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Online-Comic: Die unendliche Leinwand

Der Künstler Daniel Lieske begeistert mit seiner Fantasy-Erzählung „Wormworld Saga“ eine rapide wachsende Zahl von Lesern im Internet. Und er stellt die Dogmen der Webcomic-Welt in Frage. Im Tagesspiegel-Interview spricht der Zeichner über sein ungewöhnliches Projekt.

Am 25. Dezember, quasi als Weihnachtsgeschenk, veröffentlichte der Gütersloher Computerspielekünstler und Maler Daniel Lieske ohne große Vorankündigung seinen neuen Webcomic www.wormworldsaga.com. Kurze Zeit später war Lieskes Comic im Web berühmt. Angefangen bei den Blogs bekannter Webcomiczeichner hin zu einer Erwähnung bei BoingBoing hat die Wormworld Saga in zwei Wochen mehr als 150000 Leser erreicht. Dabei hatte Lieske selbst mit Comics und auch Webcomics eher wenig am Hut. „Watchmen“ hat er nicht gelesen, und sein Bezugspunkt in Sachen Comics ist eher Asterix statt Art Spiegelman. Die Besonderheit an Lieskes Comic ist seine Form: das erste Kapitel der Wormworld Saga ist auf dem „Infinite Canvas“ veröffentlicht – nicht mit der bekannten Struktur des Webcomics, bei der ein Click zu einer neuen Seite führt, sondern ein nahtloses Scroll-Format ohne Unterbrechungen. Der Ansatz ist nicht neu, aber die Popularität der Wormworld Saga stellt Webcomic-Dogmen in Frage.

2001 sah Comiczeichner und Theoretiker Scott McCloud die Zukunft des Comics im Internet. In seinem Buch „Comics neu erfinden“ feierte er Konzepte wie Micro Payments – Kleinstbeträge als Spenden für Comiczeichner – oder eben das „Infinite Canvas“, ein der Schriftrolle und dem Browserfenster ähnliches Konzept eines Comics im Scroll- statt im Buch-Format. McClouds Vorschläge wurden interessiert aufgenommen, immerhin ist sein Buch „Comics richtig lesen“ ein Standardwerk für Comicliebhaber, letztendlich aber wurde „Comics neu erfinden“ von Akademikern und Webcomicmachern, die 2001 schon lange Comics im Netz gemacht haben, als realitätsfernes Werk kritisiert. Seitdem leidet das Konzept des „Infinite Canvas“ unter einem Stigma. Webcomics entwickelten sich in eine andere Richtung, als McCloud es erhofft hat, und endlos scrollende Comics wurden, bis auf wenige Ausnahmen, in dieselbe Ecke verbannt wie andere Überreste des 90er-Jahre-Vokabulars. Webcomics sind heute formal gesehen eher ein Revival des klassischen Comic-Strips und bieten Lesern meistens regelmäßig einen neuen witzigen Cartoon dar. Und auch wenn Webcomics mit längeren Geschichten immer raffinierter werden, so werden sie meist Schritt für Schritt, Seite für Seite online gestellt, um den Arbeitsaufwand für die oft unbezahlten Comiczeichner besser zu verteilen, sowie Klickzahlen und tägliche Besuche zu maximieren und somit besser Werbung schalten zu können.

Der Ansatz des „Infinite Canvas“ wird zu Unrecht gemieden, findet Daniel Lieske. Lieske erzählt mit Hilfe des „Infinite Canvas“ eine in Fantasy-Genre-Konventionen geerdete Geschichte über einen kleinen Jungen, der im Landhaus seiner Großmutter zusammen mit einer Katze durch ein Gemälde auf große Abenteuerreise geht. Lieskes Zeichenstil ist stark angelehnt an die Manga- und Anime-Ästhetik, ist in seiner Verträumtheit und Sanftheit aber auch gleichzeitig beeinflusst von seiner eigenen Malerei, sowie 80er-Jahre-Filmen wie den „Goonies“ und den narrativen und mechanischen Konventionen des Videospiels. Für den Tagesspiegel sprach Dennis Kogel mit Daniel Lieske über die Dogmen des Webcomics und die Perspektive von außen auf ein junges Feld, das in Gefahr läuft, Comics als endlose Google-Statistik zu betrachten.

Tagesspiegel: Warum hast du den „Infinite Canvas“ für die Wormworld Saga benutzt?

