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Etgar Keret

© Philipp Lichterbeck

Der Gaza-Konflikt und Israel: „Die Rechte schreit alles nieder“

Die jüdische Kultur ist eigentlich eine des Mitgefühls und der Skepsis. Doch: "Wir haben aufgehört zu weinen", sagt der israelische Autor Etgar Keret. Ein Gespräch über Gaza und eine verloren gegangene Kunst des Debattierens.

Etgar Keret, 47, ist einer der bekanntesten israelischen Autoren und Filmemacher. Zuletzt erschien seine Geschichtensammlung „Plötzlich klopft es an der Tür“ (S. Fischer). „Jellyfish“, bei dem er mit seiner Frau Shira Geffen Regie führte, erhielt bei den Filmfestspielen von Cannes 2007 die Goldene Kamera für das beste Debüt.

Herr Keret, Sie sprechen von zwei Kriegen, die stattfinden. Welches ist der erste?
Wenn die Sirenen heulen und eine Hamas-Rakete über mir und meinem Sohn in Tel Aviv abgeschossen wird und die Metallteile wenige Meter neben uns auf die Straße stürzen. Oder wenn wir im Bunker sitzen. Aber auch wenn wir sehen, wie in Gaza Menschen sterben. Kinder, die keine Schutzschirme, ja nicht mal einen Schutzraum haben. Da kann ich nicht stillhalten. Es ist menschlich, wenn man das beenden möchte. Wenn ich mich nicht dagegen ausspräche, könnte ich meinem Sohn nicht mehr in die Augen schauen.

Und der zweite Krieg?
Ist derjenige, den Israels Rechte gegen Leute wie mich führt. Der Begriff „Linker“ ist zum Schimpfwort geworden. Er ist gleichbedeutend mit: Du bist kein Israeli, du bist ein Verräter und solltest nach Gaza ziehen. Die sozialen Netzwerke werden benutzt, um Gift und Galle zu verbreiten. Meine Frau Shira ist Schauspielerin und Autorin. Sie hatte an dem Tag, als die vier palästinensischen Jungs am Strand von Gaza von israelischen Soldaten getötet wurden, eine Filmvorführung. Sie bat im Kino um eine Schweigeminute. Schon am selben Abend existierten ein Dutzend Facebook-Seiten. Eine hieß: „Ich hasse Shira Geffen“. Dort machten sich Leute Gedanken darüber, wie sie meiner Frau schaden könnten. Die Rechte missbraucht ihre Meinungsfreiheit, um diejenige anderer einzuschränken. Aber Intoleranz ist immer ein Zeichen für Schwäche.

Wie ist die Stimmung unter Israels Künstlern und Intellektuellen? Fühlen sie sich eingeschüchtert?
Privat höre ich: Du hast recht mit deiner Kritik, dieser Krieg ist schlimm und nützt nicht. Aber um das öffentlich zu sagen, braucht man Mut und eine gesicherte Stellung. Viele fürchten um ihre Jobs. Es ist wie in der McCarthy-Ära in den USA. Die Rechte macht vor niemandem halt. Die Stand-Up Komödiantin Orna Banai wurde gezwungen, sich für den Satz zu entschuldigen, dass es keinen gerechten Krieg gebe. Die große alte Schauspielerin Gila Almagor, sie ist 85 Jahre alt, wurde übel und hasserfüllt beschimpft. Ebenso die Sängerin Achinoam Nini. Selbst Amnon Abramovich traf es. Er ist ein Mainstream-Fernsehmoderator und Kriegsheld, Teile seines Körpers verbrannten während des Jom Kippur Kriegs 1973, als er in einem Panzer saß. Er hat die Verschärfung des Kriegs durch unsere Regierung in Frage gestellt. Als er vor einigen Tagen live von der Straße berichtete, kamen einige hundert Radikale und riefen, er hätte in dem Panzer krepieren sollen.

Was ist in Israels Gesellschaft geschehen?
Dazu muss ich ein wenig ausholen. Ich wurde während des Sechstagekriegs geboren. Ich war während des Jom Kippur Kriegs ein Kind und bei der Libanon-Invasion ein Teenager. Ich habe zwei Intifadas und mehrere Invasionen in Gaza miterlebt. Ich war Soldat, bei einer Informatik-Einheit. Ich habe Israel in unterschiedlichsten Situationen erlebt. Aber immer konnte man unsere Regierung kritisieren. Selbst, wenn Raketen auf uns fielen, war es möglich zu sagen, das ist unsere eigene Schuld. Aber nun schreit die Rechte alle nieder. Sie repräsentiert nicht die Mehrheit, aber sie ist laut. Das hat die Stimmung im Land verändert. Früher sagten wir über unsere Soldaten: Sie schießen und sie weinen. Es bedeutete, dass sie Israel verteidigen müssen und dennoch zu Empathie fähig sind. Wir haben aufgehört, zu weinen. Wir schießen nur noch.

