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Ein Flüchtlingsboot vor der libyschen Küste im Augenblick des Kenterns, aufgenommen am 25. Mai 2016.

© dpa

Das Mittelmeer und die Flüchtlingskrise: „Das ist die Schande Europas“

Mare Nostrum, Mare Monstrum: Warum sich kaum noch jemand für ertrunkene Bootsflüchtlinge interessiert – und welche Hoffnungen es für die Kulturregion Mittelmeer gibt. Ein Gespräch mit der Migrationsexpertin Heidrun Friese.

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Frau Friese, 2013 gab es einen Aufschrei, als über 400 Flüchtlinge vor Lampedusa ertranken. Italien organisierte daraufhin die Rettungsaktion „Mare Nostrum“. Letzte Woche ertranken etwa tausend Bootsflüchtlinge, die Meldungen rangieren aber nur am Rand – etwa neben den Überschwemmungen in Bayern. Hat das mit dem „Flüchtlingsjahr“ 2015 zu tun?

Ja. Diese Katastrophen sind immer auch Teil eines aktuellen Medienspektakels. Vom sicheren Ufer aus werden Zuschauer mit spektakulären Bildern vom Untergang anderer gefüttert. Im September 2015 überstürzten sich die Kommentare zu Alan al Kurdy, dem kleinen ertrunkenen syrischen Jungen, der an einem türkischen Strand lag. Vor wenigen Tagen wurden vor der Westküste Libyens mehr als hundert ertrunkene Bootsflüchtlinge angespült, einige davon waren Kinder. Die Nachricht löste keine besondere Reaktion aus. Wir gewöhnen uns als Publikum an solche Bilder. Fast scheint es, als ob nur noch der Papst an Europas christliches Erbe erinnert, das Christen auffordert, nicht tatenlos zuzusehen. Gerade diejenigen, die so gerne an das Erbe des Abendlandes appellieren, scheinen diese Appelle zu ignorieren.

Die Menschen setzen sich wieder den Gefahren einer Bootsfahrt aus, da die Balkanroute über die Türkei und Griechenland von den Europäern geschlossen wurde.

Ist es nicht unheimlich, wenn wir von „geschlossenen Routen“ sprechen? Was bedeutet das? Menschen sehen sich eingeschlossen und werden ihrem Schicksal in Ländern überlassen, die kaum für gute Menschenrechtsstandards bekannt sind. Hauptsache, niemand klopft mehr an unsere Tür. Dazu gehört die Annahme, man könne die globale Mobilität von Menschen regeln wie den Straßenverkehr oder industrielle Produktionsstraßen. Das sind Illusionen.

Sie sehen die Navigationsdaten von Schiffen auf dem Mittelmeer ein. Was beobachten Sie im Vergleich zum Vorjahr?

Die zentrale Mittelmeerroute und die ägyptische Route wird wieder mehr genutzt, von syrischen Flüchtlingen und Menschen aus den Ländern der Subsahara, aus Eritrea und Somalia. Tatsächlich verfolge ich täglich die Rettungsaktionen und den Kurs der Schiffe der italienischen Küstenwache, also die vom Koordinationszentrum in Rom gesteuerten „Search and Rescue“-Einsätze. Die Zahl dieser Einsätze steigt. Wir hören ja vor allem von Todesfällen, kaum vom Alltag der Einsätze. Folgen wir den Statistiken der International Organisation for Migration und des Missing Migrants Projects, sind dieses Jahr auf der zentralen Mittelmeerroute – also der von Nordafrika nach Lampedusa, Malta oder Sizilien – bis Mai mindestens 2449 Menschen umgekommen. 2015 waren es bis Mitte April 866. Es sterben immer mehr.

Und wo bleiben die Überlebenden, die ja kaum noch bis in die nördlichen Länder Europas gelangen?

In Lagern, etwa in Sizilien und Griechenland. Inzwischen gibt es ja absurde Vorschläge, etwa von Österreichs Außenminister Sebastian Kurz, der geflüchtete Menschen auf einer Mittelmeerinsel internieren will. Leider teilt uns der Minister nicht mit, welche Insel er dafür vorgesehen hat. Die Lampedusani werden dankend ablehnen, sie haben bereits vor Jahren gemeinsam mit Flüchtlingen gegen ein Abschiebelager protestiert. Die Italiener werden sich hüten, ebenso die Franzosen, Malteser, Griechen. Es erinnert ein wenig an den „Madagaskarplan“ des NSRegimes zur Zwangsumsiedlung aller europäischen Juden auf die Insel Madagaskar zur „territorialen Endlösung“.