Daniel Lieske: Der Hauptgrund war, dass ich gar nicht mitgekriegt hatte, dass der für tot erklärt war in der Webcomic-Gemeinde. Ich bin schon lange vertraut mit den Büchern von Scott McCloud, aber ich habe gar nicht mitbekommen, dass in der Webcomic-Szene McClouds „Comics neu erfinden“ heiß diskutiert wurde und dass sich in der Zwischenzeit das Business-Modell von Webcomic-Autoren darauf eingeschossen hat, sich über Werbung zu finanzieren. Dadurch entstand natürlich das Bedürfnis nach einer Form, die möglichst täglich oder zumindest ein paar Mal in der Woche aktualisiert wird. Wenn man das jetzt noch kombiniert mit dem Wunsch, dass die Leute möglichst auf eine Seite kommen sollen, auf der sie nicht scrollen müssen, damit sie immer die gleiche Werbung im Auge behalten, dann spricht das gegen den „Infinite Canvas“. Aber als ich Mitte 2010 gemerkt habe, dass das etwas ist, womit ich mich aus dem Fenster lehne, habe ich begonnen die Chancen zu erkennen. Ich dachte mir, dass das eigentlich die ideale Art wäre, einen Comic zu präsentieren. Die Navigation fühlt sich einfach natürlich an. Man kommt auf eine Webseite und es ist völlig natürlich, runterzuscrollen. Du musst es niemandem erklären, es ist der natürlichste Reflex jedes Web-Users, der mehr sehen will.

Es ist auf jeden Fall, bequemer als das ständige klicken auf „Next“ um zur nächsten Comicseite zu kommen, und im Effekt vielleicht eher vergleichbar mit dem Lesen eines Buchs, statt einer Webseite.

Ich würde sogar einen Schritt weiter gehen und sagen, dass das seitenlose, umblätterlose Layout noch einen Schritt weitergeht als ein Buch, was das Erlebnis angeht. Das Umblättern kommt allen Leuten natürlich vor, und ich will auch nicht behaupteten, dass es wirklich den Lesegenuss unterbricht – nicht so stark wie das Klicken auf den „Next“-Button im Internet. Aber selbst beim Umblättern muss man sich bewusst machen, dass man es immer mit Doppelseiten zu tun hat. Eine Doppelseite bedeutet für mich als Gestalter, dass ich immer eine gesamte Doppelseite gestalte und eigentlich gar nicht anders kann, als zu jedem Ende der Doppelseite einen Cliffhanger zu produzieren, damit eine kleine Spannung vor dem Umblättern steht. Das ist auch das, was in den Lehrbüchern steht: doppelseitig denken. Das führt natürlich zu einem Rhythmus, der dem Werk aufgezwungen wird. Wenn man den Pageturn-Rhythmus drin hat, dann denkt und schreibt man immer im gleichen Rhythmus. Als wenn man als Musiker nur im Walzertakt schreiben könnte. Der großen Reiz, den für mich das vertikale Scroll-Layout ausmacht, ist, dass ich völlig frei bin im Pacing und im Rhythmus der Erzählung.

Bereitet diese Form des Schreibens nicht Schwierigkeiten bei einer Umsetzung in Print?

Ich wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass der „Infinite Canvas“-Ansatz schwierig ist für eine spätere Printversion. In jedem Comickünstler ist der Reflex, dass der Comic irgendwann im Print sein muss, dass es im Internet ist, damit man es an einen Verlag verkaufen kann. Tatsächlich habe ich zu keinem Zeitpunkt darüber nachgedacht, jemals eine Printversion von dieser Geschichte anfertigen zu lassen, weil ich da nur Hindernisse gesehen habe. Ich hatte früher immer den Gedanken, dass wenn du es schaffen willst, du unbedingt ein Buch auf den Markt bringen musst. Dass das Buch das Ziel wäre. Ich habe dann  durch ein bisschen Recherche herausgefunden, dass das durchschnittliche Comic-Album in Deutschland ungefähr 5000 mal gedruckt wird, und dass man wirklich Glück haben muss, wenn in einer zweiten Auflage nochmal 5000 gedruckt werden. Sollte das eintreten, kann man mit Einkünften von 10.000 bis 15.000 Euro rechnen. Das ist ungefähr Hartz-IV-Niveau. Das kann nicht der Weg sein. Das kann vor allen Dingen nicht der Punkt sein, an dem man es „geschafft“ hat. Anhand der Mails, die heute über mich hereinbrechen, denke ich, dass innerhalb von ein paar Tagen die 100.000-Hits-Grenze überschritten sein wird. Und das soll man mit einem Druckerzeugnis erst mal schaffen.

