es wenig Zündstoff für Alltagsstreitigkeiten.

Christliche Werte in Neukölln

Als Fraktionsvorsitzende in der BVV kümmerte sich Schwarzer bisher um Zebrastreifen, Baumfällungen und viele kleine Anliegen der Bürger. Im Zuhören und sich Kümmern sieht sie auch weiterhin ihren Schwerpunkt. Im Bundestag würde sie sich gerne mit Lebensmittelsicherheit beschäftigen, aber auch bei Themen, die Neukölln betreffen, ihre Stimme erheben. Zum Beispiel beim Betreuungsgeld: „In Neukölln ist das falsch.“ Oder Mieten: „Beim Ausbau des Mieterschutzes bin ich gerne dabei“, aber man dürfe nicht pauschal die Investoren verurteilen. Wenn Anwohner Unterschriften gegen ein neues Asylbewerberheim sammeln, pocht Schwarzer auf christliche Werte. „Wir Neuköllner sind solidarisch.“

Ihr Gegenkandidat von der SPD, Fritz Felgentreu, wählt den Gutshof Britz als Treffpunkt, das geographische Gegenprogramm zur Sonnenallee. Sozial gesehen sieht es auch in Britz nicht mehr überall rosig aus. Rund 46 Prozent der Kinder sind von Transferzahlungen abhängig, im Norden liegt der Anteil bei 70 Prozent.

Die SPD schickt den Rechtspolitiker Fritz Felgentreu ins Rennen

Der Gutshof ist ein Kleinod, strahlt Ruhe und Solidität aus, das passt zum Kandidaten. Felgentreu, 44, ist in einem Dorf an der Nordseeküste aufgewachsen und 1989 zum Studium nach Berlin gekommen. Aus Zufall landete er in der Leinestraße, Neukölln. Weil nach der Wende die Republikaner im Rollbergviertel fast 30 Prozent holten, startete er in die Politik, bei der SPD, das hat in der Familie Tradition. Felgentreu fällt auf im Getümmel der Großstadt, nicht nur wegen seiner perfekt gepflegten Glatze. Er ist habilitierter Altphilologe, strebte vergeblich eine Professur an und kümmert sich inzwischen am Gymnasium zum Grauen Kloster um die Griechisch- und Lateinfortschritte seiner Schüler.

Fritz Felgentreu wird dem rechten Parteiflügel der SPD zugeordnet und ist in vielen Fragen auf der Linie von Buschkowsky.
Fritz Felgentreu wird dem rechten Parteiflügel der SPD zugeordnet und ist in vielen Fragen auf der Linie von Buschkowsky.

© dpa

Im Gutshof-Café bestellt er Apfelkuchen mit Sahne und ein Kännchen Kaffee, doch Kännchen gibt es selbst hier nicht mehr, was der Kandidat mit einem verschmitzten Seufzer zur Kenntnis nimmt. Felgentreu wird dem rechten Parteiflügel zugerechnet, er hat sich im Abgeordnetenhaus für das Neuköllner Modell eines effektiveren Umgangs mit Intensivtätern eingesetzt und liegt in vielen Fragen auf der Linie von Buschkowsky.

Felgentreu fordert mehr finanzielle Unterstützung vom Bund

2009 bewarb er sich zum ersten Mal um ein Bundestagsmandat – und unterlag. Wenn es diesmal klappt, will Felgentreu auf Familien- und Bildungspolitik umsatteln. „Beides muss man zusammen denken, auch im Bund.“ Statt den Familien Geldzahlungen zu leisten, sollten Kitas und Schulen mit einem Fonds aus Bundesmitteln finanziell gestärkt werden. Erzieherinnen müssten ein Studium absolvieren und besser bezahlt werden, findet Felgentreu. Mindestlohn, Bürgerversicherung und Mietenbremse sind Forderungen, mit denen der Kandidat im Tür-zu-Tür-Wahlkampf zu punkten versucht.

Den Imagewechsel Neuköllns von der Berliner Bronx zum angesagten Szenequartier findet Felgentreu gut, nur dürfe sich dieser Neukölln-Hype nicht überhitzen. Im Norden des Bezirks sind die Mieten zuletzt stärker gestiegen als in anderen Innenstadtquartieren. Der Zuzug bringt Kaufkraft, neue Läden und hilft den Quartiersmanagern, das Viertel zu stabilisieren. Dennoch empfinden auch viele Neu-Neuköllner den Immobilienboom als Bedrohung, denn sie verdienen zwar mehr als die Alt-Neuköllner, aber immer noch weniger als der Berliner Durchschnitt. Das ergab 2012 eine Befragung von Haushalten. Die Mieten steigen stärker als die Einkommen. Im Schillerkiez, wo die Zahl der einkommensschwachen Haushalte hoch ist, sind die Mieten seit 2009 um 24 Prozent gestiegen.

Der Rütli-Schock, der mit einem Brandbrief des Lehrerkollegiums 2006 begann, mündet inzwischen in den zweiten Schulcampus des Bezirks am Efeuweg. Grund- und weiterführende Schulen rücken zusammen, zusätzliches Geld fließt in die pädagogische Betreuung und die Erneuerung von Turnhallen und Mensen. Erste Erfolge lassen sich an steigenden Abiturientenzahlen ablesen.

Respekt vor dem Bundestag

Diese vom Bezirksbürgermeister vorangetriebene Entwicklung wird auch von der CDU-Kandidatin anerkannt. Mit Kritik an Buschkowskys von vielen als diskriminierend empfundener Rhetorik hält sie sich zurück. Das Buch „Neukölln ist überall“ habe sie nicht gelesen, sagt Christina Schwarzer.

Dazu ist jetzt im Wahlkampf keine Zeit mehr. Christina Schwarzer nimmt demnächst ihren Jahresurlaub, um die Taktzahl der Auftritte zu erhöhen. Fritz Felgentreu hat von der Schulverwaltung unbezahlten Sonderurlaub bekommen. Beide haben großen Respekt vor dem Bundestag. „Ungeheuer dazulernen“ würde er, sagt Felgentreu, schon allein wegen der Größe der Fraktion. Und wenn es nicht klappt? Christina Schwarzer macht dann einfach weiter in der BVV. Und Felgentreu geht wieder an seine Schule zurück.

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