Dass es wieder mehr Bootsflüchtlinge geben würde, war also absehbar?

Es war abzusehen, dass sich die Routen wieder verschieben würden. Das war schon in der Vergangenheit so – was den Verantwortlichen der EU und der Europäischen Grenzbehörde Frontex natürlich bekannt ist. Die EU-Mission Eunavfor Med mit ihren Operationen Sophia I und II – an denen sich seit Juni 2015 die Bundeswehr mit Marineeinheiten beteiligt – hat daran nichts geändert. Diese Operationen sollen der Aufklärung von Schleusernetzwerken dienen, so ihr Auftrag. Man schiebt jetzt, was widersinnig ist, die Schuld an der fortgesetzten Migration den „kriminellen Schleusern“ zu.

Deren Handwerk ist nicht kriminell? Sind es nicht unverantwortliche Akteure?

An wen sollen sich Menschen denn wenden, die nicht legal einreisen und nicht Asyl beantragen können, weil sich die Staaten Europas durch die Dublin-Verordnung und über vermeintlich sichere Drittstaaten abschotten? Die Staaten vereinbaren mit Mittelmeeranrainern wie Marokko, Algerien und Tunesien Deals, etwa mit der Türkei. EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos kündigte nun gegenüber den „Drittstaaten“ an: Wer bei den Deals mitmacht, bekommt Geld, wer nicht, muss mit Nachteilen rechnen. Bis 2020 sollen acht Milliarden Euro für diese „Migrationspartnerschaften“ fließen. Das ist die Schande Europas – eine moderne Form von Menschenhandel. Und die einstigen Kolonien erhöhen die Preise. Da reicht es nicht mehr, eine Autobahn in Libyen als Reparation zu bauen; Ägyptens Potentat al Sisi verhandelt gerade mit Italien um Bohrrechte vor der Küste.

Welche Fehler in der Migrations- und Flüchtlingspolitik begehen die EU-Anrainerstaaten am Mittelmeer, welche die EU in Brüssel? Was müsste geschehen?

Menschen müssen das Recht auf Mobilität und Freizügigkeit haben. Europäern wird es ja weitgehend zugestanden. Vergessen wir nicht: Fast vier Millionen deutsche Wirtschaftsmigranten leben mittlerweile außerhalb der Bundesrepublik, wie der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration ermittelte. Jedes Jahr verlassen rund 25 000 Deutsche ihr Land. Alles ist konstruktiv, was legale Mobilität klar regelt und ermöglicht. Zugleich ist es sinnvoll, Demokratisierung und Zivilgesellschaften in den politisch erschütterten Staaten zu fördern und nicht die korrupten Eliten notorischer Kleptokraten. Menschen fliehen bekanntlich nicht nur vor Bomben und Hunger, sondern auch, weil sie Perspektiven suchen, und Freiheit.

Lampedusa zeigt, wie eng Europa und Nordafrika verbunden sind

Ein Flüchtlingsboot vor der libyschen Küste im Augenblick des Kenterns, aufgenommen am 25. Mai 2016.
Ein Flüchtlingsboot vor der libyschen Küste im Augenblick des Kenterns, aufgenommen am 25. Mai 2016.

© dpa

Wird das Mare Nostrum zu einem Mare Monstrum? Es scheint eine Art sozialer Seeschlacht auf dem Mittelmeer zu toben. Wird hier seit jeher die Macht in Europa ausgekämpft?

Schon die römische Bezeichnung Mare Nostrum verweist auf einen Herrschaftsanspruch in der Antike. Es ging immer um Macht, um das Sichern von Handelsrouten und Stützpunkten, um Einfluss auf lokale Konflikte. Die Küsten des Mittelmeers sind gespickt mit militärischen Anlagen. Auch war das Mittelmeer – neben dem Atlantik – Schauplatz des Sklavenhandels. Es verband die Sahara mit Europa, Erinnerungen an Piraterie sind bis heute in Italien wach. Im Zentrum von Livorno erinnert daran das „Monument der vier Mohren“ von 1617, es stammt aus der Epoche des Medici-Fürsten Cosimo II. Und bis heute entsprechen die Flüchtlingsrouten auf hoher See erstaunlich oft denen der Piraten und Sklavenschiffe.

Findet heute im Mittelmeer eine Art stille Seeschlacht statt, Teil eines Kalten Krieges von Europas Norden gegen den Süden?

Durchaus. Diskussionen um Kanonenbootpolitik – etwa um das Eindringen in nationale Gewässer – machen das deutlich. In Italien wurde ernsthaft diskutiert, ob Taucher der Marine die Boote in den libyschen Häfen versenken sollten.