Was stört dich an aktuellen Webcomics?

Ich habe ein bisschen gesucht, nach einem Webcomic, bei dem ich uneingeschränkt sagen könnte: „So stelle ich mir das vor.“  Das war dann für mich auch eine Motivation, mit der Wormworld Saga einen Webcomic zu machen, wie ich ihn gerne lesen würde. Was mich eigentlich am meisten genervt hat, wenn mir neue Webcomics über den Weg gelaufen sind, ist, dass es immer nach dem gleichen Muster abgelaufen ist. Ich bin auf die Seite gekommen und ich habe das aktuelle Panel oder die aktuelle Seite gelesen. Und dann gab es zwei Zustände: Entweder es hat mich überhaupt nicht angesprochen, oder es hat mich angesprochen. Wenn es mich angesprochen hat war das erste, was ich gemacht habe auf „Back“ zu gehen, um die Seite davor zu sehen und dann nochmal um die Seite davor zu sehen. Auch die Server der meisten Webcomics „leiden“ darunter, dass sie ihre Tageskundschaft haben. Ein erfolgreicher Webcomic ist in der glücklichen Lage, Hunderttausende Besucher am Tag zu haben. Man kann sich gar nicht mal schnell durch die Seiten schalten, weil es ewig dauert bis die Seiten laden. Ich habe noch keinen Webcomic erlebt, bei dem das wirklich schnell läuft. Das bedeutet, dass ich in jede Geschichte am aktuellen Punkt eingestiegen bin und sie dann rückwärts gelesen habe. Dabei ist für mich kein Story-Erlebnis zustande gekommen – es war eher nüchterne Bestandsaufnahme. Selbst Comics, die eine tolle visuelle Gestaltung haben und bei denen offensichtlich gutes Storytelling an den Tag gelegt wurde, habe ich immer auf diese Weise wahrgenommen. Das war immer irgendwie enttäuschend, weil ich mir vorgestellt habe, wie man auf der ersten Seite landen würden und sich einfach mitreißen lassen würde von dem Rhythmus, den sich der Autor vorgestellt hat.

Wie war die Reaktion von erfahrenen Webcomicmachern?

Ich habe eine E-Mail bekommen von einer Assistentin von Scott Kurtz (PvP Online) und Kris Straub (chainsawsuit). Sie war sehr angetan von der Wormworld Saga und hat mir spontan angeboten, dass, sollte ich Fragen haben, sie sich in der Branche auskennen würde und sie mir helfen könnte. Sehr nett! Sie hat meinen Comic auch Scott Kurtz und Kris Straub gezeigt und sie darauf hingewiesen. Die haben natürlich reflexartig gesagt, dass wenn da nicht in regelmäßigen Abständen Updates kommen, mein Comic nicht erfolgreich wird. Ich habe ihnen dann zurückgeschrieben, dass man sich an der Stelle fragen muss, was die eigene Perspektive ist. Der Punkt ist: wenn PvP Online nach einem Jahr Bilanz zieht und sagt: „Wir haben eine Million Leser gehabt übers Jahr“, und ich ziehe am Ende des Jahres Bilanz und sage: „Ja, über das gesamte Jahr verteilt, haben tatsächlich eine Million Leute die Wormworld Saga gefunden", dann haben wir in diesem Fall die gleiche Anzahl an Lesern.  Wenn es nämlich am Ende darum geht, Bücher oder Drucke oder Apps an die Leser zu verkaufen, dann ist es im Grunde egal, ob es eine Million Leser sind, die jeden Tag kommen, oder eine Million Leser, die übers Jahr hinweg kommen. Entscheidend ist doch nur, welcher Prozentsatz davon sich dazu entscheidet, Geld in den Comic zu investieren. Wenn man Werbung völlig aus seinem Business-Model raus streicht, dann muss man es gar nicht auf einen riesigen Wert von täglichen Hits anlegen. Das schadet ja nur, weil dadurch die Webseite langsamer wird. Und natürlich würde man, wenn man da jetzt wirklich detailliert diskutiert, sagen, dass wenn Leute täglich auf eine Webseite kommen, auch die Chance steigt, dass sie sich an jedem Tag überlegen, nicht vielleicht doch etwas zu kaufen. Das würde ich auch gar nicht wegargumentieren wollen. Wenn Leute wirklich täglich wiederkehren, dann hat es sicherlich einen positiven Effekt. Aber was ich sehe ist, dass wenn man jeden Tag Hunderttausende Leute auf seiner Webseite haben will, man seinen Content gnadenlos zerstückeln muss.

