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Zettelwirtschaft. Wahlen in Deutschland – einschließlich Berlin – galten bisher als verlässlich. Das könnte sich in diesem Jahr ändern, falls sich tausende Berliner nicht rechtzeitig an ihrem neuen Wohnort anmelden können. Die Zeit wird knapp.

© dpa

Wahljahr 2016 in Berlin: Terminstau bei Bürgerämtern bringt Wahl in Gefahr

Am 18. September wählt Berlin Landesparlament und Bezirksverordnete - eigentlich. Denn wenn die Stadt nicht bald den Terminstau in den Bürgerämtern in den Griff bekommt, wäre die Wahl anfechtbar.

Von Ulrich Zawatka-Gerlach

Rechtssichere Wahlen gelten in Deutschland bisher als selbstverständlich. Hier und da gibt es in Bund, Ländern und Gemeinden kleinere Pannen, doch im Großen und Ganzen können die Bürger darauf vertrauen, dass jede Wahl ordnungsgemäß verläuft. Selbst in der Nachkriegszeit, als vieles drunter und drüber ging, war das so. In Berlin könnte es im Wahljahr 2016 zum ersten Mal anders sein, wenn es nicht gelingt, bis zum 18. Juni die Bürgerämter auf Trab zu bringen.

Bis zu diesem Tag müssen alle Bürger, die an der Wahl zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen teilnehmen wollen, mit einer Hauptwohnung in Berlin angemeldet sein. Nur dann werden sie an ihrem Wohnort ins Wählerverzeichnis eingetragen. Momentan ist es aber für jeden, der in die Hauptstadt zieht oder innerhalb der Stadt die Wohnung wechselt, fast unmöglich, in den nächsten Monaten einen Termin beim Bürgeramt zu bekommen.

Sollte sich daran bis zum Frühsommer nichts ändern, dürfen die Betroffenen entweder gar nicht oder nur im falschen Stimmlokal wählen. Natürlich kann jeder Wahlberechtigte beim zuständigen Wahlamt Beschwerde einlegen und eine korrekte Eintragung ins Wählerverzeichnis verlangen. Aber er muss dann nachweisen, wo er seit dem 18. Juni tatsächlich wohnt. Mit einer Kopie des Mietvertrages? Mit einer Bescheinigung vom Arbeitgeber? Mit einem datierten Foto von der eigenen Wohnung? Niemand weiß es. Bisher wird das Problem weitgehend verdrängt oder kleingeredet.

36 zusätzliche Stellen bewilligt

„Ich sehe höchstens eine abstrakte Gefahr“, sagt beispielsweise der SPD- Rechtsexperte Sven Kohlmeier dem Tagesspiegel. Er sei fest davon überzeugt, dass die Landeswahlleiterin Petra Michaelis-Merzbach im Herbst eine verfassungsgemäße Wahl organisieren werde. „Das ist ihr Job, das erwarte ich von der Exekutive.“ Im Übrigen habe die rot-schwarze Koalition vor allem mit einer personellen Verstärkung der Bürgerämter „alles getan, damit die Ämter ordentlich arbeiten können“. Doch im Moment tun sie es eben nicht.

Der Linken-Landeschef und Jurist Klaus Lederer macht sich mehr Sorgen um eine rechtssichere Wahl. Zuletzt hatte er im September den Senat gebeten, dazu Stellung zu nehmen. Die Antwort des Innenstaatssekretärs Andreas Statzkowski (CDU): Der Senat und die Bezirke hätten sich „darauf verpflichtet, kontinuierlich auf die Verbesserung der Situation in den Bürgerämtern hinzuwirken“. Außerdem sei geplant, im Wahljahr 2016 „entsprechend Prioritäten zu setzen und bei Bedarf An- und Ummeldungen vorrangig zu bearbeiten“.

Vier Monate später betont die Innenverwaltung, dass das Melde-, Pass- und Ausweiswesen, aber auch die Aufgaben der Wahlämter „den Bezirken obliegen“. Zur Verbesserung der bezirklichen Aufgabenerfüllung hätten die Bürgerämter zusätzliche Personalmittel erhalten, „um erstrangig die Rückstände in Meldeangelegenheiten bearbeiten zu können und damit die Aktualität des Melderegisters und des Wahlverzeichnisses sicherzustellen“, so ein Sprecher. Im neuen Landeshaushalt wurden, wie berichtet, 36 zusätzliche Stellen bewilligt, die bis Mitte des Jahres besetzt werden sollen. Parallel dazu würden in allen Bezirken die „organisatorischen Möglichkeiten geschaffen, um die rechtssichere Wahl zu gewährleisten“.

Ein "eklatantes Staatsversagen"

An eine Änderung des Wahlrechts, um die Gesetze an das Problem anzupassen, denkt die Innenbehörde „derzeit“ nicht. Es bleibe zunächst abzuwarten, „inwieweit die eingeleiteten Maßnahmen die Aktualität des Melderegisters und des Wahlverzeichnisses sichern“. Sollte es in der Praxis doch dazu kommen, dass eine erhebliche Zahl von Wählern ihr Wahlrecht in Berlin nicht ordentlich wahrnehmen kann, wäre das ein „eklatantes Staatsversagen“, kommentiert der Linken-Politiker Lederer die Situation. In diesem Fall müsse auch mit Wahlanfechtungen gerechnet werden.

„Alle Beteiligten wissen um das Problem“, bestätigt der Geschäftsführer der Landeswahlleiterin, Geert Baasen. Wenn sich die Wahlleiter des Landes und der Bezirke im Februar turnusmäßig treffen, stehe das Thema voraussichtlich wieder auf der Tagesordnung. Man hoffe, so Baasen, dass der Ummeldestau in den Bürgerämtern bis zum Sommer aufgelöst sei.

"So etwas habe ich aus Bund und Ländern noch nie gehört"

Das Problem ist kein marginales: Im vergangenen Jahr zogen fast 80 000 Deutsche, also wahlberechtigte Bürger, nach Berlin. Und innerhalb der Stadt suchten sich über 200 000 deutsche Staatsbürger eine andere Wohnung. 2016 wird es nicht anders sein. Sie alle brauchen einen Termin beim Bürgeramt – und im Sommer die Wahlbenachrichtigung an den richtigen Wohnort.

Matthias Moehl, Chef von election.de in Hamburg, staunt über die Berliner Verhältnisse: „So etwas habe ich aus Bund und Ländern noch nie gehört“, sagt der erfahrene Wahlforscher. Gut, vielleicht habe es bei den ersten Wahlen nach dem Krieg „das eine oder andere Durcheinander“ gegeben, mutmaßt Moehl. In der Geschichte des bundesdeutschen Wahlrechts gibt es dafür allerdings keine konkreten Belege. Es hat wohl alles irgendwie funktioniert. So gingen die Bürgermeister bei den Gemeindewahlen 1946 mit gutem Beispiel voran und legten die Wählerverzeichnisse eigenhändig an.

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