Mare Nostrum, unser Meer: War es nicht lange ein Kultur- und Handelsraum, der Europa mit Nordafrika verband?

Ja, sogar am Beispiel einer winzigen Insel wie Lampedusa lässt sich das illustrieren. Auf diesem winzigen Fels im Meer, jetzt der Zugang zur Europäischen Union, spiegeln sich die bewegten und verflochtenen Geschichten des gesamten Mittelmeerraums. Auf dem Eiland sind sich auf diese Weise Spanien, Neapel, Venedig und die Adriaküste begegnet, Konstantinopel, die griechischen Inselwelt, Malta, Nordafrika. Auf Lampedusa gibt es Zeugnisse alter Handelswege und historischer Vernetzungen von Städten. Fischer, Bootsbauer, Händler aus Nordafrika, der Ägäis, der Adria trafen sich hier. Lampedusani wanderten nach Libyen, Tunesien oder Algerien aus; im Schutz der Kolonialmächte zog es Europäer dann in den Süden.

Ist die Vorstellung eines solidarischen Kulturraums Mittelmeer utopisch, wie sie im Arabischen Frühling als Hoffnungsstreif erschienen war?

Das Mittelmeer ist, wie Europa auch, kein einheitlicher Kulturraum. Doch die Zivilgesellschaft dieser Länder ist europäisch und globalisiert, gerade die Jugend. Nehmen wir Rai und Rap. Eine nordafrikanische Musikform mit afrikanischen, andalusischen Einflüssen und europäischen Instrumenten: Rai-Rap. In einem Wort finden wir Französisch, Amerikanisch, arabischen Dialekt. Der Rap kommt von der Ostküste der USA nach Großbritannien, Frankreich, Deutschland, wandert, verändert sich, wird heimisch, wandert weiter. Das ist das Mittelmeer.

Ein hybrider, polyphoner Raum?

Der Tunesier Hatem Bourial schrieb die großartigen Sätze: „Ich bin Jude, Christ und Moslem. Malteser bin ich, Italiener und Franzose. Ich bin der Bastard eines Soldaten der türkischen Infanterie und einer Schönen aus Genua. Ich bin die Frucht der antiken Liebe eines römischen Legionärs und einer Berberin, einer Maurin, einer Beduinin aus dem Jebel und einer sizilianischen Mama.“ Algerische Schriftsteller wie Kamel Daoud, Boualem Sansal, sind das keine Europäer? Oder Philosophen wie Albert Camus und Jacques Derrida, beide geboren im kolonialen Algerien.

Auch Europas Ökonomie ist stark mit dem Maghreb verflochten.

Sicher! Tunesier arbeiten im Call-Center für die Handy-Firmen Europas, kaufen europäische Waren, sehen europäisches Fernsehen. Es gibt Fernsehsender in Tunesien, die Silvio Berlusconi gehören oder die amerikanischen Formate bedienen wie Al Dschasira. Längst ist eine neue Globalisierung am Mittelmeer angekommen.

Gibt es auch so etwas wie eine Mittelmeerunion von unten?

Jahrhunderte, bevor 2008 die Mittelmeerunion gegründet wurde, gab es sie schon. Der Souk El Grana in Tunis wurde im 17. Jahrhundert von Juden aus Livorno gegründet, die einst aus Spanien vertrieben worden waren. Fischer, Handwerker, Händler und Migranten haben den Mittelmeer-Kulturraum geschaffen – und damit Europa. Das berühmte „Schokoladenmädchen“, auf das die Dresdner so stolz sind, stammt von dem Schweizer Künstler JeanÉtienne Liotard, der in Konstantinopel lebte, mit seinem Turban die Wiener Gesellschaft entzückte – und Österreichs Kaiserin im Kostüm einer Türkin malte.

Europa ist gar nicht so europäisch, wie allgemein angenommen wird?

Europa ist immer auch das Werk der anderen. Von Menschen, die als Kinder von Griechen in Alexandria geboren wurden, die als Italiener, Franzosen ausgewandert sind. Die heute im Jugendzentrum des tunisischen Städtchens Sousse virtuos auf der Geige Mozart spielen und mit Freunden Rap hören: Das ist Europa, und Europa ist das Mittelmeer.

Heidrun Friese lehrt Interkulturelle Kommunikation an der TU Chemnitz, arbeitet am Zentrum für Mittelmeerstudien der Ruhr-Universität Bochum und hat zahlreiche Publikationen zum Mittelmeer und zur Migration verfasst.Die Fragen stellten Caroline Fetscher und Christiane Peitz.

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