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Das Coverbild von Cordelia Edvardsons Buch "Wenn keiner weiterweiß. Berichte von der Grenze." zeigt die 81-Jährige.

© promo

Nahost-Korrespondentin: Berichte von der Grenze

Cordelia Edvardson schreibt über ihr Überleben und über vier Jahrzehnte als Reporterin in Israel

Auch die Gedächtniskultur scheint bisweilen von Alzheimer und Amnesie befallen. Da ist eine Autorin in Deutschland schon fast wieder aus der öffentlichen Erinnerung gefallen, deren Geschichte vor einigen Jahren noch als Jahrhundertschicksal ganz präsent schien. Jetzt hat die große Schriftstellerin und Journalistin Cordelia Edvardson die Summe aus vier Jahrzehnten Erfahrungen in Israel und Palästina gezogen und ihre Reportagen, Reflexionen und Porträts mit dem Titel „Wenn keiner weiter weiß“ versehen. Sie sind auf Deutsch als Taschenbuch erschienen, kein Auftritt wie bei einem Scholl-Latour-Bestseller, doch das schmale Gewand täuscht über das wahre Gewicht.

Cordelia Edvardson ist Schwedin und hat bis vor kurzem in Jerusalem gelebt. Aber, daran muss man erinnern: Sie wurde 1929 in München geboren, ist in Berlin als behütetes katholisches Kind aufgewachsen und hat Theresienstadt und Auschwitz als jüdisches Mädchen überlebt. Cordelia Maria war die uneheliche Tochter von Elisabeth Langgässer, Deutschlands berühmtester katholischer Schriftstellerin, die gemäß den Nürnberger NS-Rassegesetzen ab 1935 als Halbjüdin galt. Cordelia lebte im Grunewalder Haus der Mutter und deren Mann, einem ehemaligen Benediktiner und Heidegger- Schüler. Ihre Geschwister sind nur ihre Halbschwestern, aber sie selber hat keine Ahnung, was es für sie bedeutet, einer kurzfristigen Verbindung der Mutter mit dem bereits 1933 im spanischen Exil verstorbenen jüdischen Staatsrechtler Hermann Heller zu entstammen.

Ende 1943 schlägt die Gestapo zu, erpresst Mutter und Tochter, und nach einem Deal, der den Konflikt einer antiken Tragödie birgt, geht Cordelia für ihre geliebte Mutter ins Unheil, und Elisabeth Langgässer nimmt das Opfer der erst 14-jährigen Tochter an. In Auschwitz wird sie dann einem SS-Arzt mit ihrer hübschen Kinderschrift auffallen; so muss das junge Mädchen die Listen des Doktor Mengele führen. Über dieses Leben zwischen Unfasslichkeit, Tod und Wiedergeburt hat Cordelia Edvardson, die erst nach Kriegsende in Schweden vom Gespenst aus dem Lager wieder zum leibhaftigen Menschen wird, Mitte der 80er Jahre ihren autobiografischen Roman „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ geschrieben. Er gehört bis heute zu den bedeutendsten Zeugnissen der Shoa – in seiner Erfahrungsfülle nur vergleichbar den Büchern von Primo Levi, Imre Kertész, Robert Anthelme, Jorge Semprun oder auch Ruth Klüger. Edvardson erhält dafür 1986 in München den Geschwister-Scholl-Preis.

Damals war sie schon eine in Schweden und im Nahen Osten berühmte Journalistin. Und noch immer schreibt sie, nunmehr 81 Jahre alt, ihre Kolumnen für die Stockholmer Zeitung „Svenska Dagbladet“. Als die arabischen Nachbarstaaten Israel 1973 im Jom-Kippur-Krieg überfielen, spürte Cordelia Edvardson, die erst die Nazis zur Jüdin gemacht hatten (diese Erfahrung teilt sie mit Kertész, Semprun und vielen anderen), zum ersten Mal ein solidarisches Interesse für das ihr bis dahin ferne, fremde Land Israel. Sie reiste als Kriegsberichterstatterin von Stockholm nach Tel Aviv, ging an die Front, hörte spät abends in der Hotelbar, wie andere ausländische Korrespondenten ihre abgebrühten Witze machten, auch über „die Juden“, die an ihrem ewigen Bedrohtsein wohl nicht ganz unschuldig seien, weil: „kein Rauch ohne Feuer“.