Was ist dein Plan für die weitere Entwicklung der Wormworld Saga?

Ich muss ganz klar sagen: Mein Ziel ist es, mit der Wormworld Saga Geld zu verdienen, weil es der einzige Weg für mich sein wird, neue Kapitel in einem akzeptablen Rhythmus zu präsentieren. Ein Kapitel pro Jahr ist der Rhythmus, den ich neben meinem Vollzeitjob leisten kann. Mein Ziel ist es jedoch, vier Kapitel im Jahr zu produzieren, was rein von der Arbeitszeit her ginge. Das wäre natürlich nur möglich, wenn ich so viele Einnahmen erzielen könnte, um meinen Job zu ersetzen. Und da wird die Frage extrem interessant, wie das mit der Finanzierung geht. Meine Pläne gehen im Moment in die Richtung, mit der Wormworld Saga auf Geräte wie das iPad zu gehen und da eine um einige Features erweiterte Version anzubieten zu einem wirklich fairen Preis. Der Verkauf von weit unter 10.000 Einheiten pro Kapitel könnte dafür sorgen, dass sich das Ganze finanziell trägt.

Motiviert das auch die Wahl, den Comic auf Englisch zu schreiben?

Ganz genau. Mir ist von Anfang an klar gewesen, dass das potentiell erreichbare Publikum im deutschsprachigen Raum einfach zu klein wäre. Ich bin einfach zu dem Schluss gekommen, dass wenn man etwas machen will, das ein gewisses Potential hat, dass es von vielen Leuten gut gefunden wird, dann muss es in einem englischsprachigen Raum sein. Mittlerweile kriege ich aber auch Anfragen von Leuten, die das erste Kapitel in ihre Muttersprache übersetzen wollen.

Große Abenteuerreise: Das Covermotiv der Reihe.
Große Abenteuerreise: Das Covermotiv der Reihe.

© Illustrationen: Lieske

Verfolgst du deutsche Webcomics?

Nicht viel, aber ein Comic, das ich regelmäßig besuche ist das von Flix: Heldentage. Da habe ich großen Spaß dran, aber das ist auch fast schon das Einzige. Ich bin ein paar anderen über den Weg gelaufen, aber die haben mich nicht so gepackt. Aber Flix' Heldentage ist definitiv eine Form, die ich sehr genieße, obwohl ich auch einfach sagen muss: Bei Cartoons funktioniert das System mit dem neuen Cartoon alle zwei Tage eigentlich ganz hervorragend. Der Cartoon ist für mich eigentlich die Form, die am wenigsten darunter leidet, wenn sie als Webcomic umgesetzt wird.

Was hast du aus dem Start deines Comics für dich mitgenommen?

Ich habe in den letzten paar Tagen einfach einige verrückte Sachen gesehen, die das Internet so hervorbringt. Das allein ist schon sehr spannend. Aber an dieser Stelle muss man sich einfach davor hüten, irgendwelche Sachen als Dogmen zu vertreten. Diese Sache, wo man auf ein Projekt schaut und sagt: „Ach, aber wenn es nicht regelmäßig updatet, dann wird daraus nix werden", da muss man dann schauen, ob nicht vielleicht genau ein solcher Ansatz mit wenigen, dafür längeren Updates dem Projekt nicht gut tut. Im Gegensatz dazu und genau andersherum würde ich sagen, dass viele Formate gerade deshalb funktionieren, weil sie häufig geupdatet werden. Ich glaube, das ist andersrum auch der Fall. Es gibt natürlich auch Formen, die die Probleme auf elegante Art und Weise umschiffen. Deshalb ist es auch enorm schwierig, eine Diskussion zu dem Thema absolut zu betreiben. Ich wäre sehr froh, wenn ich Ende des Jahres auf das Projekt zurückblicken und dann behaupten könnte, dass ich ein bisschen was dafür getan habe, dass der „Infinite Canvas“ nicht mehr ganz so mit spitzen Fingern angefasst wird. Das würde mich sehr freuen, wenn wir da noch mehr Experimente sehen.

Daniel Lieske veröffentlicht die Wormworld Saga online. Vor kurzem hat Lieske auch einen Webshop für individualisierte Comic-Prints aufgemacht.

Dennis Kogel

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