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Sehen, hören, fühlen. Die neunte Klasse der Georg-Klingenberg-Schule durchlief am Dienstag alle Stationen des Unfallkrankenhauses Biesdorf.

© Kitty Kleist-Heinrich

Schocktherapie im Krankenhaus: Schüler werden hautnah mit Unfallfolgen konfrontiert

Krankenwagen, Schockraum, Intensivstation und Reha-Gebäude. Berliner Schulklassen durchleben im Krankenhaus die Stationen nach einem schweren Unfall. In Kanada gibt es das Präventionsprojekt bereits seit den 80er Jahren.

Dieser Anblick war dann doch zu viel. Die junge Frau liegt nach einem schweren Verkehrsunfall im künstlichen Koma, aufgedunsen von Medikamenten mit einem Schlauch im Hals. Der 16-jährige Tobias, der gerade noch herumgealbert hat, schwankt leicht, „mir ist schlecht“, flüstert er und läuft aus der Intensivstation.

An diesem Morgen ist Tobias schon mehrmals mit den Folgen eines Unfalls konfrontiert worden. Er hat von vier Menschen gehört, die im Straßenverkehr ums Leben gekommen sind, und von vielen anderen, die seit einem Unfall im Rollstuhl sitzen. Und er hat einen 21-Jährigen im Krankenbett getroffen, der vor zwei Monaten mit dem Auto gegen einen Baum gefahren ist, der noch nicht wieder laufen kann und der gerade einen künstlichen Darmausgang erhalten hat.

Tobias und seine 29 Klassenkameraden machen gerade eine Art Schocktherapie. Sie laufen durch alle Stationen des Unfallkrankenhauses in Biesdorf: den Krankenwagen, den Schockraum, die Intensivstation, das Reha-Gebäude. Überall lernen die Schüler Patienten kennen.

Vor einem Jahr erstmals in Deutschland

Entwickelt haben das Programm kanadische Ärzte in den 80er Jahren. Jugendliche werden dabei im Krankenhaus mit Unfallopfern konfrontiert, was dazu führen soll, dass sie Risiken besser einschätzen und zum Beispiel Mutproben und Alkoholfahrten unterlassen. Vor etwa einem Jahr wurde das Programm das erste Mal in Deutschland durchgeführt, in Köln. Seitdem haben schon mehr als 30 Klassen mitgemacht. Berlin ist die neunte deutsche Stadt, in der Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren die Stationen nach einem Unfall durchleben können. Von jetzt an sollen vier Klassen im Jahr diese Möglichkeit haben.

Untersucht werden die Schüler auch.
Untersucht werden die Schüler auch.

© Kitty Kleist-Heinrich

„Ich glaube, dass wir mit dem Programm erreichen können, dass die Jugendlichen sich nicht unverwundbar fühlen und Risiken besser einschätzen“, sagt Unfallchirurgin Christine Huver. Die 36-Jährige hat das kanadische Programm nach Berlin geholt. Natürlich sei es schwierig zu beweisen, dass damit Unfälle verhindert werden können. „Aber wenn wir nur einen Jugendlichen davon abhalten, kopfüber in einen trüben See zu springen oder zu einem Betrunkenen ins Auto zu steigen, ist das schon ein Erfolg.“

Auch der zuständige Chefarzt Gerrit Matthias, 43, war sofort von dem Programm überzeugt. „Wir Ärzte treten normalerweise erst dann auf, wenn der Unfall schon passiert ist“, sagt er. „Das Programm gibt uns endlich einmal die Möglichkeit zur Prävention.“

Den Schülern vergeht das Lachen

Als Lehrerin Katja Neidel, 33, von der für ihre Schule zuständigen Polizeistelle von dem Programm erfuhr, meldete sie ihre neunte Klasse der Georg-Klingenberg-Sekundarschule sofort an. Viele ihrer Schüler haben schon Erfahrungen mit Drogen und Alkohol gemacht. „Ich finde das Programm gerade wegen der drastischen Erlebnisse gut“, sagt Neidel. „Wenn jemand theoretisch von Unfällen und Verletzungen erzählt, bleibt wenig hängen. Die Erlebnisse im Unfallkrankenhaus, vor allem die Begegnungen mit den Patienten, werden die Jugendlichen aber sicher nicht so schnell vergessen.“

Fragt man die Jugendlichen nach der Wirkung des Programms, lächeln sie verlegen, zucken mit den Achseln. Tobias, dem plötzlich schwindlig wurde, sagt: „Könnte schon sein, dass ich jetzt ein bisschen vorsichtiger bin.“

Die Schüler üben an einer Puppe die Herz-Lungen-Wiederbelebung.
Die Schüler üben an einer Puppe die Herz-Lungen-Wiederbelebung.

© Kitty Kleist-Heinrich

Im Rollstuhl, mit Knieprothesen und mit Halskrausen essen die Schüler anschließend zu Mittag. Sie sollen erleben, wie schwierig das Leben nach einem Unfall ist. Bei dem Versuch brechen sie immer wieder in lautes Gelächter aus. Die Konzentration, so scheint es, ist vorbei.

Dann fährt ein junger Mann im Rollstuhl in den Raum, er ist wirklich querschnittgelähmt. Plötzlich sind die Schüler still, nur leises Rascheln und Tuscheln ist zu hören. „Vor 19 Jahren hatte ich einen schweren Autounfall“, sagt der junge Mann. „Seitdem habe ich eine Tetraplegie. Das heißt, ich kann alle vier Gliedmaßen nicht mehr richtig bewegen.“ Kurze Pause. „Damals war ich in der zehnten Klasse.“ Nun verstummt auch das letzte Geräusch.

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