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Leben und Tod: Ein ganzseitiges Panel aus dem Abschlussband von "Klezmer" (für Komplettansicht auf das "Plus" klicken).

© Avant

„Klezmer“ von Joann Sfar: Fulminantes Finale

Hommage an die Musik und die Liebe, persönliche Spurensuche, Nachdenken über Doktrinen und Indoktrination: Joann Sfar beendet sein Comic-Epos „Klezmer“.

Es ist mitten in der Nacht im Wald, irgendwo zwischen Odessa und Kischinew - und mittendrin im letzten Band der fünfteiligen Comic-Erzählung „Klezmer“ von Joann Sfar: Ein Roma mit dem klingenden Namen Tchokola und ein orthodoxer Jude mit dem unorthodoxen Namen Vincenzo haben versehentlich ein Messer in die Schulter einer jungen Journalistin gejagt. Tchokola verarztet sie mit einem Gemisch aus Spucke und rohem Ei. Vincenzo versucht die verschreckte Dame ob der unkonventionellen Behandlung zu beruhigen: „Haben Sie keine Angst, das muss eine altüberlieferte Methode sein bei den Fahrenden.“ Doch Tchokola weiß die sanften Worte seines Kompagnons im Nu zu entkräften: „Nein, das habe ich erfunden.“

Welches ist die Rolle des Künstlers?

Von der komischen Wirkung seiner lakonischen Antworten profitiert jedenfalls der Betrachter des ganzseitigen, zu Beginn dieses Textes abgebildeten Folge-Panels: Wenn das persönliche Patentrezept nicht auf Anhieb funktioniert, dann eben später - so demonstriert die Reaktion die Quintessenz der Tchokolaschen Philosophie.

Den schlichten Dialog dekoriert eine experimentell-opulente Seitengestaltung. Das Auge der Vorsehung, surreal eingefasst in Frauenlippen à la Warhol, erleuchtet die groteske Szenerie. Das Herzbluten Europas gibt eine zusätzliche Überschrift. Zwei Skelette mit glutblauen Augen, Säbel und Schusswaffe umrahmen die Figuren im türkisen Wald. Klassische Todessymbolik, bekannt aus Holbeins Holzschnitten oder mexikanischen Gemälden.

Finale: Das Cover des fünften und letzten Bandes der Reihe.
Finale: Das Cover des fünften und letzten Bandes der Reihe.

© Avant

Vor diesem Hintergrund wabern wacklige Panels im Panel, die die Handlung vorantreiben. Tchokola und Vincenzo gehören zur titelgebenden Klezmer-Crew, die in dieser letzten Episode per Zug nach Kischinew aufbricht. Der Erste ist nicht bloß Meister des Messerwurfs, sondern auch der Gitarre; der Zweite ein virtuoser Violinist. Mit von der Partie (und permanenten Party der Lebenslust mit dem Motto „Allem Unglück zum Trotz!“) sind zudem: Der kindliche Schelm Jacoov am Banjo, die verführerische Sängerin Chava und der mysteriöse Baron am Piano. Im Russland der Jahrhundertwende halten sie sich mit Musik und Gaunereien über Wasser.

Ein bisschen Chagall, ein bisschen Franz Marc, ein bisschen Sempé

Der Comic ist nicht nur farbenprächtig, sondern wartet auch mit einer breiten thematischen Palette auf. Zum einen ist er eine Hommage an die Musik. Zum anderen eine Spurensuche des Autors, der der Erkundung seiner jüdischen Identität bereits in „Die Katze des Rabbiners“ erfolgreich ein grafisches Denkmal setzte. Er ist gleichsam die Geschichte von Freundschaften, erfüllter und unerfüllter Liebe. Nicht zuletzt ist er ein Nachdenken über die Bedingungen von religiösen Doktrinen und propagandistischer Indoktrination.

Der Grund der Reise, der Schrecken des Pogroms von Kischinew dient als Anlass, zum Abschluss noch mal dezidiert politisch zu werden. Immer wieder stellt der Comic die entscheidende Frage, die auch Sartre beschäftigte und aktueller denn je ist: Welches ist die Rolle des Künstlers angesichts einer bedrohlichen gesellschaftlichen Gemengelage?

Die Rotzigkeit der schnellen Zeichnung korreliert hier nicht mit Gedankenlosigkeit. Die Bilder offenbaren bewusst ihre Gemachtheit und vermitteln durch diese Unmittelbarkeit den sprühenden Charakter des Ideenreigens. Ein bisschen Chagall, ein bisschen Franz Marc, ein bisschen Sempé. Mehr ist hier eindeutig mehr. Es gibt zu viel, über das dringend nachgedacht werden muss.

Joan Sfar: Klezmer, Avant-Verlag, 5 Bände à 120/148 Seiten, je 17,95/ 19,95 Euro.

Marie Schröer

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