Was genau wirft man Ihnen vor? Sie sagen im Grunde nur, dass der Krieg keine Lösung sei.
Angeblich darf man zu Kriegszeiten solche Debatten nicht anzetteln, weil sie dem Feind nützten. Aber das gilt anscheinend nur für mich. Außenminister Avigdor Liebermann ruft zum Boykott arabisch-israelischer Geschäfte auf und meint im Widerspruch zum Premierminister: Wir müssen Gaza ausradieren. Das ist eine weitverbreitete Haltung. Man will das Problem ein für alle Mal lösen. Leute wie ich, die auch das Leben unserer Soldaten schützen wollen, gelten als unpatriotisch. Die Fähigkeit der israelischen Gesellschaft zum Dialog war einst ihre Stärke. Sie ist uns abhanden gekommen. Es gibt Israelis, die auf der Straße singen: Morgen fällt in Gaza die Schule aus, weil es in Gaza keine Kinder mehr gibt. Dieser Krieg schwächt auch Israel.

Wie sehen Sie die Gegenseite, die Hamas?
Wie jede religiös fundamentalistische Gruppe, agiert sie irrational und menschenfeindlich. Sie ist ein unangenehmer Feind und provoziert, wo sie kann. Aber sie ist nicht Palästina. Es gibt dort gemäßigte Kräfte, mit denen man verhandeln könnte. Nur: Die israelische Regierung wollte das um jeden Preis vermeiden. So hat sie die Hamas gestärkt. Beide brauchen sich gegenseitig. Die Hamas und Israels Rechte liefern sich die Argumente, sie befruchten sich. Jede Bombe, die auf Gaza fällt und Unschuldige tötet, macht die Hamas stärker. Wenn es so weitergeht, kann ich davon ausgehen, dass mein Sohn, der jetzt acht Jahre alt ist, irgendwann als Soldat nach Gaza geschickt wird. Der Militärdienst dauert drei Jahre. Das ist heute der Rhythmus der Kriege. Niemand glaubt ernsthaft, dass dies der letzte Gaza-Konflikt ist.

Wer sind die neuen Rechten in Israel?
In der Regierung sind es Typen wie Naftali Bennet, der rechtsextreme israelische Wirtschaftsminister. In der Gesellschaft sind es Leute aus der Mittelschicht mit eher orientalischem als europäischem Hintergrund. Sie sind halb-orthodox, essen koscher, aber steigen am Schabbat ins Auto. Es sind Siedler oder Unterstützer der Siedler. Sie sind Rassisten und meinen, sie seien mehr wert als Palästinenser und Araber. Sie sind Denunzianten und rufen bei Facebook dazu auf, unbequeme Personen auszuspionieren. Die Nachbarn sollen alles melden.

Die jüdische Kultur galt einst als tolerant und diskussionsfreudig...
...sie ist eine Kultur des Mitgefühls und der Skepsis. Die jüdischen Propheten waren große Zweifler, diskutierten sogar mit Gott. Die Kunst des Debattierens, die Polemik gehören zu unserer Bildung. Für die Rechte ist die jüdische Identität eine andere: Wir sind stark und schlagen die anderen in Stücke. Sie meinen, die ganze Welt sei gegen Israel und es gebe nur eine Reaktion darauf: Verhärtung.

In Deutschland wird Kritik an Israels Regierung schnell als antisemitisch bezeichnet.
Meine Eltern sind Holocaust-Überlebende. Meine Mutter hat als einzige ihrer Familie das Warschauer Ghetto überstanden. Es ist ein Missbrauch ihrer Geschichte, wenn man sie nutzt, um Kritik an einem schrecklichen Krieg zu verbieten. Wer für diesen Krieg ist und die israelische Regierung unterstützt, soll sich rechtfertigen, ohne den Holocaust im Munde zu führen. Das ist kein Argument. Ich glaube, jeder Freund Israels muss die Sinnhaftigkeit dieses Konflikts anzweifeln. Er schadet uns. Einem drogenabhängigen Freund rät man ja auch nicht zu noch mehr Drogen.

Was schlagen Sie vor?
Wir brauchen keine Zwei-Staatenlösung. Wir brauchen die Vier-Staatenlösung. Ein Hamas-Land für die extremistischen Palästinenser und ein Fatah-Land für die gemäßigten. Ebenso ein Israel für die Radikalen und eins für die Vernünftigen. Die Extremisten können sich dann die Köpfe einschlagen. Und die Israelis und Palästinenser, die in Frieden miteinander leben wollen, können das auch tun. Man muss die Region vor den verrückten Fundamentalisten retten, die sie gekidnappt haben.

Das Gespräch führte Philipp Lichterbeck.

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