Kaum zurückgekehrt, packte sie in Stockholm die Koffer und zog 1974 als Nahost-Korrespondentin nach Jerusalem. Und schaute fortan genau hin, was in den Grenzen von 1967 und darüber hinaus geschah. Sie hat im ersten Libanonkrieg den belagerten PLO-Führer Jassir Arafat im Bunker besucht und die Friedensakteure ebenso wie die Kriegstreiber (auf allen Seiten) von nah betrachtet; sie hat die erste und zweite Intifada beschrieben, hat Flüchtlingscamps und Militärlager besucht, aber auch immer wieder das Alltagsleben im israelischen Kernland und in den besetzten Gebieten beobachtet. In diesen „Berichten von der Grenze“, so der Untertitel, fällt neben der analytischen Wachheit vor allem Edvardsons von keiner Ideologie (oder einseitigen Sympathie) getrübte Empathie auf: das Mitempfinden mit Glück und Unglück, Verblendung, Überhebung oder Erniedrigung hüben und drüben.

In einem Interview hat Cordelia Edvardson einmal gesagt, sie sei keine studierte Historikerin, sondern „a graduate of Auschwitz“. Über die Wurzeln und Wirkungen des Holocaust muss sie niemand belehren. Aber sie schreibt zugleich an gegen jede Instrumentalisierung des Holocaust. Diese Grenzgängerin akzeptiert darum nie das Stereotyp eines Kollektivs. Für sie gibt es nicht „die“ Juden, Israelis oder Araber (so wenig, wie es „die“ Deutschen gegeben habe), vielmehr nur einzelne Menschen und Schicksale. Auch könne altes Unrecht keinen neuen Rechtsbruch legitimieren. Wie die Protagonisten der israelischen Friedensbewegung ist Edvardson daher gegen alle Siedlungen und Gebietsansprüche Israels jenseits der 1948 von den Vereinten Nationen bei der Staatsgründung völkerrechtlich beschlossenen Grenzen.

Dabei legt sie sich auch mit Kollegen und Duzfreunden wie dem Schriftsteller Amos Oz und dem Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel an. Gegenüber dem langjährigen „Peace now“-Mitglied Oz bestreitet sie dessen Behauptung, der tragische Kern des Nahostkonflikts bestehe darin, dass Israelis und Palästinenser gleiche Rechte „auf dasselbe kleine Stück Land“ hätten, wegen ihrer „tiefen historischen und emotionalen Wurzeln“. Edvardson argumentiert, dass die wahre Tragödie darauf beruhe, dass es nach dem Holocaust und der Flucht vieler Überlebender ins damalige Palästina zwar keine Alternative zum Staat Israel gebe; doch habe Oz selber beschrieben, dass für seine aus dem zaristischen Russland emigrierte Familie die wahren „Hausgötter Tolstoj, Dostojewski, Kafka, Shakespeare und, natürlich, Goethe“ hießen und sie „grenzenlos in Europa verliebt“ waren (Zitat Oz). Mit dem Land Palästina verband die Juden der Diaspora oft nur die abstrakte Erinnerung an ein vor zweitausend Jahren dort untergegangenes antikes Israel. Anders als die von ihrem Heimatboden vertriebenen Palästinenser.

Es geht Edvardson hier nicht um eine neue alte Zionismusdebatte. Sie plädiert nur dafür, die Vertreibung und Entrechtung der Palästinenser als ungleich konkretere, nähere Erfahrung und Kränkung anzuerkennen – eine Realität, die in Israels offiziellem Selbstverständnis als Urgrund des eigenen politischen und moralischen Dilemmas weiter verdrängt werde.

Ebenso rigoros wehrt sich Cordelia Edvardson in einem offenen Brief von 2005 an Elie Wiesel dagegen, dass dieser beim Abzug der Israelis aus Gaza von den Palästinensern ernstlich eine Geste der Dankbarkeit erwartet habe. Auch hier werde der Kern des Konflikts und der beteiligten Gefühle, die auf beiden Seiten Politik machen und Gewalt zu rechtfertigen suchen, verkannt. „Wenn keiner weiter weiß“: Cordelia Edvardson, die seit 2006 aus gesundheitlichen und familiären Gründen wieder in Stockholm lebt, weiß gleichfalls kein Allheilmittel. Doch ihre Textsammlung aus vier Jahrzehnten setzt vor die Therapie die ebenso schonungslose wie mitfühlende Diagnose.

„Die Welt zusammenfügen“ hieß vor 20 Jahren ihre letzte ins Deutsche übersetzte poetisch-politische Essaysammlung. Sie sollte endlich neu auflegt werden. Doch vorher lese man, gerade im Zwielicht des jüngsten Gaza-Dramas, Cordelia Edvardsons Reportagen. Sie fügen ein Stück geteilte Welt zumindest symbolisch zusammen, ohne die Brüche je zu leugnen. Die einzige Hoffnung gilt dabei zwei Staaten und einer friedlicheren Grenze, auch in Jerusalem.

– Cordelia Edvardson: Wenn keiner weiterweiß. Berichte von der Grenze. Übersetzt von Sigrid Engeler. dtv, München 2010. 235 Seiten, 9,90 Euro.

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